© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 – 114/16 Einzelfragen zum Bundesteilhabegesetz mit verfassungsrechtlichen Bezügen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 2 Einzelfragen zum Bundesteilhabegesetz mit verfassungsrechtlichen Bezügen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 – 114/16 Abschluss der Arbeit: 16. September 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einkommens- und Vermögensheranziehung bei Gewährung von Eingliederungshilfe bzw. Hilfe zur Pflege 4 1.1. Heutige Rechtslage 4 1.2. Künftige Rechtslage 4 2. § 103 Abs. 2 SGB IX-neu aus verfassungsrechtlicher Sicht 5 2.1. Allgemeiner Gleichheitssatz 5 2.1.1. Grundsatz 5 2.1.2. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem 6 2.1.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 6 2.1.3.1. Legitimer Zweck 6 2.1.3.2. Geeignetheit 6 2.1.3.3. Erforderlichkeit 6 2.1.3.4. Angemessenheit 7 2.1.4. Ergebnis 7 3. Künftige Abgrenzung der Leistungsbereiche der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege 8 3.1. Geplante Ausgestaltung 8 3.2. Kritik der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Täger der Sozialhilfe (BAGÜS) 8 3.3. Alternativer Regelungsvorschlag der BAGÜS 8 3.4. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Regelungsvorschlags der BAGÜS 8 3.4.1. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem 8 3.4.2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 9 3.4.2.1. Legitimer Zweck 9 3.4.2.2. Geeignetheit und Erforderlichkeit 9 3.4.2.3. Angemessenheit 9 3.4.3. Ergebnis 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 4 1. Einkommens- und Vermögensheranziehung bei Gewährung von Eingliederungshilfe bzw. Hilfe zur Pflege 1.1. Heutige Rechtslage Bislang findet die Eingliederungshilfe im sechsten Kapitel des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) - Sozialhilfe - ihre gesetzliche Grundlage. Im 7. Kapitel des SGB XII ist die Hilfe zur Pflege geregelt. Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege unterliegen als Fürsorgeleistungen dem Bedürftigkeitsvorbehalt des § 2 Abs. 1 SGB XII. Nach bisheriger Rechtslage bedingen Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege einen weitgehenden, in Kapitel 11 SGB XII näher geregelten, Einsatz von Einkommen und Vermögen der Leistungsbezieher. Für diese ist es kaum möglich, Vermögen zu erhalten oder anzusparen. 1.2. Künftige Rechtslage Mit dem Ziel, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln, soll im Rahmen der Novellierung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) durch das am 28. Juni 2016 vom Bundeskabinett beschlossene Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Eingliederungshilfe aus dem System des SGB XII herausgenommen und in das SGB IX integriert werden.1 Dadurch soll die individuelle Selbstbestimmung gefördert werden und ein modernes Recht auf Teilhabe entstehen.2 Durch neue Regelungen zum Einkommens- und Vermögenseinsatz in §§ 135 ff. SGB IX-neu soll es beispielsweise Beziehern von Eingliederungshilfe möglich sein, künftig deutlich mehr vom eigenen Einkommen zu behalten und zu sparen und damit selbstbestimmter das eigene Leben zu gestalten.3 Zugleich verfolgt der Gesetzgeber auch das Ziel, Menschen mit Behinderung einen stärkeren Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu verschaffen.4 Die neuen Regelungen zum Einkommens- und Vermögenseinsatz werden ausschließlich für die Bezieher von Leistungen der künftig in Teil 2 des SGB IX unter dem Titel „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderung“ geregelten Eingliederungshilfe gelten. Bei der Hilfe zur Pflege bleibt es beim bisherigen Einkommens- und Vermögenseinsatz nach den Regelungen des SGB XII. Damit auch Menschen mit Behinderung, die neben einem Anspruch auf Eingliederungshilfe zugleich einen Anspruch auf Hilfe zur Pflege gem. §§ 53 ff. SGB XII haben, einen Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erhalten5, sieht § 103 Abs. 2 SGB IX-neu vor, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe die Leistungen der Hilfe zur Pflege im Falle der Erwerbstätigkeit des Leistungsbeziehers umfassen: 1 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, S. 198, abrufbar unter gemeinsam-einfachmachen .de (14. September 2016). 2 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz, S. 2, Stand: 4. Juli 2016. 3 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz, S. 3, Stand: 4. Juli 2016. 4 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, S. 289, abrufbar unter gemeinsam-einfachmachen .de (14. September 2016). 5 ebd, S. 298. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 5 [...] (2) Werden Leistungen der Eingliederungshilfe außerhalb einer Räumlichkeit im Sinne von § 43a Satz 3 des Elften Buches erbracht, umfasst die Leistung auch die Leistungen nach Kapitel 7 des Zwölften Buches, soweit der Leistungsberechtigte Einkommen aus selbständiger oder nichtselbständiger Tätigkeit, das die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 des Vierten Buches übersteigt, oder kurzfristiges Erwerbsersatzeinkommen bezieht. 2. § 103 Abs. 2 SGB IX-neu aus verfassungsrechtlicher Sicht Unter dem Aspekt, dass nicht sämtliche Bezieher von Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege künftig von den neuen Regelungen zum Einkommens- und Vermögenseinsatz profitieren, sondern nur der in § 103 Abs. 2 SGB IX-neu benannte Personenkreis ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung aufgeworfen worden. 2.1. Allgemeiner Gleichheitssatz In Betracht kommt in erster Linie ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). 2.1.1. Grundsatz Art. 3 Abs. 1 GG verbietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu regeln, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund dafür gegeben ist.6 In subjektivrechtlicher Hinsicht wirkt Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) als Teilhaberecht. Ein gleichheitswidriger Ausschluss eines Personenkreises von einer Vergünstigung, die einem anderen Personenkreis gewährt wird, ist dem Staat damit grundsätzlich verboten.7 Das bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber überhaupt keine Differenzierungen vornehmen dürfte. Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich je nach Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung reichen. Ungleichbehandlungen geringerer Intensität bedürfen bloß eines einleuchtenden sachlichen Grundes, dürfen also nicht willkürlich sein. Ungleichbehandlungen größerer Intensität binden den Gesetzgeber stärker an Verhältnismäßigkeitserfordernisse.8 Dann verletzt er das Grundrecht , wenn zwischen den Vergleichsgruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen oder nicht Gründe von solcher Art und solchem Gewicht gegeben sind, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. 6 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Urteil vom 23. Oktober 1951 - 2 BvG 1/51B. BVerfG E 1, S. 14 (52). 7 EPPING, Volker (2012). Grundrechte. Berlin/Heidelberg: Springer Verlag, Rn. 774 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 8 Bundesverfassungsgericht Urteil vom 26.1.1993 – 1 BvL 38/92, BVerfGE 88, 87ff.; Urteil vom 21.06.2011 – 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129,49. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 6 2.1.2. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem Für Menschen mit Behinderung, die außerhalb stationärer Pflege einen Anspruch sowohl auf Leistungen der Eingliederungshilfe gem. § 102 SGB IX-neu als auch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege gem. § 61 SGB XII haben, bestehen nach der Regelung des § 103 Abs. 2 SGB IX-neu künftig unterschiedliche Regelungen zum Einkommens- und Vermögenseinsatz im Leistungsfall. Der Gesetzgeber beabsichtigt demnach vergleichbare Normenadressaten der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege unterschiedlich anhand des Kriteriums zu behandeln, ob der Leistungsberechtigte nicht-geringfügiges Einkommen aus selbstständiger oder nichtselbständiger Tätigkeit oder kurzzeitiges Ersatzeinkommen bezieht. In diesem Fall umfasst der Anspruch auf Eingliederungshilfe auch die Leistungen der Hilfe zur Pflege, sodass für Erwerbstätige die strengeren Regeln des Einkommens- und Vermögenseinsatzes der §§ 85 ff. SGB XII nicht gelten. Insoweit kann eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem angenommen werden. 2.1.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Unabhängig davon, ob man in diesem Fall für die Rechtfertigung die Negation von Willkür genügen lässt, so ist die Ungleichbehandlung jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn mit der Ungleichbehandlung ein legitimer Zweck verfolgt wird und sie zugleich verhältnismäßig ist. 2.1.3.1. Legitimer Zweck Ausweislich der Begründung des Kabinettsentwurfs zum BTHG verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Lebensführung in der Gesellschaft zu ermöglichen . Durch die Erhöhung der Einkommens- und Vermögensfreibeträge für erwerbstätige Menschen mit Behinderung möchte der Gesetzgeber deren Arbeitsleistung besonders anerkennen und zugleich einen zusätzlichen Anreiz für Menschen mit Behinderung schaffen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.9 Der Gesetzgeber verfolgt mit der Differenzierung zwischen nichterwerbstätigen und erwerbstätigen Leistungsbeziehern mithin einen legitimen Zweck. 2.1.3.2. Geeignetheit Die Begünstigung von erwerbstätigen Menschen mit Behinderung bei den Einkommens- und Vermögensheranziehungsregeln ist dazu geeignet, die besonderen Leistungen erwerbstätiger Menschen mit Behinderung anzuerkennen und weiteren Menschen mit Behinderung einen Anreiz an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu bieten. 2.1.3.3. Erforderlichkeit Es dürfte zur Erreichung des legitimen Zwecks kein milderes, gleich wirksames Mittel bestehen. Bei der Bewertung der erforderlichen Mittel zur Erreichung eines gesetzgeberischen Ziels steht dem Gesetzgeber die Einschätzungsprärogative zu. Das heißt, der Gesetzgeber hat einen Prognoseund Beurteilungsspielraum bezüglich der für die Erreichung des Regelungszwecks erforderlichen 9 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, S. 316, abrufbar unter gemeinsam-einfachmachen .de (14. September 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 7 Maßnahmen.10 Von diesem hat der Gesetzgeber im Kabinettsentwurf zum BTHG in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht. 2.1.3.4. Angemessenheit Die Regelung des Gesetzgebers in § 103 Abs. 2 SGB IX müsste auch angemessen sein. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das übergeordnete gesetzgeberische Ziel des BTHG, die Förderung selbstbestimmter Lebensführung und Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung , nur in geringem Maße berührt wird. Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) kam eine Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes zu dem Ergebnis, dass am 31. Dezember 2013 1,8 % bzw. rund 5000 Bezieher von Eingliederungshilfe zugleich Hilfe zur Pflege erhielten.11 Folglich geht der Gesetzgeber in der Begründung zum Kabinettsentwurf davon aus, dass nur eine sehr geringe Zahl leistungsberechtigter Personen Leistungen sowohl aus der Eingliederungshilfe als auch aus der Hilfe zur Pflege beziehen und gleichzeitig im Erwerbsleben ein nicht nur geringfügiges Einkommen erzielen.12 Vor dem Hintergrund, dass davon auszugehen ist, dass Menschen mit Behinderung in vielen Fällen aufgrund ihrer körperlichen , geistigen oder seelischen Einschränkungen nur bedingt auf dem regulären Arbeitsmarkt erwerbsfähig sind, wird § 103 Abs. 2 SGB IX-neu voraussichtlich nur wenigen Menschen einen tatsächlichen Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung bieten. Berücksichtigt man jedoch, dass eines der übergeordneten Ziele der Neuregelungen im BTHG ist, Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, so bieten die geplanten Regelungen wenigstens für den Personenkreis der erwerbsfähigen Menschen mit Behinderung erhebliche Verbesserungen. Für diese ist die tatsächliche Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und damit die Inklusion in den Arbeitsmarkt künftig deutlich attraktiver, da sie bei gleichzeitigem Bezug sowohl der Eingliederungshilfe als auch der Hilfe zur Pflege nicht mehr den strengen Regelungen des SGB XII zur Einkommens- und Vermögensheranziehung unterliegen. Die gesteigerten Möglichkeiten, Vermögen zu sparen und über mehr Barmittel zu verfügen, erscheinen förderlich ein Erwerbshemmnis abzubauen und für den betroffenen, wenn auch kleinen , Personenkreis erheblich zu einer selbstbestimmteren Lebensführung beizutragen. 2.1.4. Ergebnis Auch bei Anwendung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs lässt sich die mit der Einführung von § 103 Abs. 2 SGB IX-neu verbundene Ungleichbehandlung von Leistungsberechtigten, die sowohl Eingliederungshilfe als auch Hilfe zur Pflege beanspruchen können, verfassungsrechtlich rechtfertigen. Insoweit begegnet die Regelung keinen tiefgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken . 10 BVErfGE Urteil vom 19.7.2000 – 1 BvR 539/96, BVErfGE 102, 197. 11 BMAS, Das BTHG in der Diskussion, veröffentlicht vom Verein NISTA e.V., abrufbar unter: http://nitsaev .de/wp-content/uploads/2016/07/160628_Das-BTHG-in-der-Diskussion.pdf, abgerufen am 15.9.2016. 12 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, S. 216, abrufbar unter gemeinsam-einfachmachen .de (14. September 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 8 3. Künftige Abgrenzung der Leistungsbereiche der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege Mit dem Ziel des Gesetzgebers, die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII herauszunehmen und in das SGB IX zu integrieren, stellt sich verstärkt die Frage nach der Abgrenzung zur Hilfe zur Pflege des 7. Kapitels SGB XII und zur gesetzlichen Pflegeversicherung. 3.1. Geplante Ausgestaltung Um eine Abgrenzung des künftigen Eingliederungshilferechts von den Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) und der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII zu ermöglichen, legt der Gesetzgeber in § 91 Abs.3 SGB IX-neu einen Nachrang der Eingliederungshilfeleistungen im häuslichen Umfeld fest, soweit nicht die Erfüllung von Aufgaben der Eingliederungshilfe im Vordergrund steht. 3.2. Kritik der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Täger der Sozialhilfe (BAGÜS) Die BAGÜS kritisiert am Abgrenzungsmodell des BTHG im § 91 Abs. 3 SGB IX-neu, dass das Regelungsmodell des Kabinettsentwurfs davon ausgeht, dass Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege nebeneinander erbracht werden und sich ergänzen. Wegen der Privilegierung von Eingliederungshilfeempfängern bei der Heranziehung von Einkommen und Vermögen (s.o. unter 1.2.) befürchtet die BAGÜS aufwendige Feststellungsverfahren und vermehrte gerichtliche Streitigkeiten. 3.3. Alternativer Regelungsvorschlag der BAGÜS Die BAGÜS schlägt vor13, die Abgrenzung anhand streitfrei feststellbarer Kriterien vorzunehmen. Konkret soll als Abgrenzungskriterium die Regelaltersgrenze der §§ 35, 235 SGB VI herangezogen werden. Für Menschen, die vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze Leistungen der Eingliederungshilfe oder der Hilfe zur Pflege benötigen, soll der Anspruch auf Eingliederungshilfe vorrangig sein. Dieser Vorrang der Eingliederungshilfe soll auch für die Zeit nach Erreichen der Regelaltersgrenze fortbestehen. Für Menschen hingegen, die erstmals nach Erreichen der Regelaltersgrenze Leistungen der Eingliederungshilfe und/oder Hilfe zur Pflege benötigen, soll die Hilfe zur Pflege gegenüber der Eingliederungshilfe vorrangig sein. 3.4. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Regelungsvorschlags der BAGÜS 3.4.1. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem Nach dem Regelungsvorschlag der BAGÜS sollen Leistungen der Eingliederungshilfe oder der Hilfe zur Pflege danach abgegrenzt werden, ob der Berechtigte bei erstmaliger Leistungsbeanspruchung die Regelaltersgrenze des SGB VI überschritten hat oder nicht. Allein vom Lebensalter des Anspruchstellers hängt damit ab, ob dieser Eingliederungshilfe mit den für ihn günstigeren Einkommens - und Vermögensheranziehungsregelungen erhält, oder ob er vergleichbare Leistungen 13 Münning, Überlegungen zur Regelung des Rangverhältnisses zwischen Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege und Pflegeversicherungsleistungen, S. 4, Münster, 12.8.2016. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 9 nach dem System der Hilfe zur Pflege gem. Kapitel 7 SGB XII beanspruchen kann. Anspruchsteller werden also allein aufgrund ihres Lebensalters ungleich behandelt. 3.4.2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Grundsätzlich verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind. Das Lebensalter stellt ein solches Merkmal dar.14 Gleichwohl könnte die Regelung diesen strengen Rechtfertigungsanforderungen genügen, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen ist. 3.4.2.1. Legitimer Zweck Der Regelungsvorschlag der BAGÜS verfolgt den Zweck, eine klare Abgrenzung zwischen den Leistungen der Eingliederungshilfe und denen der Hilfe zur Pflege zu ermöglichen. Dieser Zweck werde durch Anknüpfung an die unterschiedlichen Lebenslagen der betroffenen Personen erreicht . So soll vor Erreichen der Regelaltersgrenze die Eingliederung in die Gesellschaft im Vordergrund stehen, hingegen nach Erreichen der Altersgrenze der Pflegebedarf.15 3.4.2.2. Geeignetheit und Erforderlichkeit Die Einführung der Regelaltersgrenze als Abgrenzungskriterium zwischen den unterschiedlichen Leistungen fördert den Zweck, eindeutige Zuordnungen zu ermöglichen und stellt insofern tatsächlich eine erhebliche Vereinfachung dar. Sofern sich der Gesetzgeber zur Übernahme des Regelungsvorschlags der BAGÜS entschiede, obläge es seiner Einschätzungsprärogative, dieses Kriterium als erforderlich anzusehen. 3.4.2.3. Angemessenheit Unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit begegnet der Regelungsvorschlag der BAGÜS allerdings erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Danach kommen Menschen, die erstmals vor Erreichen der Regelaltersgrenze Eingliederungshilfe erhalten, in den Genuss der Vorteile der verbesserten Heranziehungsregelungen für Einkommen und Vermögen gem. §§ 135 ff. SGB IXneu . Diese Vorteile entfielen für Menschen, die erstmals nach Erreichen der Regelaltersgrenze Leistungen beanspruchen. Die Begründung der BAGÜS, Menschen die erst nach Erreichen der Regelaltersgrenze leistungsberechtigt werden, hätten zuvor mit uneingeschränkter Alltagskompetenz und Erwerbsmöglichkeit finanziell vorsorgen können16, erscheint wenig überzeugend. Zwar ist richtig, dass Menschen, die erstmals nach Erreichen der Regelaltersgrenze Leistungen bean- 14 BVerfGE Urteil vom 27.7.2016 – 1 BvR 371/11. 15 Münning, Überlegungen zur Regelung des Rangverhältnisses zwischen Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege und Pflegeversicherungsleistungen, S. 7, Münster, 12.8.2016. 16 ebd., S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 114/16 Seite 10 spruchen können, zuvor die Möglichkeit der Vorsorge hatten. Bedenken bestehen aber insbesondere mit Blick darauf, dass Menschen, die kurz vor Erreichen der Regelaltersgrenze leistungsberechtigt werden, als Empfänger der Eingliederungshilfe dauerhaft ihr Vermögen gem. §§ 139, 140 SGB IX-neu erst ab einem Betrag von 150 % der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV (derzeit 52.290 €) einsetzen müssen. Menschen hingegen, die kurz nach Erreichen der Regelaltersgrenze anspruchsberechtigt werden, haben gem. § 90 Abs. 1 SGB XII grundsätzlich ihr gesamtes Vermögen einzusetzen. Da der Gesetzgeber bei zunehmender Prüfungsstrenge auch im Bereich der leistenden Massenverwaltung nur geringe Möglichkeiten zur Typisierung hat17, dürfte jedenfalls eine starre Regelung wie die von der BAGÜS vorgeschlagene, ohne Differenzierung und Härtefallklauseln unzulässig und damit verfassungswidrig sein. 3.4.3. Ergebnis Die Abgrenzung der Leistungssysteme der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege anhand der Regelaltersgrenze der §§ 35, 235 SGB VI mag aufgrund der klaren Leistungsabgrenzungen aus verwaltungstechnischer Sicht wünschenswert sein, begegnet aber erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ende der Bearbeitung 17 Umkehrschluss aus BVerfGE, Urteil vom 27.7.2016 – 1 BvR 371/11, Rn. 69.