© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 112/20 Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro Reichweite und Auswirkungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 112/20 Seite 2 Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro Reichweite und Auswirkungen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 112/20 Abschluss der Arbeit: 17. Dezember 2020 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 112/20 Seite 3 1. Einleitung Der zum 1. Januar 2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn hat sich nach dem am 14. Dezember 2020 von der Bundesregierung vorgelegten Gesamtbericht zur Evaluation des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nach § 23 Mindestlohngesetz1 grundsätzlich bewährt. „Die Evaluationsergebnisse zeigen, dass der Mindestlohn wirkt und den Arbeitnehmerschutz spürbar erhöht hat. Die Stundenlöhne im untersten Lohnbereich sind deutlich gestiegen, der Niedriglohnsektor ist leicht zurückgegangen und die Lohnverteilung ist gerechter geworden. Die Ergebnisse zeigen zudem , dass die Arbeitslosigkeit nicht erhöht, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht beeinträchtigt und das gesamtwirtschaftliche Preisniveau nicht beeinflusst wurde.“2 2. Mindestlohn als Mittel der Armutsbekämpfung Überwiegend nicht erfüllt haben sich mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns verbundene Erwartungen einer positiven Wirkung bei der Armutsbekämpfung. Insbesondere die Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat sich seither nicht wesentlich verringert.3 Vor diesem Hintergrund wird von den Gewerkschaften ein existenzsicherndes Mindestlohnniveau von zwölf Euro pro Arbeitsstunde gefordert.4 Auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz hatte sich bereits 2017 entsprechend geäußert.5 1 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Forschungsbericht 558, Gesamtbericht zur Evaluation des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nach § 23 Mindestlohngesetz, Dezember 2020, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/mindestlohn-evaluation.html (letzter Abruf: 17. Dezember 2020), vgl. dazu auch: Mindestlohnkommission, Dritter Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns - Bericht der Mindestlohnkommission an die Bundesregierung nach § 9 Abs. 4 Mindestlohngesetz vom 30. Juni 2020, abrufbar im Internetauftritt der Mindestlohnkommission: https://www.mindestlohn -kommission.de/DE/Bericht/pdf/Bericht2020.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). 2 Pressemitteilung des BMAS vom 14. Dezember 2020, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/mindestlohn-evaluation.html (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). 3 Vgl. Caliendo, Marco, Fünf Jahre Mindestlohn: Einiges erreicht, aber wesentliche Ziele verfehlt, ifo Schnelldienst 4/2020 vom 15. April 2020, S. 23-28 (25 f.) sowie bereits Unterrichtung durch die Bundesregierung - Lebenslagen in Deutschland – Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht, Bundestagsdrucksache 18/11980 vom 14. April 2017), S. 242. 4 Vgl. zuletzt Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB): Mindestlohn: Das hat er gebracht – und das muss jetzt passieren , Internetveröffentlichung vom 12. Dezember 2020, abrufbar im Internetauftritt des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++08d747dc-3b97-11eb-a30d-001a4a160123 (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). 5 Zeit-online vom 3. November 2017, Scholz fordert Mindestlohn von zwölf Euro, abrufbar unter SPD: Scholz fordert Mindestlohn von zwölf Euro | ZEIT ONLINE (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 112/20 Seite 4 Aufgegriffen wird damit „die aus Großbritannien stammende Idee eines Mindestlohns als Living Wage, der allen Beschäftigten einen einfachen aber sozial akzeptablen Lebensstandard sichern soll […]. Sie konkretisiert sich in der Forderung nach einem europäischen Mindestlohn in Höhe von 60% des Medianverdiensts, mithin einem relativen Konzept der Armutsgefährdung. Im deutschen Kontext entspräche dies einer allgemeinen Lohnuntergrenze von um die 12 Euro […].“6 3. Reichweite und Auswirkung Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI)7 geht auf der Grundlage der Daten aus dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)8 und der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes9 für das Jahr 2017 davon aus, dass von einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro neun bis elf Millionen Beschäftigte profitieren würden. Dies betreffe insbesondere geringfügig Beschäftigte , aber auch Teilzeitkräfte. Insoweit bestätigen die Auswertungen „das von vielen Untersuchungen bekannte Bild, wonach die durchschnittlichen Stundenlöhne von sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigten deutlich niedriger als bei Vollzeitbeschäftigten liegen und die Stundenlöhne von geringfügig Beschäftigten im Durchschnitt noch einmal deutlich geringer sind. Dementsprechend liegt der Anteil der Vollzeitbeschäftigten mit Stundenlöhnen unter 12 Euro lediglich zwischen 16 % und 20 %, gegenüber 27 % bis 35 % bei den sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigten und 79 % bis 87 % bei den geringfügig Beschäftigten. Schließlich zeigt sich einmal mehr, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland einen deutlichen Gender-Bias aufweist. Während etwa 35 % bzw. 36 % aller Frauen zu einem Stundenlohn von weniger als 12 Euro arbeiten, sind es bei den Männern lediglich zwischen 20 % und 24 %. Eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde, von der 2017 unmittelbar zwischen 9 Mio. und 11 Mio. Beschäftigte profitiert hätten, würde noch einmal deutlich stärker in das bestehende Lohngefüge eingreifen, als die Einführung des Mindestlohns 2015, bei der unmittelbar 6 Bonin, Holger / Pestel, Nico, Der Mindestlohn birgt nach wie vor Beschäftigungsrisiken, in: ifo Schnelldienst 4/2020 vom 15. April 2020, S. 16 (19). 7 Schulten, Thorsten / Pusch, Toralf, Mindestlohn von 12 Euro: Auswirkungen und Perspektiven, in: Wirtschaftsdienst 5/2019, S. 335-339, abrufbar im Internetauftritt des Wirtschaftsdienstes: https://www.wirtschaftsdienst .eu/inhalt/jahr/2019/heft/5/beitrag/mindestlohn-von-12-euro-auswirkungen-und-perspektiven .html#:~:text=Eine%20Erh%C3%B6hung%20des%20Mindestlohns %20auf%2012%20Euro%20w%C3%A4re%20in%20Deutschland,betroffenen%20Unternehmen %20neue%20Preissetzungsspielr%C3%A4ume%20erm%C3%B6glicht (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). 8 Vgl. dazu im Internetauftritt des DIW: https://www.diw.de/de/diw_01.c.615551.de/forschungsbasierte_infrastruktureinrichtung __sozio-oekonomisches_panel__soep.html (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). 9 Vgl. dazu im Internetauftritt des Statistischen Bundesamtes: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste /Verdienste-Verdienstunterschiede/Methoden/Erlaeuterungen/erlaeuterung-vierteljaehrliche-verdiensterhebung .html (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 112/20 Seite 5 etwa 4 Mio. Beschäftigte betroffen waren. Letztere entsprachen etwa 11 % der Beschäftigten gegenüber 27 % bis 30 %, deren Löhne 2017 bei einer Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro hätten angehoben werden müssen. Im Durchschnitt wäre der Stundenlohn dabei um 2,87 Euro angestiegen . Zwischen 2014 und 2016 sind die Stundenlöhne im Mindestlohnbereich um etwa 14 % angehoben worden. In Ostdeutschland lag die Erhöhung bei mehr als 20 %. Würde der gesetzliche Mindestlohn auf einen Schlag von derzeit 9,19 Euro auf 12 Euro pro Stunde erhöht, so würde dies einem Zuwachs von etwa 30 % entsprechen. Bei einer Erhöhung ab 2020 von dem dann bestehenden Mindestlohnbetrag von 9,35 Euro wären es immer noch 28 %.“10 Eine Auswertung der Daten danach, welche Branchen durch eine Mindestlohnanhebung auf zwölf Euro am stärksten betroffen wären, bietet die WSI-Studie nicht. Eine gemeinsame Stellungnahme des WSI und des Instituts für Makroökonomie der Hans-Böckler -Stiftung im Rahmen einer schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission verspricht sich davon auch makroökonomisch positive Auswirkungen infolge einer Steigerung der privaten Konsumnachfrage. „Bei einer Betroffenheit von 9 bis 11 Millionen Beschäftigten und der vereinfachenden Annahme, dass die durchschnittliche Arbeitszeit der von der Anhebung betroffenen Personen etwa gleich hoch bleibt und es zu einer weiteren Reduzierung der Minijobs zugunsten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung kommt ähnlich wie bei der Mindestlohneinführung 2015, […] dürfte infolge einer schrittweisen Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro langfristig der reale private Konsum um 1,4 bis 2,2 % höher und die reale Wirtschaftsleistung um 0,5 bis 1,3 % größer ausfallen als im Status quo ohne eine solche Mindestlohnanhebung, […]. Das Preisniveau würde gegenüber dem Status quo langfristig um rund 1 % höher ausfallen […].“11 Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit kommt indes in einer Studie vom Juli 2019 zu dem Ergebnis, „dass bei einer raschen Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro substanzielle Beschäftigungsverluste zu befürchten sind. Am stärksten wäre dieser Effekt in Betrieben, die weder tarifgebunden sind noch einen Betriebsrat haben. Dass diese Betriebe besonders betroffen sind, ist politisch relevant, weil in der Mindestlohnkommission in erster Linie Betriebe vertreten sind, die sowohl über einen Betriebsrat als auch über einen Tarifvertrag verfügen – und damit bei einer Erhöhung des Mindestlohns die geringsten Beschäftigungsverluste aufweisen.“12 Auch wenn es darauf bisher keine Hinweise gebe, bestehe doch die „Gefahr, dass die Mindestlohnkommission Beschäftigungsverluste, insbesondere in Betrieben ohne Tarifbindung und institutionalisierte Mitbestimmung, weniger stark berücksichtigt als wirtschaftspolitisch wünschenswert wäre.“13 *** 10 Schulten / Pusch (Fn. 7), S. 336 f. 11 Herzog-Stein, Alexander et al., Fünf Jahre Mindestlohn – Erfahrungen und Perspektiven, Gemeinsame Stellungnahme von IMK und WSI anlässlich der schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission 2020, Policy Brief WSI Nr. 42, 6/20202, S. 23-26 (25). 12 Bossler, Mario / Oberfichtner, Michael / Schnabel, Claus, Sind zwölf Euro Mindestlohn zu viel?, IAB-Forum vom 24. Juli 2019, abrufbar im Internetauftritt des IAB: https://www.iab-forum.de/sind-zwoelf-euro-mindestlohn -zu-viel/?pdf=12224 (letzter Abruf: 17. Dezember 2020). 13 Bossler/Oberfichtner/Schnabel (Fn. 12), S. 6.