Deutscher Bundestag Rentenrechtliche Gleichstellung jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion mit Spätaussiedlern? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2012 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-109/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 2 Rentenrechtliche Gleichstellung jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion mit Spätaussiedlern? Aktenzeichen: WD 6 – 3000-109/12 Abschluss der Arbeit: 2. August 2012 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Rentenleistungen bei Aufenthalt in mehreren Ländern 4 2. Hintergrund der Entwicklung des Fremdrentenrechts in Deutschland 4 3. Anpassung des Fremdrentenrechts nach der politischen Wende in Osteuropa 6 4. Nach dem Fremdrentenrecht berechtigte Personenkreise 7 5. Situation der jüdischen Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion im Rentenalter 7 6. Argumente gegen eine Ausweitung des Fremdrentenrechts durch Gleichstellung jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion mit Spätaussiedlern 9 7. Verhandlungen zu einem deutsch-russischen und zu einem deutsch-ukrainischen Sozialversicherungsabkommen 11 8. Keine über die Grundsicherung im Alter hinausgehenden Sozialleistungen 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 4 1. Rentenleistungen bei Aufenthalt in mehreren Ländern Die internationale Mobilität hat in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Dies hat auch Auswirkungen auf die nationalen Sozialleistungssysteme. In der deutschen Rentenversicherung gilt das Territorialitätsprinzip, nachdem nur eine in Deutschland ausgeübte Erwerbstätigkeit der Beitragspflicht unterliegt.1 Eine auf inländischen Beitragszeiten beruhende Rente wird zwar gegebenenfalls auch an Berechtigte, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, gezahlt , jedoch folgt daraus nicht zwangsläufig eine Rentenzahlung aus anderen Staaten nach Deutschland.2 Im Ausland zurückgelegte Beitragszeiten sind in der deutschen Rentenversicherung nur dann als rentenrechtliche Zeiten zu berücksichtigen, wenn dies nach über- oder zwischenstaatlichem Recht bzw. den Regelungen des Fremdrentengesetzes (FRG) vorgesehen ist. Durch über- und zwischenstaatliches Recht - wie die entsprechenden EU-Verordnungen oder die zahlreichen bilateralen Sozialversicherungsabkommen - sollen sozialversicherungsrechtliche Nachteile für Personen, die im Ausland erwerbstätig waren, ausgeglichen werden. Sie sind Ergebnis bi- oder multilateraler Verhandlungen und setzen nach entsprechender Ratifizierung Regelungen über den Erwerb von Rentenansprüchen im Inland und die Zahlung von Renten in den jeweiligen Aufenthaltsstaat in Kraft. Die im Ausland zurückgelegten Beschäftigungszeiten können so bei der Prüfung der Voraussetzungen für einen Rentenanspruch mitberücksichtigt werden. Dagegen handelt es sich beim FRG um einseitige innerstaatliche Regelungen, mit denen insbesondere anerkannte Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler nach dem Eingliederungsprinzip so gestellt werden, als hätten sie ihr Erwerbsleben in Deutschland zurückgelegt. Das Fremdrentenrecht hat seinen Ursprung in der Zwangslage der vertriebenen und geflohenen Deutschen, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet der späteren DDR und den Gebieten östlich von Oder und Neiße in der jungen Bundesrepublik eine neue Heimat gefunden hatten, jedoch ohne Alterssicherung dastanden. 2. Hintergrund der Entwicklung des Fremdrentenrechts in Deutschland Für die Vertriebenen und Flüchtlinge war der für sie zuständige Versicherungsträger für Rentenleistungen schlicht nicht mehr erreichbar und ihre Versicherungsunterlagen zum Teil verloren gegangen. Dies galt sowohl für Betroffene, die bei Versicherungsträgern innerhalb der Reichsgrenzen versichert waren, als auch für im östlichen Ausland in den dortigen Rentenversicherungssystemen versicherte Deutsche, die ihre Heimat aufgrund der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis verlassen mussten. Zunächst regelten im Nachkriegsdeutschland Landesgesetze, in welcher Form Vertriebene und Flüchtlinge hinsichtlich verloren gegangener Rentenanwartschaften in der DDR und den Vertreibungsgebieten zu entschädigen waren. Mit dem Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FAG) 1 Vgl. Regelungen über die Ein- bzw. Ausstrahlung bei Entsendung, §§ 4 und 5 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV). 2 §§ 110 ff. des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 5 folgte dann 1953 eine bundeseinheitliche Regelung hinsichtlich der Rentenversicherung der in Westdeutschland zu integrierenden ca. 16 Millionen Menschen.3 Dabei waren zur gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegte Zeiten nach Reichsrecht, nach den in der DDR geltenden Regelungen sowie zunehmend nach dem Recht des Herkunftsgebiets zu berücksichtigen. Das FAG beruhte grundsätzlich auf dem Entschädigungsprinzip. Der Rente lagen die in der DDR und den Vertreibungsgebieten versicherten Entgelte zugrunde, soweit die für die Ermittlung der Rentenhöhe maßgeblichen Daten nachgewiesen wurden. Konnte ein Nachweis nicht erbracht werden oder waren die Beiträge in einer nicht umzurechnenden Fremdwährung gezahlt worden, war ein fiktives Tabellenentgelt, das auf vergleichbaren Beschäftigungen im Deutschen Reich bzw. im Bundesgebiet beruhte, zu berücksichtigen. Auch die Berechtigten mit Beschäftigungszeiten außerhalb der früheren Reichsgrenzen wurden gegebenenfalls so behandelt, als ob sie ihr Versicherungsleben in Deutschland zurückgelegt hätten.4 Für Vertriebene und Flüchtlinge, die ihre Beitragszahlungen nicht nachweisen konnten, erfolgte so zunächst lediglich hilfsweise eine rückwirkende Eingliederung in die westdeutsche Rentenversicherung , während sich die Renten von Berechtigten mit entsprechenden Nachweisen nach den tatsächlichen Beitragszahlungen richteten. Diese unterschiedliche Behandlung konnte nicht länger aufrechterhalten werden, zumal sich in der Nachkriegszeit die wirtschaftliche Situation in Westdeutschland einerseits und Ostdeutschland und den Vertreibungsgebieten andererseits immer weiter auseinanderentwickelte. Die Entschädigung aufgrund vorhandener Beitragsunterlagen führte vor allem für Flüchtlinge aus der DDR und Aussiedler, die nach dem Zweiten Weltkrieg Beiträge zur Sozialversicherung im Herkunftsgebiet gezahlt hatten, immer häufiger zu geringeren Renten als die fiktive Eingliederung über Tabellenentgelte bei nicht nachgewiesenen Beitragszahlungen . Nach Einführung des bruttolohnbezogenen dynamischen Rentenversicherungssystems im Jahre 1957 erfolgte deshalb mit dem rückwirkend zum 1. Januar 1959 in Kraft getretenen Fremdrentenund Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) vom 25. Februar 1960 eine grundlegende Reform des Fremdrentenrechts: Anstelle eines Lastenausgleichs im Sinne einer Entschädigung für entgangene Rentenleistungen nicht mehr erreichbarer Versicherungsträger wurde mit dem durch Art. 1 FANG eingeführten FRG nunmehr ausschließlich das Eingliederungsprinzip für die Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten in der DDR und in den Vertreibungsgebieten maßgeblich. Demzufolge wurden die berechtigten Personen stets so gestellt, als hätten sie Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit in Westdeutschland gezahlt. Hierzu wurden sie in eine auf dem westdeutschen Lohnniveau beruhenden Leistungsgruppe eingestuft und Entgelte der Anlagen 1 bis 16 zum FRG berücksichtigt. Nach Reichsrecht in den Herkunftsgebieten zurückgelegte Zeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung , für die Versicherungsunterlagen durch Flucht oder Vertreibung verloren gegangen sind, konnten seitdem mithilfe der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 wiederhergestellt werden. 3 Grotzer, Werner (2011) „Internationales Rentenrecht und Fremdrentenrecht“ In: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand, Kapitel 19, Rd. 111 ff. 4 Zweng, Hans, „Das neue Fremdrentenrecht“ in: Bundesarbeitsblatt 10/1960, S. 336. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 6 3. Anpassung des Fremdrentenrechts nach der politischen Wende in Osteuropa Das Fremdrentenrecht war nach dem Umbruch im östlichen Mittel- und Osteuropa in den Jahren 1989/1990 und der Wiedervereinigung Deutschlands an die neue Lage anzupassen. Das FRG wurde deshalb mehrfach, unter anderem mit dem Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991, geändert. Insbesondere sind zur Sozialversicherung der DDR gezahlte Beiträge nunmehr den nach Bundesrecht gezahlten Beiträgen gleichgestellt, so dass Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR nicht mehr vom FRG erfasst werden. Mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) vom 21. Dezember 1992 wurde unter anderem geregelt, dass nach 1992 zuziehende Volksdeutsche nicht mehr als Aussiedler und damit als den Vertriebenen Gleichgestellte anzuerkennen sind. Dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehörende Personen aus den Vertreibungsgebieten wie den Staaten der früheren Sowjetunion können seitdem nur noch im Rahmen eines formellen Aufnahmeverfahrens als Spätaussiedler nach Deutschland zuziehen und gegebenenfalls nach dem FRG in die gesetzliche Rentenversicherung eingegliedert werden. Bereits im Jahre 1990 wurde angenommen, dass die historisch begründete Legitimation des dem FRG zugrunde liegenden auf Kriegs- und Nachkriegsereignisse wie Flucht und Vertreibung beruhenden Eingliederungsprinzips mit den eingetretenen politischen, rechtlichen und tatsächlichen Veränderungen entfallen war.5 Infolgedessen wurde auch die Abschaffung des FRG diskutiert.6 Da auf absehbare Zeit nicht damit zu rechnen war, dass die betreffenden, sich in der Transformation von Plan- in Marktwirtschaften befindenden Länder aus dort gezahlten Sozialversicherungsbeiträgen ohne weitere Voraussetzungen Rentenzahlungen nach Deutschland erbringen werden, musste weiter am Eingliederungsprinzip festgehalten werden. Die Eingliederung der nach dem FRG berechtigten Personen sollte aber nicht mehr auf der Grundlage von in Westdeutschland erzielten durchschnittlichen Entgelten, sondern auf der Grundlage des Lohnniveaus strukturschwacher westdeutscher Regionen erfolgen.7 Die nach dem FRG zu zahlende Rente wurde zunächst auf 70 %, später auf 60 % abgesenkt und ab 1996 zudem auf einen Höchstwert begrenzt, der einer Rente aufgrund einer durchschnittlichen Beitragszahlung für 25 Jahre entspricht.8 Aus den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Haushalts- und Wirtschaftsführung vom 16. Oktober 1996 geht hervor, dass durch Abschluss von Sozialversicherungsabkommen mit den Herkunftsländern mittelfristig auf die Abschaffung des FRG hingearbeitet werden solle und zu prüfen sei, ob die Anerkennung von FRG-Zeiten alsbald beendet werden kann.9 5 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Bundestags-Drucksache 11/7171, S. 39. 6 Vgl. Steffan, Ralf „Harmonisierungsbedarf im (Fremd-)Rentenrecht“ in: Zeitschrift für Politik und Recht, 1991/1, S. 12 ff. 7 Vgl. u. a. Bundestags-Drucksache 12/405, S. 163. 8 § 22b FRG. 9 Bundestags-Drucksache 13/5700, S. 76. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 7 4. Nach dem Fremdrentenrecht berechtigte Personenkreise Zum berechtigten Personenkreis des FRG zählen heute vor allem nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) anerkannte Vertriebene und Aussiedler und im Wege eines Aufnahmeverfahrens zugezogene Spätaussiedler aus den Republiken der früheren Sowjetunion. Diese müssen sich in ihrer Heimat zum deutschen Volkstum bekannt haben und dieses Bekenntnis muss durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt sein.10 Verfolgte Juden, die sich vom deutschen Volkstum abgewandt haben und ein Vertreibungsschicksal erlitten haben, sind den Vertriebenen gleichgestellt. Ebenfalls in den Anwendungsbereich des FRG einbezogen sind deutschsprachige Juden, die sich durch rechtzeitiges Verlassen ihres Heimatgebietes einer nationalsozialistischen Verfolgung entziehen konnten.11 Die übrigen im FRG genannten Personenkreise sind inzwischen aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr von Bedeutung. Letztlich enthält das Fremdrentenrecht Regelungen, mit denen durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs entstandene Lücken in der Erwerbsbiographie der betroffenen Versicherten geschlossen werden sollten. 5. Situation der jüdischen Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion im Rentenalter Seit 1990 hat Deutschland aufgrund des Beschlusses des Ministerrats der DDR vom 11. Juli 1990 und des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 über 200.000 jüdische Zuwanderer und ihre Familienangehörigen aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion aufgenommen. Als gesetzliche Grundlage diente das Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge (HumHAG). Als Ausländer erhielten die seinerzeit so genannten jüdischen Kontingentflüchtlinge eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und eine unbefristete Arbeitsberechtigung. Aufgrund der im Jahr 2005 eingeführten zusätzlichen Voraussetzungen und der verbesserten Lebensbedingungen in den Herkunftsländern hat sich die Anzahl der jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa deutlich verringert. Hauptherkunftsländer sind die Ukraine und die Russische Föderation.12 Für viele der im mittleren oder höheren Alter von Deutschland aufgenommenen jüdischen Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion stellt sich das Problem, dass sie im Alter nur eine verhältnismäßig geringe Rente aus den zur gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland gezahlten Beiträgen erhalten können,weil die in den Herkunftsländern zurückgelegten Beschäftigungszeiten grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sind. Dies wird nicht oder nur in einem geringen Umfang durch Rentenzahlungen aus dem Ausland aufgefangen. Nur für 10 § 1 FRG i. V. m. §§ 1 - 4 und 6 BVFG. 11 §§ 17 a, 20 Abs. 1 Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). 12 Migrationsbericht 2010, BT-Drucksache 17/8311, S. 86. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 8 verhältnismäßig wenige, bereits hoch betagte Berechtigte kann die Anerkennung von Zeiten nach dem FRG in Betracht kommen.13 Aus der Russischen Föderation und der Ukraine erfolgt aus den dort zurückgelegten Beschäftigungszeiten nach einer Information der Deutschen Rentenversicherung Bund nur unter bestimmten restriktiven Voraussetzungen eine Rentenzahlung nach Deutschland. Aus der russischen Rentenversicherung werden Renten grundsätzlich nur an russische Staatsbürger, oder wenn bereits vor der Zuwanderung ein Rentenanspruch bestanden hat, gezahlt. Die ukrainische Rentenversicherung zahlt grundsätzlich nur Renten aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit nach Deutschland. Allerdings steht diese Regelung nach einem Beschluss des ukrainischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober 2009 im Widerspruch zur Verfassung, so dass hierzu noch eine Neuregelung zu erwarten ist. Für Zuwanderer aus Estland, Lettland und Litauen sind die Verordnungen 883/2004 und 987/2009 über die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union anzuwenden, das heißt, sie können in der Regel eine Rentenleistung aus den dort zur Rentenversicherung zurückgelegten Beschäftigungszeiten erhalten. Wie für andere Migranten aus Ländern, mit denen kein Sozialversicherungsabkommen besteht und die nur geringe oder keine Rentenleistungen aus dem Ausland erhalten, besteht für viele jüdische Zuwanderer aus Russland und der Ukraine im Alter nur ein Anspruch aus der deutschen Rentenversicherung. Wer nicht in jüngerem Lebensalter bereits zu Beginn seiner Erwerbsbiographie zugewandert ist, kann aber hier wegen der zeitlich eingeschränkten Beitragsleistung nur eine entsprechend niedrige Rente erwarten. Die Rente ist umso geringer, je höher das Lebensalter zur Zeit der Zuwanderung war. Eine auf 45 Versicherungsjahren mit einem durchschnittlichen Verdienst beruhende Standardrente beträgt im Monat brutto 1.263,15 Euro. Für Versicherte, die 25 Jahre durchschnittlich verdient und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt haben beträgt die monatliche Bruttorente 701,75 Euro. Es ist daher anzunehmen, dass viele der jüdischen Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion im Alter auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind oder sein werden. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich bereits mit mehreren Petitionen beschäftigt , mit denen eine rentenrechtliche Gleichstellung jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion mit Spätaussiedlern gefordert wird, um eine Rentenzahlung aus den im Herkunftsgebiet zurückgelegten Beschäftigungszeiten zu ermöglichen. In seiner Beschlussempfehlung führt der Petitionsausschuss aus, dass Rentenansprüche aus ausländischen Beschäftigungszeiten grundsätzlich nur bei dem Rentenversicherungsträger geltend zu machen sind, zu dem auch die Beiträge entrichtet worden sind, das heißt, in den Herkunftsländern. Eine Anerkennung der in der Sowjetunion zurückgelegten Zeiten nach dem FRG wurde nicht befürwortet. Der Deutsche Bundestag hat auf Empfehlung des Petitionsausschusses am 29. März 2012 beschlossen, die Petition der Bundesregierung – dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales – als Material zu überweisen, soweit es um den Abschluss eines Sozialversicherungsabkommens mit der Russischen Föderation geht, um die Auszahlung russischer Renten an alle Versicherten auch bei ei- 13 Vgl. Fußnote 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 9 nem Wohnsitz in Deutschland zu erreichen und die Petitionsverfahren im Übrigen abzuschließen .14 6. Argumente gegen eine Ausweitung des Fremdrentenrechts durch Gleichstellung jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion mit Spätaussiedlern Hintergrund der Einbeziehung von Spätaussiedlern in den berechtigten Personenkreis des FRG ist die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, die in der Regel für den Personenkreis der jüdischen Zuwanderer zu verneinen ist. Auch für ebenfalls nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehörende Ehegatten von Spätaussiedlern ist die Anerkennung von in den Herkunftsländern zurückgelegten Zeiten für die deutsche Rente nicht möglich. Eine Ausnahme vom Prinzip der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis würde möglicherweise Begehrlichkeiten anderer Einwanderergruppen wecken, für die je nach Lebensalter zum Zeitpunkt des Zuzugs hinsichtlich ihrer Alterssicherung dieselben Einschränkungen mit verhältnismäßig niedrigen Altersrenten bestehen. So stellt sich die Frage nach der Alterssicherung anderer Kontingentflüchtlinge wie zum Beispiel bei den vietnamesischen Bootsflüchtlingen, die ebenfalls nach dem HumHAG Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland gefunden haben. Unbestritten besteht eine historische Verantwortung Deutschlands für den Holocaust, aus der eine besondere Beziehung und Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel und den Juden in aller Welt erwächst. Eine Anerkennung der in der Sowjetunion zurückgelegten Zeiten nach dem FRG käme aufgrund der besonderen deutschen Verantwortung nur gegenüber Juden, nicht aber deren Familienangehörige, die ebenso betroffen sind, in Betracht. Nur durch einen hohen bürokratischen Verwaltungsaufwand wäre in jedem Einzelfall die Zugehörigkeit zum Judentum zu prüfen. Auch wenn die demographische Struktur der jüdischen Zuwanderer mit der von Spätaussiedlern vergleichbar ist und eine gleichmäßige Verteilung auf alle Altersgruppen aufweist15 - und dies in der umlagefinanzierten Rentenversicherung nach dem Generationenvertrag dazu führt, dass daraus langfristig keine Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft folgen dürfte - würde die Ausweitung des nach dem FRG berechtigten Personenkreises zumindest kurzfristig zu höheren Rentenausgaben führen. Die Finanzierung zusätzlicher versicherungsfremder, nicht beitragsgedeckter Leistungen wäre den Beitragszahlern aufzubürden und die Bemühungen, den Beitragssatzanstieg zu dämpfen, wären konterkariert. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Anerkennung der in der Sowjetunion zurückgelegten Zeiten nach dem FRG dürfte nicht bestehen. In seiner Entscheidung vom 13. Juni 2006 über die Verfassungsmäßigkeit der Absenkung der auf dem FRG beruhenden Rente für Aussiedler und Spätaussiedler auf 60 % und der Begrenzung auf eine Rente, die sich aufgrund einer durchschnittlichen Beitragszahlung für 25 Jahre ergibt, führt das Bundesverfassungsgericht unter anderem aus:16 14 Bundestags-Drucksache 17/9178. 15 Sonja Haug und Michael Wolf „Jüdische Zuwanderung nach Deutschland“, in: Materialien zur Bevölkerungswissenschaft , Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, 2006, Heft 118, S. 68. 16 Az. 1 Bvl 9/00. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 10 „Soweit die nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten Beiträge zur Rentenversicherung in den Herkunftsländern gezahlt haben, sind diese Beiträge nicht den Versicherungsträgern der Bundesrepublik Deutschland zugeflossen, deren gesetzliche Aufgabe es ist, die Rentenleistungen an die nicht mehr erwerbstätige Generation zu finanzieren. Die für den Eigentumsschutz erforderliche Eigenleistung kann auch nicht in der von den Berechtigten in deren Herkunftsländern persönlich geleisteten Arbeit bestehen, da die Arbeitsleistung in einem anderen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem als dem der Bundesrepublik Deutschland erbracht wurde. Sie ist Wertschöpfung, die nicht innerhalb der zur Leistung verpflichteten Solidargemeinschaft erfolgt und ihr auch nicht zugute gekommen ist. Es ist im Übrigen auch nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Gewährung von Rechtsansprüchen auf der Grundlage seiner Entscheidung für das rentenversicherungsrechtliche Eingliederungsprinzip Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG begründen wollte.“ Die Anerkennung der in der Sowjetunion zurückgelegten Zeiten für jüdische Zuwanderer ist auch aus politischen Gründen nicht unbedingt zielführend, denn den Betroffenen wäre gegebenenfalls nicht immer geholfen. Aufgrund der auch für Spätaussiedler erfolgten Leistungseinschränkungen im FRG dürften sich in vielen Fällen auch unter Einbeziehung der Beschäftigungszeiten im Herkunftsgebiet in die deutsche Rentenversicherung weiterhin nur eine Rente unterhalb des Grundsicherungsniveaus ergeben. Durch die Begrenzung der auf das FRG entfallenden Rentenleistung auf einen Höchstwert, der einer Rente aufgrund einer durchschnittlichen Beitragszahlung für 25 Jahre entspricht - zurzeit 701,75 Euro - wird die aktuelle Höhe des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs einschließlich der Kosten der Unterkunft von geschätzt 686 Euro nur geringfügig überschritten.17 Insoweit würde eine Gleichstellung der jüdischen Zuwanderer mit Spätaussiedlern nur eine Verlagerung von Sozialausgaben auf die Solidargemeinschaft der Rentenversicherten darstellen. Nach den bereits erfolgten Anpassungen des Fremdrentenrechts aufgrund der historischen Umwälzungen im östlichen Mittel- und Osteuropa handelt es sich bei der Eingliederung von zugezogenen deutschstämmigen Versicherten durch die Berücksichtigung im Herkunftsgebiet zurückgelegter rentenrechtlicher Zeiten in die deutsche Rentenversicherung um ein Auslaufmodell. Fast sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wäre eine Ausweitung von Ansprüchen nach dem FRG nicht mehr zeitgemäß. Außerhalb des Fremdrentenrechts kommt die Berücksichtigung von im Ausland zurückgelegten Beschäftigungszeiten hinsichtlich des Erwerbs von Rentenansprüchen nur über Sozialversicherungsabkommen in Betracht. 17 Vgl. „Grundsicherungsbedarf und durchschnittliche Höhe der Zugangsrenten“ in: Sozialpolitik-aktuell, Universität Duisburg-Essen, abrufbar im Internet unter http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitikaktuell /_Politikfelder/Alter-Rente/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVIII91.pdf (zuletzt abgerufen am 1. August 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-109/12 Seite 11 7. Verhandlungen zu einem deutsch-russischen und zu einem deutsch-ukrainischen Sozialversicherungsabkommen Für diejenigen jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion, die aus ihren Herkunftsgebieten keine Rentenzahlungen aus den zurückgelegten Beschäftigungszeiten aufgrund der dortigen Auslandsrentenregelungen nach Deutschland erhalten können, würde der Abschluss von Sozialversicherungsabkommen , die einen unbeschränkten Leistungsexport vorsehen, eine Verbesserung bedeuten. Die seit Jahren geführten Verhandlungen mit der Russischen Föderation und der Ukraine über den Abschluss von Sozialversicherungsabkommen sind jedoch nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund ins Stocken geraten, so dass in näherer Zeit nicht mit einer günstigeren Situation der jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion zu rechnen ist. Damit teilen sie hinsichtlich ihrer Alterssicherung weiterhin die Lage anderer Einwanderer aus Staaten, mit denen kein Sozialversicherungsabkommen besteht. 8. Keine über die Grundsicherung im Alter hinausgehenden Sozialleistungen Hauptziel der im Jahre 2003 eingeführten Grundsicherung im Alter war die Bekämpfung verschämter Altersarmut. Älteren Menschen sollte ein möglicher Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder erspart bleiben. Deshalb steht einem Anspruch auf Grundsicherung im Alter nur entgegen, wenn unterhaltsverpflichtete Kinder ein Jahreseinkommen über 100.000 Euro haben.18 Zum berechtigten Personenkreis der Grundsicherung im Alter zählen in erster Linie Ältere, die keine oder nur geringe Einkünfte beziehen. Dabei kommt es nicht auf den Grund der fehlenden oder geringen Alterseinkünfte an. Die jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion gehören insoweit zu einer der Zielgruppen, für die die Grundsicherung im Alter eingeführt wurde. Aus Gründen der Gleichbehandlung mit anderen Personengruppen scheint es problematisch, jüdischen Zuwanderern Sozialleistungen, die über die Grundsicherung im Alter hinausgehen, zukommen zu lassen. Als Begründung hierfür könnte lediglich die besondere historische Verantwortung Deutschlands dienen. 18 Übersicht über das Sozialrecht, 9 Auflage 2012, Herausgeber: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung , Seite 761, Rd. 231 ff.