© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 107/20 Sozialversicherungsrechtliche Aspekte bei Erwerbstätigkeit im Ausland Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 2 Sozialversicherungsrechtliche Aspekte bei Erwerbstätigkeit im Ausland Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 107/20 Abschluss der Arbeit: 5. Januar 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Deutsches Sozialversicherungsrecht 4 2.1. Persönlicher und räumlicher Geltungsbereich, § 3 SGB IV 4 2.2. Aus- und Einstrahlung, § 4 und § 5 SGB IV 5 2.3. Vorbehalt abweichender Regelungen, § 6 SGB IV 6 3. Europäisches Sekundärrecht 7 3.1. Grundsatz der Maßgeblichkeit des Beschäftigungsortes 8 3.2. Sonderregelung bei Entsendungen 8 3.3. Sonderregelung bei Tätigkeitsausübung in mehreren Mitgliedstaaten 9 3.4. Ausnahmevereinbarung der Mitgliedstaaten 10 4. Internationale Sozialversicherungsabkommen 11 5. Zusammenfassung 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 4 1. Einleitung Der Fachbereich ist um Auskunft ersucht worden, wie sich die Rechtslage im Sozialversicherungsrecht für Arbeitnehmer1 bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Bezug darstellt. Dies ist beispielsweise in solchen Fällen von Relevanz, in denen ein Arbeitnehmer zwar im Inland beschäftigt ist, seine Tätigkeit jedoch im Ausland mobil verrichtet oder sich zum Zwecke der Tätigkeitsverrichtung zwischen verschiedenen Staaten bewegt. Hier stellt sich die Frage nach dem einschlägigen nationalen Sozialversicherungsrecht. Die Bestimmung der anzuwendenden nationalen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften bemisst sich hierbei, wie dies auch im internationalen Privatrecht der Fall ist, nach Kollisionsnormen .2 Solche finden sich im nationalen Recht, europäischem Sekundärrecht sowie in internationalen Sozialversicherungsabkommen. Entscheidende Bedeutung für die Ermittlung der anzuwendenden Rechtsvorschriften hat mithin die Zugehörigkeit der entsprechenden Länder zur Europäischen Union, zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder deren Einordnung als Drittstaaten. Gegenstand dieses Sachstandes ist eine Übersicht über die einschlägigen Kollisionsnormen, wobei sich die Darstellung der nationalen Rechtsvorschriften auf das deutsche Sozialversicherungsrecht beschränkt. 2. Deutsches Sozialversicherungsrecht Die §§ 3 bis 5 des Sozialgesetzbuches des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV) legen als einseitige Kollisionsnormen fest, unter welchen Voraussetzungen eine Person, die hinsichtlich der für die Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung relevanten Kriterien zum Kreis der versicherten Personen fallen kann, unter den Schutz der deutschen Sozialversicherung fällt.3 Diese Vorschriften ergänzen die allgemeine Regelung des § 30 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I).4 2.1. Persönlicher und räumlicher Geltungsbereich, § 3 SGB IV Gemäß § 3 SGB IV ist Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung in der deutschen Sozialversicherung grundsätzlich der Ort der Beschäftigung oder der selbständigen Tätigkeit im Geltungsbereich des SGB. Ist eine solche für die Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung keine Voraussetzung, ist auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen 1 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein. 2 Brors in: Schüren/Hamann, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 5. Auflage 2018, Einleitung, Rn. 679. 3 Hänlein in: Knickkrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, SGB IV, §§ 1- 6, Rn. 16. 4 § 30 Abs. 1 SGB I: „Die Vorschriften dieses Gesetzbuches gelten für alle Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben.“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 5 Aufenthalt abzustellen.5 Der Geltungsbereich des SGB erstreckt sich gemäß dem Territorialitätsprinzip auf das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland.6 Die Staatsangehörigkeit der jeweiligen Person ist für die Anwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechts dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift nach ohne Belang. Ob eine Beschäftigung im Sinne des § 3 SGB IV vorliegt, bemisst sich nach § 7 SGB IV. Gemäß § 7 Abs. 1 SGB IV bedeutet Beschäftigung die nicht nichtselbständige Arbeit, für deren Vorliegen eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers Anhaltspunkte sind.7 Der Ort der Beschäftigung ist in § 9 SGB IV legal definiert. Hiernach ist als Beschäftigungsort grundsätzlich derjenige Ort anzusehen, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird.8 Das Abstellen auf die tatsächliche Beschäftigung eröffnet eine faktische Betrachtungsweise hinsichtlich der Bestimmung des Beschäftigungsortes. Diese Bestimmung kann jedoch nur dann erfolgen, wenn die Beschäftigung im Geltungsbereich des SGB vorliegt, das heißt also das Territorialitätsprinzip Anwendung findet.9 Für selbständige Tätigkeiten definiert § 11 SGB IV den Tätigkeitsort als den Ort, an welchem eine feste Arbeitsstelle besteht oder, wenn eine solche nicht vorhanden ist, den Wohnsitz beziehungsweise gewöhnliche Aufenthalt der betroffenen Person.10 2.2. Aus- und Einstrahlung, § 4 und § 5 SGB IV In Abweichung vom Grundsatz der Maßgeblichkeit des Beschäftigungsortes legt § 4 SGB IV die Anwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechts für Personen fest, welche Ihre Beschäftigung im Rahmen eines im Inland bestehenden Beschäftigungsverhältnisses aufgrund einer Ent- 5 § 3 SGB IV: „Die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung gelten, 1. soweit sie eine Beschäftigung oder Tätigkeit voraussetzen, für alle Personen die im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches beschäftigt oder selbstständig tätig sind, 2. soweit sie eine Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit nicht voraussetzen für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.“. 6 Wagner in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 58. Edition 2020, SGB IV, § 3, Rn 6. 7 § 7 Abs. 1 SGB IV: „Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.“. 8 § 9 Abs. 1 SGB IV: „Beschäftigungsort ist der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird.“. 9 Grimmke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Auflage, Stand 1. März 2016, § 9 SGB IV Rn. 9. 10 § 11 SGB IV: „(1) Die Vorschriften über den Beschäftigungsort gelten für selbständige Tätigkeiten entsprechend, soweit sich nicht aus Absatz 2 Abweichendes ergibt. (2) Ist eine feste Arbeitsstätte nicht vorhanden und wird die selbständige Tätigkeit an verschiedenen Orten ausgeübt , gilt als Tätigkeitsort der Ort des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts.“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 6 sendung im Ausland zeitlich begrenzt ausüben. Dies gilt entsprechend für selbständige Tätigkeiten .11 Eine Entsendung liegt vor, wenn sich ein Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers ins Ausland begibt, um dort seine Beschäftigung auszuüben, wobei hierbei als Beschäftigung jegliche leitende oder ausführende, geistige oder körperliche und kurz- oder langfristige Tätigkeit in Betracht kommt.12 Entscheidend ist, dass das Beschäftigungsverhältnis im Inland fortbesteht.13 Hierfür ist erforderlich, dass der entsandte Arbeitnehmer in die Betriebsorganisation des inländischen Arbeitgebers eingegliedert bleibt, wesentliche Elemente eines Beschäftigungsverhältnisses wie etwa die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers fortbestehen und dass sich der Vergütungsanspruch gegen den im Inland ansässigen Arbeitgeber richtet.14 Für den spiegelbildlichen Fall, dass eine Beschäftigung in Deutschland aufgrund einer vorübergehenden Entsendung aus dem Ausland ausgeübt wird, finden die Vorschriften des deutschen Sozialversicherungsrechts gemäß § 5 Abs. 1 SGB IV keine Anwendung. Entsprechendes gilt nach § 5 Abs. 2 SGB IV für Personen, die eine selbständige Tätigkeit in Deutschland ausüben, deren Tätigkeitsschwerpunkt im Ausland liegt.15 Hintergrund ist, dass auf das für die betroffenen Personen bereits anwendbare ausländische Sicherungssystem nach Deutschland „einstrahlt“.16 2.3. Vorbehalt abweichender Regelungen, § 6 SGB IV Gemäß § 6 SGB IV findet über- und zwischenstaatliches Recht unbeschadet der Regelungen im SGB Anwendung.17 Mit überstaatlichem Recht sind die einschlägigen Regelungen des Unions- 11 § 4 SGB IV: „(1) Soweit die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung eine Beschäftigung voraussetzen, gelten sie auch für Personen, die im Rahmen eines im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in ein Gebiet außerhalb dieses Geltungsbereichs entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist. (2) Für Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausüben, gilt Absatz 1 entsprechend.“. 12 Dietrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Auflage, Stand 24. August 2020, § 4 Rn. 43. 13 Hänlein in: Knickkrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, SGB IV, §§ 1- 6, Rn. 20. 14 Hänlein in: Knickkrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, SGB IV, §§ 1- 6, Rn. 21, mit Verweisen zur Rechtsprechung. 15 § 5 SGB IV: „(1) Soweit die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung eine Beschäftigung voraussetzen, gelten sie nicht für Personen, die im Rahmen eines außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzbuchs bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in diesen Geltungsbereich entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist. (2) Für Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausüben, gilt Absatz 1 entsprechend.“. 16 Hänlein in: Knickkrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, SGB IV, §§ 1- 6, Rn. 27. 17 § 6 SGB IV: „Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt.“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 7 rechts gemeint, insbesondere die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit 18, während es sich bei zwischenstaatlichem Recht um bi- oder multilaterale Sozialversicherungsabkommen handelt, die durch Zustimmungsgesetze gemäß Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz (GG) in das deutsche Recht inkorporiert sind.19 Der in § 6 SGB IV statuierte Anwendungsvorrang ist vor allem für die völkerrechtlichen Verträge von Bedeutung, da ihnen durch die Zustimmungsgesetze im Sinne von Art. 59 Abs. 2 GG (einfacher ) Gesetzesrang zukommt20 und eine vorrangige Anwendung nicht ohne weiteres angenommen werden kann.21 Der Anwendungsvorrang der europarechtlichen Vorschriften ergibt sich hingegen bereits aus dem Unionsrecht selbst.22 Die unionsrechtlichen Regelungen und die Vorschriften der zwischenstaatlichen Abkommen verdrängen die §§ 3-5 SGB IV, so dass diese nur noch Anwendung für Staaten finden, die weder Mitglied der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums noch Vertragspartei eines Sozialversicherungsabkommens sind. 3. Europäisches Sekundärrecht Unionsrechtliche Kollisionsnormen sind in der VO (EG) 883/2004 enthalten. Diese sollen sicherstellen , dass auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt nur ein nationales Sozialversicherungsrecht anzuwenden ist, damit Komplikationen, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben, vermieden und Ungleichbehandlungen ausgeschlossen werden.23 Schutzgut der Regelung ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU und der Staaten, auf welche die VO (EG) 883/2004 Anwendung findet.24 Die Verordnung beansprucht gemäß Art. 288 Abs. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unmittelbare Geltung in allen Mitgliedstaaten, ohne dass sie eines nationa- 18 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri- Serv.do?uri=OJ:L:2004:166:0001:0123:de:PDF (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021), von hieran: VO (EG) 883/2004. 19 Hänlein in: Knickkrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, SGB IV, §§ 1- 6, Rn. 28. 20 Nettesheim in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 91. Ergänzungslieferung April 2020, Art. 59 Rn. 97. 21 Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Auflage Stand 30. November 2020, § 6 SGB IV Rn. 7. 22 Vgl. Streinz in: EUV/AEUV 3. Auflage 2018, Art. 4 EUV Rn. 35ff. 23 Schreiber in: Kassler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 111. Ergänzungslieferung September 2020, VO (EG) 883/2004 Art. 11 Rn, 2. 24 Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Auflage Stand 30. November 2020, § 6 SGB IV Rn. 31. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 8 len Umsetzungsaktes bedarf. Durch Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses sind die Regelungen der VO (EG) 883/2004 im Recht des EWR anwendbar.25 Für die Schweiz gelten durch den geänderten Verweis auf die VO (EG) 883/2004 im Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union weitestgehend die gleichen Vorschriften.26 3.1. Grundsatz der Maßgeblichkeit des Beschäftigungsortes Vorschriften bezüglich des anwendbaren Rechts bei grenzüberschreitenden Sachverhalten finden sich in den Art. 11 ff. VO (EG) 883/2004. Grundsätzlich ist für den gleichen Zeitraum nur ein nationales Recht anwendbar, Art. 11 Abs. 1 S. 1 VO (EG) 883/2004.27 Art. 11 Absatz 3 VO (EG) 883/2004 sieht vor, dass das Recht desjenigen Mitgliedstaates Anwendung findet, in dem die betroffene Person ihre Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausübt.28 Insoweit entspricht die Vorschrift dem in § 3 SGB IV festgelegten Beschäftigungslandprinzip. Als Beschäftigung gilt nach Art. 1 lit. a VO (EG) 883/2004 „jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt“. Für die Anwendbarkeit des Art. 11 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 ist es ohne Belang, ob die Tätigkeit, aufgrund derer die Zuordnung zu den Sozialversicherungsvorschriften eines Mitgliedstaates erfolgt , in Teilzeit oder als Gelegenheitsarbeit ausgeübt wird. Die Zuordnung erfolgt einheitlich und solange, wie das Beschäftigungsverhältnis Bestand hat.29 3.2. Sonderregelung bei Entsendungen Ähnlich wie § 4 SGB IV sieht Art. 12 VO (EG) 883/2004 eine Sonderregelung für entsandte Arbeitnehmer vor. Hiernach gilt für den Fall, dass ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat entsendet, das Sozialversicherungsrecht des Entsendestaates für eine 25 Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 76/2011 vom 1. Juli 2011 zur Änderung von Anhang VI (Soziale Sicherheit) und von Protokoll 37 zum EWR-Abkommen, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.L_.2011.262.01.0033.01.DEU (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021). 26 Beschluss Nr.1/2012 des Gemischten Ausschusses eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 31. März 2012, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:22012D0195&from=HR (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021). 27 Art 11 Abs. 1 VO (EG) 883/2004: „(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.“. 28 Art.11 Abs. 3 lit. a VO (EG) 883/2004: „(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes: a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;“. 29 Leopold: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 58. Edition 2020, VO (EG) 883/2004, Art 11 Rn. 28a. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 9 Dauer von zwei Jahren weiter. Für Selbständige gilt dies entsprechend, wenn sie sich eine vorübergehende Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat begeben.30 Hinsichtlich der Arbeitnehmerentsendung schreibt Art. 12 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 vor, dass der Arbeitgeber im Entsendestaat für gewöhnlich tätig ist. Dies bedeutet, dass er dort eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt, wobei lediglich interne Verwaltungstätigkeiten hierfür nicht ausreichen.31 Für den Nachweis, dass auf die betreffende Person das Recht des Entsendestaates Anwendung findet, stellt die zuständige Behörde eine Entsendebescheinigung gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/200432 aus. Dieser Entsendebescheinigung (auch Dokument A1) kommt eine umfassende Bindungswirkung in tatsächlicher (Voraussetzungen für die Entsendung) wie rechtlicher Hinsicht (anzuwendendes Recht) zu, welche sich sowohl auf die Behörden der Sozialverwaltung als auch auf die Gerichte erstreckt.33 3.3. Sonderregelung bei Tätigkeitsausübung in mehreren Mitgliedstaaten Art. 13 VO (EG) 883/2004 betrifft schließlich Fälle der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten. Gemäß Art. 13 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 findet entweder das Recht des Wohnmitgliedstaates des Beschäftigten Anwendung, in welchem ein wesentlicher Teil der Tätigkeit ausgeübt wird oder es kommt, wenn es an der Ausübung eines wesentlichen Teils der Tätigkeit im Wohnmitgliedstaat fehlt, das Recht des Sitzstaates des Arbeitgebers zur 30 Art. 12 VO (EG) 883/2004: „(1) Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst. (2) Eine Person, die gewöhnlich in einem Mitgliedstaat eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und die eine ähnliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Tätigkeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet .“. 31 Praktischer Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz, Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit , Dezember 2013, S. 8. 32 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, von hieran: VO (EG) 987/2009, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009R0987&from=de (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021); Art. 19 Abs. 2 VO (EG) 987/2009: „(2) Auf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers bescheinigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung anzuwenden sind, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind.“. 33 Schreiber in: Kassler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 111. Ergänzungslieferung September 2020, VO (EG) 883/2004 Art. 12 Rn, 28. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 10 Anwendung.34 Was unter einem wesentlichen Teil der Beschäftigung zu verstehen ist, definiert Art. 14 Abs. 8 lit. a VO (EG) 987/2009. Hiernach ist es für die Wesentlichkeit erforderlich, dass der Arbeitnehmer einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausübt , wobei dies nicht zwingend der größte Teil sein muss. Als Orientierungskriterien können die Arbeitszeit und das Arbeitsentgelt dienen. Ergibt die Gesamtbewertung einen Beschäftigungsanteil von weniger als 25 Prozent in diesem Mitgliedstaat ist dies ein Anzeichen für eine unwesentliche Beschäftigung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 lit. a VO (EG) 987/2009.35 Bei zwei oder mehreren Arbeitgebern mit Sitz oder Wohnsitz in zwei Mitgliedstaaten, von denen einer der Wohnmitgliedstaat ist, findet das Recht des Mitgliedstaates Anwendung, in dem das Unternehmen oder Arbeitgeber außerhalb des Wohnmitgliedstaates seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Ist die betroffene Person bei zwei oder mehr Unternehmen oder Arbeitgebern beschäftigt, von denen mindestens zwei ihren Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten außerhalb des Wohnmitgliedstaates haben, so findet das Recht des Wohnmitgliedstaates Anwendung. 3.4. Ausnahmevereinbarung der Mitgliedstaaten Gemäß Art. 16 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 ist es den Mitgliedstaaten sowie deren Behörden und Einrichtungen erlaubt von den Regelungen der Art. 11 – 15 VO (EG) 883/2004 abweichende Ausnahmevereinbarungen zugunsten bestimmter Personen und Personengruppen zu treffen.36 Inhalt solcher Ausnahmevereinbarungen sind häufig die Verlängerung von Entsendefristen oder die Fortgeltung der Rechtsvorschriften des bisher zuständigen Mitgliedstaates in Versetzungsfällen.37 34 Art. 13 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 : „(1) Eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, unterliegt a) den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt oder wenn sie bei mehreren Unternehmen oder Arbeitgebern beschäftigt ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten haben, oder b) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie keinen wesentlichen Teilihrer Tätigkeiten in dem Wohnmitgliedstaat ausübt.“. 35 Art. 14 Abs. 8 lit. a VO (EG) 987/2009: „(8) Bei der Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung bedeutet die Ausübung „eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit “ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss. Um festzustellen , ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden folgende Orientierungskriterien herangezogen: a) im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt und b) im Falle einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und/oder das Einkommen. Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.“. 36 Art. 16 Abs. 1 VO (EG) 883/2004: „(1) Zwei oder mehr Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Mitgliedstaaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Einrichtungen können im gemeinsamen Einvernehmen Ausnahmen von den Artikeln 11 bis 15 im Interesse bestimmter Personen oder Personengruppen vorsehen.“ 37 Wolf in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 58. Edition 2020, VO (EG) 883/2004, Art 16 Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 107/20 Seite 11 Hinsichtlich möglicher Vereinbarungen nach Art. 16 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 kommt den Mitgliedstaaten jedenfalls ein weiter Ermessensspielraum zu, der jedoch durch das Erfordernis begrenzt ist, dass die Regelungen im Interesse der von der unionsrechtlich gewährleisteten Freizügigkeit Gebrauch machenden Personen getroffenen werden.38 Aufgrund der aktuellen durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelösten Pandemie hat die Kommission die Mitgliedstaaten im Wege einer Leitlinie dazu angeregt, von der Möglichkeit zum Abschluss von Ausnahmevereinbarungen gemäß Artikel 16 VO (EG) 883/2004 Gebrauch zu machen, um das Bestehenbleiben des Sozialversicherungsschutzes insbesondere bei Grenzgängern und entsandten Arbeitnehmern bei einer Änderung des Beschäftigungsmitgliedstaates zu gewährleisten .39 4. Internationale Sozialversicherungsabkommen Außerhalb der unionsrechtlichen Vorschriften finden sich Regelungen hinsichtlich des anwendbaren Rechts bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, bei denen die betroffenen Länder weder Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch des EWR sind, in internationalen Sozialversicherungsabkommen . Eine Übersicht über die bilateralen Sozialversicherungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Staaten außerhalb der EU, des EWR und der Schweiz finden sich im Internetauftritt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), unter: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/zweiseitige-abkommen.pdf;jsessionid =452D9DE8CF1F37EE394A35EAC9F77F43.delivery1-replication?__blob=publication- File&v=1 (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021). 5. Zusammenfassung Aufgrund des in § 6 SGB IV zum Ausdruck kommenden Anwendungsvorrangs zwischen- und überstaatlichen Rechts ergeben sich drei Ebenen des Kollisionsrechts: innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestehen supranationale, dem nationalen Recht vorgehende Kollisionsnormen , die weitestgehend auch in den Staaten des EWR und der Schweiz gelten. Diese sind in der VO (EG) 833/2004 normiert. Betrifft der Sachverhalt einen Staat außerhalb der Union beziehungsweise des EWR ist auf ein etwaiges Sozialversicherungsabkommen abzustellen. Ist ein solches nicht vorhanden, so richtet sich die Bestimmung des anwendbaren Sozialversicherungsrechts nach nationalen Vorschriften, in Deutschland mithin den §§ 3-5 SGB IV.40 *** 38 Wolf in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 58. Edition 2020, VO (EG) 883/2004, Art. 16 Rn. 5. 39 Mitteilung der Kommission, Leitlinien zur Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte während des COVID- 19-Ausbruchs, ABl. C 102 vom 30. März 2020, S. 12, 14, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:2020:102I:FULL&from=DE (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2021). 40 Vgl. Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Auflage Stand 30. November 2020, § 6 SGB IV Rn. 11.