© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 106/20 Alterssicherung in den Niederlanden Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 2 Alterssicherung in den Niederlanden Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 106/20 Abschluss der Arbeit: 22. Januar 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Beitragsfinanzierte Grundrente als Existenzminimum 4 2. Betriebliche Altersversorgung zur Sicherung des Lebensstandards 5 3. Nur begrenzte Bedeutung privater Vorsorge 7 4. Aktuelles Sicherungsniveau der Gesamtversorgung angesichts niedriger Zinsentwicklung 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 4 Allgemeines Bei einer Gegenüberstellung der Alterssicherungssysteme der Niederlande und Deutschlands zeigen sich rasch die grundlegenden Unterschiede, die einen Ländervergleich erschweren. Zwar erfolgt die Versorgung der älteren Generation wie in den meisten entwickelten Ländern jeweils über öffentlich-rechtliche Pflichtsysteme, die betriebliche Altersversorgung und individuelle Vorsorge, jedoch stellt sich die jeweilige Ausprägung dieser Sicherungssysteme in den Niederlanden grundlegend anders dar, als in Deutschland. Mit der Algemene Ouderdomswet (AOW) besteht zur Mindestsicherung eine beitragsfinanzierte Grundrente, die jedem Einwohner im Alter unabhängig von der tatsächlichen Beitragszahlung und ohne Bedürftigkeitsprüfung zusteht. Die Höhe der Grundrente ist abhängig von der Dauer des Wohnsitzes in den Niederlanden und kann bei Bedarf von der steuerfinanzierten Sozialhilfe ergänzt werden. Der Sicherung des Lebensstandards dienen die über Allgemeinverbindlichkeitserklärungen fast alle Beschäftigte betreffende betriebliche Altersversorgung sowie die private Vorsorge und Vermögensbildung. Während die AOW über eine Umlage der Steuerpflichtigen finanziert wird, sind die Leistungen der betrieblichen und privaten Altersversorgung kapitalgedeckt . In den Niederlanden werden die drei Säulen der Alterssicherung häufig als Cappuccino-Modell bezeichnet. Dabei stellt die Grundrente der AOW den Kaffee, die Betriebsrente die Sahne und die private Vorsorge den Kakao dar.1 1. Beitragsfinanzierte Grundrente als Existenzminimum2 Aus der AOW werden lediglich Altersrenten und in begrenztem Maße Hinterbliebenenrenten geleistet . Weitere biometrische Risiken, wie das der Erwerbsminderung, werden durch eigenständige Systeme abgesichert. Ein Anspruch auf Altersrente besteht ab Erreichen der Altersgrenze bereits für Versicherte, die mindestens ein Jahr in den Niederlanden gelebt oder gearbeitet haben. Die Altersgrenze für eine AOW-Rente wird seit 2013 schrittweise von 65 auf aktuell 66 Jahre und vier Monate angehoben. Die Fortschreibung der Altersgrenze ist an die voraussichtliche Lebens- 1 Vgl. u.a. Bäcker, Gerhard und Kistler, Ernst. Länderbeispiele: Niederlande, Großbritannien, Schweiz und Österreich , in: Dossier Rentenpolitik, Bundeszentrale für politische Bildung, 2020, abrufbar im Internet unter https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/292889/laenderbeispiele, zuletzt abgerufen am 19. Januar 2021. 2 Informationen über die AOW der Sociale Verzekeringsbank (SVB), abrufbar im Internet unter https://www.svb.nl/en/aow-pension/aow-pension-in-brief, sowie der Broschüre der Deutschen Rentenversicherung "Meine Zeit in den Niederlanden – Arbeit und Rente europaweit", abrufbar im Internet unter https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/international/europaeische _vereinbarungen/meine_zeit_niederlande.pdf, zuletzt abgerufen am 19. Januar 2021. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 5 erwartung gebunden und soll jeweils im Januar für fünf Jahre im Voraus festgelegt werden. Angesichts dessen wird das Renteneintrittsalter in den Niederlanden im Jahr 2067 voraussichtlich 71 Jahre erreichen.3 Ein vorzeitiger Bezug einer Altersrente aus der AOW ist nicht vorgesehen. Die Höhe der Altersrente ist abhängig von der Anzahl der Versicherungsjahre in der AOW, der Höhe des in den Niederlanden gesetzlich festgelegten Mindestlohns bei einer Vollzeitbeschäftigung und der Wohnsituation als alleinstehender oder in einer Haushaltsgemeinschaft lebender Person. Die Anzahl der Versicherungsjahre ergibt sich bereits aus dem gewöhnlichen Wohnsitz in den Niederlanden. Bei ununterbrochener Versicherungsdauer von 50 Jahren besteht Anspruch auf die volle Altersrente. Für jedes nicht versicherte Jahr mindert sich der Anspruch um zwei Prozent. Für Alleinstehende sind als volle Altersrente 70 Prozent des Nettomindestlohns zu zahlen. Die AOW-Grundrente beträgt für Alleinstehende ab Januar 2021 unter Berücksichtigung reduzierter Einkommenssteuer und Sozialversicherungsbeiträge einheitlich monatlich 1.218,19 Euro. Verheiratete oder mit einem Partner in einem gemeinsamen Haushalt Lebende erhalten als volle Altersrente jeweils 50 Prozent des Nettomindestlohns. Ab Januar 2021 beträgt die AOW-Grundrente für Verheiratete oder mit einem Partner in einem gemeinsamen Haushalt Lebende unter Berücksichtigung reduzierter Einkommenssteuer und Sozialversicherungsbeiträge monatlich 832,86 Euro. Mit der Altersrente aus der AOW soll das Existenzminimum im Alter sichergestellt werden.4 Die Finanzierung erfolgt im Umlageverfahren durch Abgaben, die auf alle steuerpflichtigen Einkommen bis zur Höchstgrenze von aktuell 35.130 Euro in Höhe von 17,9 Prozent erhoben werden . Arbeitgeber werden an der beitragsfinanzierten Grundrente insoweit nicht beteiligt. Nicht Erwerbstätige und Personen, die Einkommen unterhalb eines steuerlichen Grundfreibetrages erzielen , sind beitragsfrei versichert. 2. Betriebliche Altersversorgung zur Sicherung des Lebensstandards5 Während sich die AOW auf die gesamte Wohnbevölkerung in den Niederlanden bezieht, sind von der betrieblichen Altersversorgung allein Beschäftigte erfasst. Die nähere Ausgestaltung 3 Pensions at a Glance 2019 - How does the Netherlands compare?, Country Specific Findings, OECD, 2019, abrufbar im Internet unter https://www.oecd.org/netherlands/PAG2019-NLD.pdf, zuletzt abgerufen am 19. Januar 2021. 4 Die aktuellen Beträge sind dem Onlineangebot des Sozialversicherungsträgers für die niederländischen Volksversicherungen , Sociale Verzekeringsbank (SVB) entnommen, abrufbar im Internet unter https://www.svb.nl/nl/aow/nieuws/nieuwe-aow-bedragen-vanaf-januari-2021, zuletzt abgerufen am 22. Januar 2021. 5 Dieser Abschnitt beruht im Wesentlichen auf: Anderson, Karen M. Anpassung der Alterssicherungssysteme an das veränderte Marktumfeld – ein internationaler Vergleich am Beispiel der Staaten Schweden, Niederlande und Dänemark, in: Deutsche Rentenversicherung, 4/2017, S. 440 ff.; Ballendowitsch, Jens. Die Gestaltung und Entwicklungstendenzen der Alterssicherung im öffentlichen Dienst der Niederlande, Working Paper, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Universität Mannheim, 2004; Pimpertz, Jochen. IW-Gutachten – Ein Vergleich ausgewählter Grundrentensysteme in der EU, Institut der Deutschen Wirtschaft im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, 2019, abrufbar im Internet unter https://www.iwkoeln.de/studien/gutachten /beitrag/jochen-pimpertz-was-koennen-wir-fuer-deutschland-lernen.html, zuletzt abgerufen am 22. Januar 2021. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 6 ergibt sich aus den Tarifverhandlungen der Sozialpartner, weil die Betriebsrenten als eine Form des Lohnes betrachtet werden. So bestimmen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter insbesondere die Höhe der Beiträge und der Rentenleistungen selbst, wobei sie aber an gesetzliche Rahmenbedingungen , Solvenzregelungen und dem Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden sind. Für die Finanzierung der Leistungen ist das Kapitaldeckungsverfahren vorgeschrieben. Das angesparte Kapital ist von den Pensionskassen kollektiv und von den Beschäftigungsunternehmen getrennt anzulegen. Direktzusagen, bei denen einzelne Arbeitgeber ihrem Arbeitnehmer als unmittelbare Versorgungszusage aus dem Arbeitsverhältnis eine bestimmte Betriebsrente versprechen, sind nicht vorgesehen. Durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen sind branchentypische tarifvertragliche Vereinbarungen über eine betriebliche Altersversorgung für rund 90 Prozent der Beschäftigten wirksam, sodass zwar keine allgemeine gesetzliche Versicherungspflicht besteht, jedoch nahezu eine flächendeckende Alterssicherung vorliegt, die mit einem über das Existenzminimum der AOW hinausgehenden Obligatorium gleichgesetzt werden kann. Ohne Anwartschaften auf Betriebsrente verbleiben lediglich Beschäftigte in Branchen ohne tarifvertragliche Regelungen und selbstständig Tätige. Die auf die Absicherung des Lebensstandards gerichtete betriebliche Altersversorgung erfolgt in den Niederlanden häufig über Leistungszusagen (defined-benefit), da ein bestimmter Prozentsatz des Einkommens garantiert wird. Das Anlagerisiko wird hier von der Pensionskasse getragen, da die Rentenhöhe unabhängig von den insgesamt gezahlten Beiträgen ermittelt wird. Anders gestaltet sich dies bei den in den Niederlanden weniger bedeutenden beitragsbezogenen (defined contribution ) Systemen, bei denen die Rentenhöhe von den eingezahlten Beiträgen der Versicherten abhängig ist. Hier geht das Anlagerisiko auf die Versicherten über. Nach 40 Jahren Beschäftigung soll nach den meisten beitragsorientierten Vereinbarungen im Alter als Gesamtversorgung aus Grundrente der AOW und Betriebsrente etwa 70 bis 75 Prozent des letzten oder des lebensdurchschnittlichen mittleren Verdienstes gezahlt werden. Hierzu werden in jedem Jahr der Betriebszugehörigkeit 1,75 Prozent der Gesamtversorgung aufgebaut. Die aktuell rund 290 branchenweiten, berufsgruppenspezifischen oder unternehmenseigenen Pensionsfonds werden durch Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert, deren Höhe zwischen 15 und 25 Prozent des Verdienstes beträgt. Davon tragen die Arbeitgeber meist zwei Drittel und die Arbeitnehmer ein Drittel. Für die Pensionsfonds besteht die Vorgabe in Anlagen zu investieren, die in Bezug auf den Zweck der Einrichtung und das Ziel der Sicherheit angemessen sind. Im Jahr 2016 betrug der Kapitalstock aller Pensionskassen in den Niederlanden 1,21 Billionen Euro. In den letzten Dekaden zeichnet sich in der betrieblichen Altersversorgung der Niederlande vor dem Hintergrund der Turbulenzen auf den Finanzmärkten ein allmählicher Übergang von leistungs - zu beitragsorientierten Systemen mit stärkerer staatlicher Regulierung und Aufsicht ab.6 6 Frericks, Patricia. Culture Matters – Die Finanzialisierung der Alterssicherung im Ländervergleich, ZSR 61 (2015), Heft 3, S. 275-277. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 7 Für den Beitragssatz und die Anpassung der Betriebsrenten an die Einkommens- oder Preisentwicklung ist letztlich die Zahlungsfähigkeit der Pensionskassen maßgeblich. Für die Aufsichtsbehörden sind seit dem Jahr 2015 folgende Kriterien maßgebend: Das Verhältnis von Aktiva und Passiva und der durchschnittliche aktuelle Deckungsgrad der letzten zwölf Monate. Werden bestimmte festgelegte Werte unterschritten, sind in einem Sanierungsplan Beitragserhöhungen, Nullrunden, und auch die Kürzung von Anwartschaften und Leistungen vorgesehen.7 3. Nur begrenzte Bedeutung privater Vorsorge Die ebenfalls kapitalfundierte private Vorsorge ist angesichts der für nahezu alle Personen zu zahlenden Grundrente aus der AOW und der weit verbreiteten betrieblichen Altersversorgung weniger von Bedeutung.8 4. Aktuelles Sicherungsniveau der Gesamtversorgung angesichts niedriger Zinsentwicklung9 Das Sicherungsniveau bezeichnet das Verhältnis der Altersbezüge zum letzten Einkommen. Die hierfür unter anderem von der OECD gebräuchliche Nettoersatzrate liegt für einen Durchschnittsverdiener mit voller Berufstätigkeit in den Niederlanden durch die hohe Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung mit 80 Prozent weit über dem OECD-Durchschnitt von 63 Prozent. Dies gilt nicht für Selbständige, da diese, wie in Deutschland, bisher nicht verpflichtet sind einkommensbezogenen Alterssicherungssystemen beizutreten. Für Deutschland ergibt sich eine deutlich niedrigere Nettoersatzrate von 52 Prozent. Allerdings wurde für diese Betrachtung lediglich die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen.10 In den Niederlanden ist die Teilzeitbeschäftigung sehr verbreitet. Dies gilt insbesondere für Frauen, sodass sich wegen der vom Verdienst abhängigen Gesamtversorgung große geschlechtsspezifische Unterschiede in der Alterssicherung ergeben, auch wenn das Armutsrisiko durch die Grundrente gedämpft wird. Der Anteil der über 65-Jährigen mit einem Einkommen von weniger als 50 Prozent des verfügbaren Medianeinkommens ist mit 3,1 Prozent in den Niederlanden sehr niedrig, verglichen mit 13,5 Prozent im OECD-Durchschnitt und 9,6 Prozent in Deutschland. 7 Anderson, Karen M., vgl. Fn. 4. 8 Vgl. Fn. 1. 9 Der Abschnitt beruht im Wesentlichen auf: Pensions at a Glance 2019 - How does the Netherlands compare? Vgl. Fn. 3. 10 Pensions at a Glance 2019, Old-age income poverty, OECD, abrufbar im Internet unter https://www.oecdilibrary .org/sites/fb958d50-en/index.html?itemId=/content/component/fb958d50-en, zuletzt abgerufen am 21. Januar 2021. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 106/20 Seite 8 Bereits die Finanzkrise 2008/2009 hat die Risikobehaftetheit kapitalmarktabhängiger Alterssicherung deutlich gemacht. So haben die Pensionsfonds in den Niederlanden im Jahr 2008 einen Vermögensverlust von 18 Prozent verzeichnet.11 Die seitdem anhaltende Niedrigzinsphase wirkt sich ebenso belastend auf kapitalgedeckte Alterssicherungssysteme aus. Dies hat in den Niederlanden zu einer heftigen Debatte über die Zukunft der betrieblichen Altersversorgung geführt. Gewerkschaften und Arbeitgeber einigten sich im Juni 2019 auf eine Reform des Rentensystems. Die betriebliche Altersversorgung soll bis 2022 überarbeitet werden und der Anteil beitragsorientierter Elemente (Defined Contribution) weiter erhöht werden. Dies wird zur Folge haben, dass die Rentenleistungen in größerem Maße den Renditen folgen. Im Falle einer anhaltenden Unterfinanzierung könnten sogar die Rentenleistungen nominal gekürzt werden, um einen ausgeglichenen Deckungsgrad zu erreichen. *** 11 Bäcker, Gerhard. Kapitalmarktfundierung und Finanzkrise, in: Dossier Rentenpolitik, Bundeszentrale für politische Bildung, 2020, abrufbar im Internet unter https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik /292110/kapitalmarktfundierung-und-finanzkrise, zuletzt abgerufen am 22. Januar 2021.