© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 104/20 Privilegierung langjährig Versicherter mit geringem Einkommen im Grundrentengesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Erforderlichkeit 8 4.3.4. Angemessenheit 8 5. Fazit 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 104/20 Seite 4 1. Einleitung Das Gesetz zur Einführung der Grundrente für langjährige Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung mit unterdurchschnittlichem Einkommen und für weitere Maßnahmen zur Erhöhung der Alterseinkommen (Grundrentengesetz) vom 12. August 20201 sieht vor, dass nur Personen mit einer Zugehörigkeit zu einem verpflichtenden Alterssicherungssystem - wie vor allem der gesetzlichen Rentenversicherung - von mindestens 33 Jahren Vergünstigungen erhalten können . Es stellt sich die Frage, inwieweit mit der Privilegierung der Berechtigten der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Grundgesetz (GG) berührt wird. 2. Die Grundrente als rentenrechtlicher Zuschlag für langjährig Versicherte2 Die gesetzlichen Regelungen zur neuen Grundrente sind zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Dabei handelt es sich nicht um einen pauschalen Betrag, sondern um einen in § 76g des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelten Zuschlag zur gesetzlichen Rente innerhalb der komplexen Rentenberechnung. Voraussetzung zum Erhalt der Grundrente sind mindestens 33 Jahre anrechenbare Grundrentenzeiten. Anrechenbar sind nicht nur Zeiten mit Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit, sondern unter anderem auch Zeiten der Erziehung eines Kindes bis zum zehnten Lebensjahr sowie Zeiten der nicht erwerbsmäßigen Pflege. Nicht anrechenbar sind beispielsweise Zeiten der freiwilligen Versicherung und des Bezugs von Arbeitslosengeld. Die Höhe der Grundrente - im Gesetz als Zuschlag für langjährig Versicherte bezeichnet - ist individuell abhängig von der Anzahl der Grundrentenzeiten und der Höhe der versicherten Verdienste im gesamten Versicherungsleben. Zu den Begünstigten zählen Versicherte, deren Einkommen zwischen 30 und 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes betragen hat. Die Rentenversicherungsträger prüfen einen möglichen Anspruch auf die Grundrente von Amts wegen, eine Antragstellung ist nicht erforderlich. Bei der Überprüfung des Anspruchs bleibt das Vermögen unberücksichtigt. Lediglich das neben der Rente erzielte zu versteuernde Einkommen ist auf die Grundrente anzurechnen. Für Alleinstehende gilt dabei ein dynamischer Freibetrag in Höhe von aktuell 1.250 Euro, für verheiratete Paare in Höhe von aktuell 1.950 Euro. Ein Einkommen über dem jeweiligen Freibetrag wird zu 60 Prozent auf die Grundrente angerechnet. In voller Höhe erfolgt die Anrechnung für Einkommen über aktuell 1.600 Euro für Alleinstehende und über aktuell 2.300 Euro für verheiratete Paare. 3. Zusätzliche Freibeträge in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Reichen im Alter Einkünfte und Vermögen nicht zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts aus, kommt die Zahlung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß 1 BGBl. I 2020 S. 1879. 2 Vgl. Information der Deutschen Rentenversicherung zur Grundrente, abrufbar im Internet unter https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Rente/Grundrente/grundrente_node.html und Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „Die Grundrente kommt“, abrufbar im Internet unter https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a816-die-grundrentekommt .pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt abgerufen am 28. Januar 2021. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 104/20 Seite 5 §§ 41 ff. des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Betracht. Grundsicherung im Alter wird nachrangig als Sozialhilfe gemäß § 8 Nr. 2 SGB XII geleistet. Sozialhilfe erhält, wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält. Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen auf die Grundsicherung im Alter richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der Sozialhilfe und ist in den §§ 82 ff. SGB XII geregelt. Neben dem Zuschlag für langjährig Versicherte in der Rentenberechnung sieht das Grundrentengesetz zusätzliche Freibeträge bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und anderen nachrangigen Sozialleistungen vor. Diese Freibeträge werden gemäß der neu eingeführten Regelung des § 82 a SGB XII berücksichtigt, wenn 33 Jahre Grundrentenzeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung oder entsprechende Zeiten aus anderweitigen Alterssicherungssystemen vorliegen. Hiervon profitieren also nur diejenigen, die mindestens 33 Jahre in gesetzlich verpflichtenden Alterssicherungssystemen versichert waren. Weitere Voraussetzungen für zusätzliche Freibeträge bestehen nicht. Möglicherweise besteht also trotz 33 Jahren Grundrentenzeiten kein Anspruch auf die Grundrente als Zuschlag zur Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung , weil der Rentenberechnung aus den Beitragszahlungen entweder zu geringe oder zu hohe durchschnittliche Einkommen zugrunde lagen. Freibeträge können dennoch in Anspruch genommen werden. Hierbei ist es auch möglich, dass durch die neuen Freibeträge der Anspruch auf die genannten Sozialleistungen erst entsteht. Gegebenenfalls ist eine gesonderte Antragstellung erforderlich . In der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie anderen Fürsorgesystemen ist nach dem Grundrentengesetz ein Freibetrag in Höhe von 100 Euro monatlich aus der gesetzlichen Rente sowie 30 Prozent des diesen Betrag übersteigenden Einkommens aus der gesetzlichen Rente vom Einkommen nach § 82 Abs. 1 SGB XII abzuziehen. Der sich so ergebende Freibetrag ist auf 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 gemäß Anlage zu § 28 SGB XII gedeckelt und beträgt aktuell 223 Euro. In der Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung profitieren hiervon etwa 110.000 Berechtigte. 90 Prozent der Empfänger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung werden von der Grundrente hingegen nicht erreicht.3 4. Ungleichbehandlung durch Grundrente und Freibetragsregelung Die Höhe einer Rente richtet sich nach dem Prinzip der Beitragsäquivalenz vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Erwerbseinkommen. Danach erhalten Versicherte mit einem höheren Einkommen entsprechend höhere Renten, während die Rente für Geringverdiener entsprechend geringer ausfällt. Der Beitragsäquivalenz steht in der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Solidaritätsprinzip ein sozialer Ausgleich gegenüber. So können auch Rentenleistungen erbracht werden, denen keine oder nur geringere Beitragszahlungen zugrunde liegen. Nach den Regelungen des Grundrentengesetzes können Versicherte trotz ungleicher Beitragszahlungen gleich hohe Leistungen im Alter erhalten und andererseits Versicherte trotz gleicher Beitragszahlungen wegen der Grundrente unterschiedlich hohe Leistungen im Alter erhalten. 3 Dünn, Sylvia; Bilgen, Claudia und Heckenberger, Sophie-Charlotte. Das Grundrentengesetz, DRV 3/2020, S. 345. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 104/20 Seite 6 Auch bei höherer Beitragszahlung können Versicherte wegen der Voraussetzungen für die Grundrente niedrigere Leistungen im Alter erhalten als Versicherte mit insgesamt geringerer Beitragszahlung .4 Insoweit können für die Prüfung, ob das Grundrentengesetz in Übereinstimmung mit den grundgesetzlichen Vorgaben zur Gleichbehandlung steht, eine Reihe von Vergleichsgruppen in Betracht kommen. Nachfolgend soll hier auf die Voraussetzung der Mindestzeit von 33 Jahren mit Grundrentenzeiten eingegangen werden. 4.1. Inhalt des Gleichheitssatzes Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Ein Verstoß gegen das Grundrecht liegt jedoch nur vor, wenn die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bzw. die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Neben das früher vom Bundesverfassungsgericht vertretene Willkürverbot ist die sogenannte Neue Formel getreten, nach der das bloße Vorliegen eines sachlichen Grundes nicht zur Rechtfertigung genügt, sondern „Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht [verlangt werden], dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen“.5 Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich damit je nach Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung reichen.6 4.2. Rechtlich relevante Ungleichbehandlung Gemeinsamer Bezugspunkt für die Vergleichsgruppen ist die Zugehörigkeit zu einem gesetzlich verpflichtenden Alterssicherungssystem. Zur ersten Vergleichsgruppe gehören Personen mit 33 oder mehr Jahren Grundrentenzeiten, die einen Zuschlag zur aus den Beiträgen zu berechnenden Rente erhalten können, wenn ihr Einkommen zwischen 30 und 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes betragen hat. Außerdem haben sie durch den mit dem Grundrentengesetz eingeführten höheren Freibetrag unter Umständen auch Anspruch auf (höhere) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die zweite Vergleichsgruppe betrifft dagegen Personen , die weniger als 33 Jahre mit Grundrentenzeiten zurückgelegt haben, und die weder einen Anspruch auf einen Zuschlag zur aus den Beiträgen zu berechnenden Rente, noch auf (höhere) Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch die Freibetragsregelung haben. Insofern kann eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung dieser beiden Personengruppen angenommen werden. 4 Vgl. u. a. Bäcker, Gerhard und Kistler, Ernst. Grundprinzipien: Versicherungsprinzip, Äquivalenzprinzip, Solidarprinzip , in: Dossier Rentenpolitik, Bundeszentrale für politische Bildung, 2020, abrufbar im Internet unter https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/289548/grundprinzipien, zuletzt abgerufen am 26. Januar 2021. 5 BVerfGE 55, 72/88; 105, 73/110; 107, 205/214. 6 BVerfGE 129, 49. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 104/20 Seite 7 4.3. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung kann gerechtfertigt sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt dafür, dass sie einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist.7 4.3.1. Legitimer Zweck Fraglich ist, ob das Erfordernis von mindestens 33 Jahren Grundrentenzeiten für die Grundrente und den höheren Freibetrag einen legitimen Zweck verfolgt. Hierzu müsste die Ungleichbehandlung ein mit dem geltenden Recht in Einklang stehendes Ziel verfolgen. Von den Regelungen des Grundrentengesetzes sollen ausweislich der Gesetzesbegründung lediglich jahrzehntelang Beschäftigte mit unterdurchschnittlichen Einkommen profitieren und besser dastehen, als wenn sie wenig oder gar nicht gearbeitet und somit wenige oder keine Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt hätten.8 Insoweit soll nur eine langjährige Beitragsleistung beziehungsweise Versicherungszugehörigkeit besser anerkannt und gewürdigt und zudem hierauf aufbauende Verbesserungen in den Fürsorgesystemen eingeführt werden. Die Grundrente ist insoweit vor allem für die Menschen gedacht, die über viele Jahre hinweg von ihrem geringen Lohn verpflichtend Rentenversicherungsbeiträge gezahlt haben. Sie sollen mit einer höheren Rente ein besseres Auskommen haben.9 Als langjährige Zugehörigkeit zur Rentenversicherung gilt eine Mindestversicherungszeit von 35 Jahren mit rentenrechtlichen Zeiten, beispielsweise für einen Anspruch auf vorzeitige Altersrente gemäß § 36 SGB VI. Die Grundrente kann bereits gewährt werden, wenn mindestens 33 Jahre an bestimmten rentenrechtlichen Zeiten, den Grundrentenzeiten, zurückgelegt worden sind. Zur Anerkennung der Lebensleistung zählen neben den Zeiten der versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit unter anderem auch Zeiten der Kindererziehung und der Pflege von Familienangehörigen. In einer Staffelung von 33 bis 35 Jahren an Grundrentenzeiten wird die Grundrente ansteigend berechnet. Versicherte können daher bereits mit weniger als den für die langjährige Versicherungszugehörigkeit sonst üblichen 35 Jahren anrechenbaren Zeiten einen Zuschlag erhalten. Damit können besondere Härten vermieden werden. Mit dem Erfordernis der Mindestzeit wird erreicht, dass nur die Anerkennung der Lebensleistung bei langjähriger Beschäftigung, Erziehung oder Pflege verbessert wird. Ein legitimer Zweck der Ungleichbehandlung liegt somit vor. 7 BVerfGE 120, 274 (318f.). 8 Bundestagsdrucksache 19/18473. 9 U.a. Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „Die Grundrente kommt“, S. 4, vgl. Fn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 104/20 Seite 8 4.3.2. Geeignetheit Die Privilegierung der Grundrenten- beziehungsweise Freibetragsberechtigten müsste geeignet sein, die Anerkennung der Lebensleistung bei langjähriger Beschäftigung mit unterdurchschnittlichem Einkommen, Erziehung oder Pflege zu verbessern. Geeignet ist jede Maßnahme, die einen förderlichen Beitrag zur Zielerreichung leistet. Hierfür genügt die Tauglichkeit der Maßnahme, ohne dass diese die bestmögliche sein muss.10 Der Zuschlag in der Rentenberechnung und die höheren Freibeträge sind geeignet, die Lebensleistung bei langjähriger Beschäftigung mit unterdurchschnittlichem Einkommen, Erziehung oder Pflege besser anzuerkennen, soweit hierdurch die Voraussetzungen erfüllt werden. 4.3.3. Erforderlichkeit Erforderlich ist die Privilegierung der Grundrenten- beziehungsweise Freibetragsberechtigten dann, wenn es kein anderes, gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel zur Erreichung des Zwecks gibt.11 Eine Handlungsalternative ist nicht ersichtlich. Zwar könnte eine gesetzliche Regelung niedrigere Anforderungen an eine Mindestzeit für langjährige Versicherungszugehörigkeit vorsehen, jedoch bliebe auch in diesem Fall eine Ungleichbehandlung mit einer Vergleichsgruppe, die die zeitliche Voraussetzung nicht erfüllt, bestehen. Letztlich hat der Gesetzgeber mit der ansteigenden Staffelung der Grundrente bei 33 bis 35 Jahren anrechenbaren Zeiten bereits eine weniger belastende Regelung gefunden. Schließlich ist zur Erreichung des mit dem Grundrentengesetz beabsichtigten Zwecks, eine langjährige Beitragsleistung beziehungsweise Versicherungszugehörigkeit mit geringen Einkünften besser anzuerkennen und zu würdigen, irgendeine Mindestzeit festzulegen . Die Privilegierung der Grundrenten- beziehungsweise Freibetragsberechtigten mit einer bestimmten Anzahl anzurechnender Zeiten ist für die Erreichung des legitimen Zwecks, die Lebensleistung bei langjähriger Beschäftigung mit unterdurchschnittlichem Einkommen, Erziehung oder Pflege besser anzuerkennen und zu würdigen, erforderlich. 4.3.4. Angemessenheit Schließlich müsste die Privilegierung der Grundrenten- beziehungsweise Freibetragsberechtigten zur Zweckerreichung, nur langjährige Beitragsleistungen beziehungsweise Versicherungszugehörigkeit besser anzuerkennen und zu würdigen, angemessen sein. Eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte ist nur dann angemessen, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht.12 10 BVerfGE 115, 276 (308). 11 BVerfGE 30, 292 (316); 90, 145 (172); 91, 207 (222). 12 BVerfGE 118, 168 (195). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 104/20 Seite 9 Dem Solidargedanken geschuldete, vom Prinzip der Beitragsäquivalenz abweichende Regelungen hat es in der Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung immer wieder gegeben. Auch danach waren Vergünstigungen nur zu gewähren, wenn eine bestimmte Mindestzeit der Versicherungszugehörigkeit vorlag. So ist mit dem Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 die sogenannte Rente nach Mindesteinkommen eingeführt worden, nach der in der Rentenberechnung eine höhere Bewertung von Zeiten niedriger versicherter Einkommen erfolgen konnte, soweit 25 Versicherungsjahre zurückgelegt worden sind. Die ab 1. Januar 1992 nachfolgenden Regelungen über Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt beziehungsweise Rente nach Mindesteinkommen für Versicherungsfälle vor 1992 sahen in § 262 SGB VI und Art. 82 Rentenreformgesetz 1992 als Voraussetzung mindestens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vor, wobei erstmals Zeiten der Kindererziehung bis zum zehnten Lebensjahr zu berücksichtigen waren. Schließlich folgten mit dem Altersvermögens-Ergänzungsgesetz ab 1. Januar 2001 die rentenrechtliche Aufwertung geringer Entgelte von Versicherten, die Kinder erziehen, sowie ein Ausgleich für Versicherte , die wegen der Erziehung von mindestens zwei Kindern auch keine Teilzeittätigkeit aufnehmen konnten. Voraussetzung hierfür sind mindestens 25 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten. Derlei Eingriffe in die Beitragsäquivalenz werden mitunter als Systembruch kritisiert.13 Zur konkreten Ausgestaltung der sozialen Sicherung nach dem Sozialstaatsprinzip besitzt der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes einen weiten Gestaltungsspielraum .14 Es dürften keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, wenn unter bestimmten weiteren Voraussetzungen geringe Arbeitsentgelte innerhalb der Rentenberechnung aufgewertet werden15. Auch wenn solche Regelungen, die eine langjährige Versicherungszugehörigkeit voraussetzen , weniger zur Vermeidung von Altersarmut geeignet sind, dürften sie mit Blick auf die Erreichung des Ziels, die Lebensleistung bei langjähriger Beschäftigung mit unterdurchschnittlichem Einkommen, Erziehung oder Pflege besser anzuerkennen und zu würdigen, als angemessen einzustufen sein. 5. Fazit Die Ungleichbehandlung von Personen mit mindestens 33 oder mehr Jahren Grundrentenzeiten, die im Rentenfall höhere Sozialleistungen erhalten können, gegenüber Personen mit weniger als 33 Jahren Grundrentenzeiten, die unter Umständen geringere Sozialleistungen hinnehmen müssen , dürfte einem legitimen Zweck dienen und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein. Eine abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Regelungen bleibt dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. *** 13 Ruland, Franz. Die Verfassungswidrigkeit der Grundrente. Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit bzw.- widrigkeit des Entwurfs eines Grundrentengesetzes im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, 2020, S. 36 ff. 14 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. u. a. BVerfGE 122, 151, 174.; Grzeszick, Bernd. Maunz/Dürig Grundgesetz Kommentar, 74. EL. Herzog, Roman et al. (Hrsg.), Art. 20 GG, VIII. Rn. 18. 15 Papier, Hans-Jürgen. Mindestsicherungselemente im System der Alterssicherung: Spielräume und Grenzen aus verfassungsrechtlicher Sicht, DRV 1/2019, S. 5.