Deutscher Bundestag Fachkräftemangel in Deutschland Statistiken, Prognosen und Lösungsansätze Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2011 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-111/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 2 Fachkräftemangel in Deutschland Statistiken, Prognosen und Lösungsansätze Aktenzeichen: WD 6 – 3000-111/11 Abschluss der Arbeit: 30. Juni 2011 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Demografische Entwicklung in Deutschland bis 2060 5 3. Prognosen zum Fachkräftemangel in Deutschland 7 3.1. Position der Bundesregierung 7 3.2. Entwicklungen in Berufsfeldern und Qualifikationen bis 2025 7 3.3. Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit (BA) 9 3.4. MINT-Trendreport vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 10 3.5. Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 10 4. Lösungsansätze 12 4.1. Handlungsempfehlung der Bundesagentur für Arbeit 12 4.2. Expertise des Sachverständigenrates 15 5. Auswirkungen der Arbeitsmigration 16 6. Fazit 18 7. Literaturliste 18 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 4 1. Einleitung Der von der Wissenschaft seit einigen Jahren prognostizierte und in einigen Berufsfeldern und Regionen bereits beklagte Fachkräftemangel beschäftigt sowohl die Politik wie auch die Sozialpartner in Deutschland. Die Bundesregierung hat am 22. Juni 2011 eine „Gemeinsame Erklärung zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland“ mit den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften veröffentlicht , in der sie angesichts des prognostizierten Fachkräftemangels in den kommenden Jahren verschiedene Lösungsansätze beschreibt. Priorität hat demnach die Förderung und Ausschöpfung „inländischer Potentiale“. Insbesondere Frauen, ältere Arbeitnehmer, Menschen mit Behinderung, Migranten, Schulabbrecher, Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose sollen stärker in den Arbeitsmarkt integriert werden, um einen Fachkräftemangel zu verhindern bzw. zu beseitigen. Gleichzeitig soll eine gesteuerte qualifizierte Zuwanderung dabei helfen, dass Unternehmen Fachkräfte in ausreichender Zahl und passender Qualifikation finden. In der Erklärung heißt es wörtlich: „Für Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaft ist es selbstverständlich, dass ausländische Fachkräfte zu gleichen Arbeitsbedingungen und –entgelten beschäftigt werden wie die inländischen . Es muss insgesamt nicht nur gelingen, mehr qualifizierte ausländische Fachkräfte für den Standort Deutschland zu gewinnen, sondern auch ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen eine dauerhafte, rechtlich abgesicherte Perspektive am deutschen Arbeitsmarkt zu bieten .“1 Bereits im Sommer 2007 hat die damalige Bundesregierung „eine arbeitsmarktadäquate Steuerung der Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte“ und ein „Konzept für eine Zuwanderung, die den Interessen des Landes auch in der nächsten Dekade Rechnung trägt“ beschlossen. Das Bundesministerium des Innern (BMI) und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) haben daraufhin am 16. Juli 2008 das „Aktionsprogramm zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland durch Arbeitsmigration“ vorgelegt. Wichtige Punkte waren die Öffnung des Arbeitsmarktes für Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaaten und aus Drittstaaten durch eine Aussetzung der Vorrangprüfung gemäß § 39 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und eine Senkung der Einkommensgrenze für Hochqualifizierte gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG.2 1 Die Erklärung ist abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/2011/06/2011-06-22-pm-erklaerung-fachkraeftemeseberg ,property=publicationFile.pdf (letzter Abruf am 27. Juni 2011, siehe insbesondere S. 3). 2 Das Aktionsprogramm ist abrufbar unter: http://www.bmas.de/portal/26948/property=pdf/2008__07__16__aktionsprogramm__fachkraefte.pdf (letzter Abruf am 27. Juni 2011, siehe insbesondere S. 3ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 5 Beide Punkte stehen in diesem Jahr erneut auf der Tagesordnung. Die Vorrangprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) wird für einige Berufe ausgesetzt und eine Herabsetzung der Einkommensgrenze für Hochqualifizierte – zurzeit rund 66.000 Euro jährlich - ist in der Diskussion.3 Das BMAS entwickelt ein Frühwarnsystem („Jobmonitoring“), mit dem erkennbar werden soll, in welchen Berufen, Branchen und Regionen Engpässe zu erwarten sind. Erste Ergebnisse erwartet Bundesministerin Ursula von der Leyen im Herbst diesen Jahres.4 Die Bundesregierung betont in einer aktuellen Borschüre zur Fachkräftesicherung, dass die Nutzung und Förderung inländischer Potentiale Vorrang habe, aber aufgrund der demografischen Entwicklung nicht ausreichen werde. Die Bundesregierung wolle demzufolge verstärkt auf eine qualifizierte Zuwanderung setzen. Ein Mangel bzw. Engpass an Fachkräften sei derzeit bereits bei bestimmten Berufen, Qualifikationen, Regionen und Branchen festzustellen. Betroffen seien zum Beispiel bestimmte Ingenieurberufe.5 2. Demografische Entwicklung in Deutschland bis 2060 Gemäß den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes nimmt die Bevölkerung in Deutschland seit 2003 ab. Ende 2008 lebten ca. 82 Millionen Menschen in Deutschland. 2060 werden es, so die Prognosen, zwischen 65 und 70 Millionen Menschen sein, abhängig von der tatsächlichen jährlichen Zuwanderung. Auch bei steigender Geburtenhäufigkeit, einem hohen Anstieg der Lebenserwartung und einem jährlichen Wanderungssaldo von 200.000 Menschen würden 2060 maximal 77 Millionen Menschen in Deutschland leben und damit rund fünf Millionen weniger als noch 2008. Die Bevölkerung geht zurück, weil die Zahl der Gestorbenen die Zahl der Geborenen immer mehr übersteigt. Die Nettozuwanderung – der Saldo der Zuzüge nach und der Fortzüge aus Deutschland – kann die Lücke nicht schließen. Die abnehmende Zahl der Geburten und das Altern der gegenwärtig stark besetzten mittleren Jahrgänge führt auch zu starken Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung. Die klassische Alterspyramide mit starken jungen Jahrgängen und kleiner werdenden älteren Jahrgängen gibt es schon seit den 50er Jahren nicht mehr, was auf die beiden Weltkriege und die Wirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre zurückgeht. Bis 2060 werden die stark besetzten Jahrgänge weiter nach oben verschoben und dabei schließlich ausdünnen und von zahlenmäßig kleineren ersetzt. Damit gehen deutliche Verschiebungen in der Relation der einzelnen Altersgruppen einher . 3 Mitschrift der Pressekonferenz nach dem Gespräch der Bundesregierung mit den Sozialpartnern. Abrufbar unter : http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2011/06/2011-06-22-fachkraeftemeseberg -2.html (letzter Abruf am 28. Juni 2011). 4 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011). Fachkräftesicherung. Ziele und Maßnahmen der Bundesregierung , S. 6. Abrufbar unter: http://www.bmas.de/portal/52120/property=pdf/2011__06__22__fachkraefte.pdf (letzter Abruf am 27. Juni 2011). 5 Vgl. Fn 4, S. 33. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 6 Heute besteht die Bevölkerung zu 19 Prozent aus Kindern und jungen Menschen unter 20 Jahren, zu 61 Prozent aus 20- bis unter 65-Jährigen und zu 20 Prozent aus 65-Jährigen und Älteren. Im Jahr 2060 wird bereits jeder Dritte (34 Prozent) mindestens 65 Jahre alt sein und es werden doppelt so viele 70-Jährige leben, wie Kinder geboren werden.6 Die Bevölkerung im Erwerbsalter von 20 bis 65 Jahren ist von der Schrumpfung und Alterung besonders stark betroffen. Heute gehören knapp 50 Millionen Menschen dieser Altersgruppe an. Die Zahl wird nach 2020 deutlich zurückgehen und im Jahr 2030 bei etwa 42 bis 43 Millionen Menschen liegen. 2060 werden rund 36 Millionen Menschen im Erwerbsalter sein – also 27 Prozent weniger als heute - wenn jährlich 200.000 Menschen zuwandern. Fällt die Zuwanderung nur halb so hoch aus, beträgt das Erwerbspersonenpotenzial (EPP) nur 33 Millionen Menschen – das sind 34 Prozent weniger als 2008. Die Höhe der Zuwanderung beeinflusst das Ausmaß der Schrumpfung der Bevölkerung im Erwerbsalter. Zurzeit gehören 20 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter zur jüngeren Gruppe der 20- bis unter 30-Jährigen (9,9 Millionen Personen), 49 Prozent zur mittleren Altersgruppe von 30 bis unter 50 Jahren (24,3 Millionen Personen) und 31 Prozent zur älteren von 50 bis 65 Jahren (15,5 Millionen Personen). Während die junge Gruppe zahlenmäßig auf etwa 6 bis 7 Millionen schrumpfen wird, bleibt ihr Anteil an allen Personen im Erwerbsalter fast konstant. Eine besonders einschneidende Veränderung wird es in zehn Jahren geben, zwischen 2017 und 2024. Das EPP wird jeweils zu 40 Prozent aus den 30- bis unter 50-Jährigen und aus den 50- bis unter 65- Jährigen bestehen. „Um das Jahr 2035, wenn die stark besetzten 1960er Jahrgänge das Rentenalter erreichen, wird die Zahl der Personen im Erwerbsalter um 9 bis 10 Millionen geringer als heute sein“.7 Die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter wird weiter sinken und in jedem Fall wird das EPP der Zukunft zu einem erheblichen Teil aus Menschen bestehen, die älter als 50 Jahre sind.8 Zum zukünftigen Wanderungssaldo werden vom Statistischen Bundesamt zwei Annahmen getroffen . Mittel- bis langfristig geht es von einer allmählichen Erhöhung des Saldos der Zu- und Fortzüge aus. In der ersten Annahme steigt der jährliche Wanderungssaldo bis zum Jahr 2014 auf 100.000 Personen und verharrt dann auf diesem Niveau. In der zweiten Annahme wird ein Anstieg des jährlichen Saldos auf 200.000 Personen bis 2020 und anschließende Konstanz unterstellt . Daraus ergibt sich ein Korridor, in dem sich das Wanderungsgeschehen nach Einschätzung des Statistischen Bundesamtes abspielen dürfte.9 6 Statistisches Bundesamt (2009). 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. S. 12-14. Abrufbar unter: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Statistiken/Bevoelkerung/Vo rausberechnungBevoelkerung/VorausberechnungBevoelkerung.psml (letzter Abruf am 27. Juni 2011). 7 Statement von Präsident Roderich Egeler anlässlich der Pressekonferenz „Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2060“ am 18. November 2009 in Berlin, S. 12. 8 Vgl. Fn 6, S. 17-18. 9 Vgl. Fn 6, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 7 3. Prognosen zum Fachkräftemangel in Deutschland 3.1. Position der Bundesregierung Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE. zu „Fakten und Positionen der Bundesregierung zum so genannten Fachkräftemangel“ erklärt, dass bereits heute in manchen Branchen und Regionen sowie in Bezug auf spezifische Qualifikationen und Unternehmensgrößen Fachkräfteengpässe auftreten. Diese Schwierigkeiten der Personalrekrutierung könnten sich angesichts des demografischen Wandels, der wirtschaftlichen Erholung und des Strukturwandels der Wirtschaft mittel- bis langfristig weiter verschärfen. „Erste Priorität haben (…) Bildung und Qualifikation sowie die Aktivierung von Menschen, die in Deutschland leben. darüber hinaus sind die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die bessere Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf sowie die Integration von Migrantinnen und Migranten von entscheidender Bedeutung, um Fachkräftemangel zu verhindern. Neben der Ausschöpfung inländischer Potenziale wird die Bundesregierung verstärkt auf qualifizierte Zuwanderung setzen. Die Bundesregierung wird dazu den Anpassungsbedarf im Zuwanderungsrecht prüfen.“10 Einzelne Berufsfelder, die am stärksten von einem Fachkräftemangel betroffen sind, nennt die Bundesregierung nicht: „Es gibt eine Vielzahl von Studien und Methoden zum Thema Fachkräftemangel , die aufgrund des unterschiedlichen Untersuchungsdesigns und der Verwendung verschiedenster Methoden zu nicht immer unmittelbar vergleichbaren Ergebnissen kommen.“ Für sinnvoll erachtet die Bundesregierung die Studie „Beruf und Qualifikation in der Zukunft“, in die auch Informationen und Annahmen über die berufliche Flexibilität und Mobilität eingeflossen sind. Allerdings weist die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass sie es für geboten halte, weitere Analysen in diesem Bereich zu erstellen.11 Die diskutierte Untersuchung wurde vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und vom Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut (FIT) und der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (gws) durchgeführt. Einzelne Ergebnisse werden unter Punkt 3.2. ausführlicher dargestellt. 3.2. Entwicklungen in Berufsfeldern und Qualifikationen bis 2025 Grundsätzlich weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass die wissenschaftlichen Methode der Prognose, also der Vorhersage der Zukunft, immer „Wenn-Dann“-Aussagen sind. Das heißt, eine Vorhersage kann nur eintreffen, wenn bestimmte, klar definierte Bedingungen gelten und über den prognostizierten Zeitraum Bestand haben. Das Instrument Prognose könne also nur mit Vorbehalten und Einschränkungen genutzt werden, denn selbst die aufwändigste wissenschaftliche Methodik zur Erstellung einer Prognose berge Unsicherheiten und Unschärfen.12 10 Drs. 17/4784 vom 15. Februar 2011, S. 2. 11 Vgl. Fn 10, S. 8. 12 HELMRICH, Robert; ZIKA, Gerd (2010). Beruf und Qualifikation in der Zukunft, S. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 8 In der Untersuchung des IAB und BIBB werden die Entwicklungen für 12 Berufshauptfelder, die sich in die drei Berufsoberfelder „Produktionsbezogene Berufe“, „Primäre Dienstleistungsberufe“ und „Sekundäre Dienstleistungsberufe“ einteilen lassen, prognostiziert. Demnach wird sich der Fachkräftebedarf in dem Berufsoberfeld „Produktionsbezogene Berufe“ wie Ernten, Fördern, Be- und Verarbeiten, Instandsetzen bzw. Steuern und Warten von Maschinen und Anlagen verringern. Hier werde es zu einem Überangebot an Fachkräften von rund zwei Millionen Personen kommen. Im Jahr 2005 gehörten diesem Berufsoberfeld insgesamt acht Millionen Erwerbstätige an. In dem Berufsoberfeld der „Primären Dienstleistungsberufe“, zu denen einfachere Tätigkeiten im Verkauf und im Büro sowie allgemeine Dienstleistungen wie Reinigen, Bewirten, Lagern, Sichern und Transportieren gehören, wird sich gemäß der Prognosen der Fachkräftebedarf geringfügig erhöhen. 2005 waren rund 18 Millionen Erwerbstätige in diesem Bereich beschäftigt, 19 Prozent von ihnen hatten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Langfristig sei allerdings auch in diesem Berufsoberfeld mit einem Engpass zwischen Angebot und Bedarf zu rechnen, so die Wissenschaftler . In dem Berufsoberfeld der „Sekundären Dienstleistungsberufe“ finden sich die höherwertigen und anspruchsvollen Tätigkeiten wie Forschen, Entwickeln, Organisieren, Managen, Recht anwenden und auslegen, Betreuen, Heilen, Pflegen, Beraten, Lehren, Publizieren. Hier handelt es sich, so die Wissenschaftler, um ein prosperierendes Berufsoberfeld, in dem 12 Millionen Erwerbstätige beschäftigt sind. Es wird ein Anstieg des Bedarfs um mehr als 700.000 Erwerbstätige prognostiziert. Zwar werde sich auch das Angebot an Personen, die einen entsprechenden Beruf erlernen, erhöhen, allerdings wirkten sich hier die Effekte der demografischen Entwicklung aus. Das Modell des BIBB geht bereits für das Jahr 2015 von einem zu geringen Fachkräfteangebot in diesem Segment aus. Die Projektion des FIT rechnet erst für das Ende des Projektionszeitraums im Jahr 2025 mit einem Fachkräftemangel in den sekundären Dienstleistungsberufen. Zu dem Berufsoberfeld der „Sekundären Dienstleistungen“ gehören auch die technischnaturwissenschaftlichen Berufe mit 3,2 Millionen Erwerbstätigen im Jahr 2005. Das Berufsfeld wird von akademischen MINT-Berufen dominiert (MINT meint Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Nur rund 52 Prozent bleiben hier in ihrem erlernten Beruf, rund 36 Prozent der in diesem Bereich Tätigen sind fachfremde Fachkräfte. Es herrscht also eine hohe Flexibilität. Der unterstellte steigende Bedarf könne unter Berücksichtigung der Abwanderungen aus dem Berufshauptfeld nicht hinreichend durch Fachfremde aufgefangen werden, so die Prognose . In dem Berufshauptfeld der Rechts-, Management- und wirtschaftswissenschaftlichen Berufe werde es sogar zu massiven Engpässen kommen, denn demografisch bedingt werde das Angebot dem langfristig steigenden Bedarf nicht folgen. Auch hier sei also mit einem Fachkräftemangel zu rechnen. In dem Berufshauptfeld der künstlerischen, Medien-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Berufe , das mit knapp 1,1 Millionen Erwerbstätigen eher klein ist, wird ein bedeutsamer Bedarfsanstieg prognostiziert. Bereits im Jahr 2005 konnte der Bedarf nur knapp ausreichend fachadäquat gedeckt werden, so die Wissenschaftler . Zudem herrsche hier eine hohe Flexibilität, da nur rund 47 Prozent derjenigen, die einen entsprechenden Beruf erlernt haben, in diesem Segment blieben. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 9 54 Prozent der Erwerbstätigen in diesem Bereich stammten aus fachfremden Berufen. Dadurch vergrößere sich das Ungleichgewicht von Bedarf und Angebot nochmal deutlich. In dem Berufshauptfeld Gesundheits- und Sozialberufe, Körperpflege arbeiten rund 4 Millionen Personen. Hier wird der Bedarf an Fachkräften deutlich ansteigen, so die Prognose. Derzeit gebe es zwar noch ein kleines Überangebot, das aber langfristig bei einem moderaten Bedarfsanstieg nicht gehalten werden könne. Voraussichtlich spätestens ab dem Jahr 2020 werde sich ein Fachkräftemangel einstellen. In diesem Bereich herrsche auch keine große Flexibilität. Rund 75 Prozent der hier Tätigen hätten einen entsprechenden Beruf erlernt.13 3.3. Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit (BA) Ein zentraler Indikator für die Ermittlung eines Fachkräfte-Engpasses ist in den Statistiken der BA die so genannte Vakanzzeit. Dies ist die Zeitspanne ab dem gewünschten Besetzungstermin durch einen Betrieb bis zum Abgang aus dem Bestand der gemeldeten Stellen bei der BA. Es ist also der Zeitraum, in dem eine Stelle nicht besetzt werden konnte. Die Vakanzzeit ist zu unterscheiden von der Laufzeit, die die gesamte Zeitspanne zwischen Meldung und Besetzung der Arbeitsstelle meint. Volkswirtschaftlich relevant ist nur die Vakanzzeit, denn sie signalisiert, dass eine Beschäftigungsmöglichkeit nicht genutzt wird und damit Wertschöpfung bzw. Einkommen und staatliche Einnahmen verloren gehen. Lange Vakanzzeiten signalisieren einen Engpass bei der Besetzung freier Stellen und sind damit ein Hinweis auf Fachkräfteknappheit. Allerdings kann erst von einem Engpass gesprochen werden , wenn die Besetzung freier Arbeitsstellen deutlich länger dauert als „üblich“ oder als von den Betrieben für vertretbar gehalten wird.14 Neben der abgeschlossenen Vakanzzeit werden auch die Anzahl der Arbeitsstellen, die länger als drei Monate im Bestand gemeldet sind und die Relation der registrierten Arbeitslosen zu den gemeldeten Arbeitsstellen als weitere Indikatoren für Engpass-Berufe herangezogen. Im April diesen Jahres, nach der derzeit aktuellste Engpass-Analyse der BA, betrug die Vakanzzeit für Gesundheitsdienstberufe und Elektroberufe (Elektriker, Elektrogeräte- und Elektroteilemontierer ) 71 und für technisch-naturwissenschaftliche Berufe (Ingenieure, Chemiker, Physiker, Mathematiker, Techniker) 70 Tage. Die durchschnittliche Vakanzzeit lag bei 58 Tagen. In den drei genannten Berufsfeldern ist die Vakanzzeit am längsten. Die geringste Vakanzzeit weist das Berufsfeld „Agrarberufe, grüne Berufe“ (Pflanzenbauer, Tierzüchter, Fischereiberufe) mit 47 Tagen auf. 13 Vgl. Fn 12, S. 46-55. 14 BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (2011). Vorbemerkung und Methodische Erläuterung zum Analytikreport der Statistik, S. 1-3. Abrufbar unter: http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Statistische-Analysen/Analytikreports/Zentrale- Analytikreports/Monatliche-Analytikreports/Generische-Publikationen/Analyse-gemeldetes- Stellenangebot/Report-Engpassanalyse-201104.pdf (letzter Abruf am 28. Juni 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 10 3.4. MINT-Trendreport vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Nach Aussage dieses Gutachtens, das im Auftrag der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände , des Bundesverbands der Deutschen Industrie, des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall und der Initiative „MINT Zukunft schaffen“ angefertigt wurde, fehlten dem deutschen Arbeitsmarkt im Februar diesen Jahres rund 117.000 MINT-Fachkräfte. Allein zwischen Januar und Februar habe sich die Lücke um rund 21.000 Personen vergrößert.15 Außerdem, so die IW-Untersuchung, führe die demografische Entwicklung zu einem steigenden Bedarf an MINT-Akademikern, da zahlreiche MINT-Kräfte aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden und ersetzt werden müssten. Bereits heute würden jährlich rund 44.300 MINT-Hochschulabsolventen benötigt, um Ausscheidende zu ersetzen. In den kommenden Jahren , so das IW, werde dieser Bedarf auf etwa 52.000 Absolventen pro Jahr steigen. Darüber hinaus prognostiziert das IW eine Beschäftigungsexpansion im MINT-Bereich: Zwischen 2000 und 2008 sei die Erwerbstätigkeit von MINT-Akademikern um durchschnittlich 62.000 Personen gestiegen und wenn sich dieser Trend fortsetze, bestehe schon heute ein Gesamtbedarf von 105.000 MINT- Hochschulabsolventen pro Jahr.16 Bislang allerdings, so das IW, absolvierten zu wenige Studenten ein MINT-Erststudium. Im Jahr 2009 waren es 95.000 Studenten – laut Gutachten zu wenig, um den Gesamtbedarf zu decken. Zwar habe sich die allgemeine Studierneigung innerhalb eines Altersjahrgangs erhöht und somit auch die Absolventenzahlen insgesamt, aber der MINT-Anteil sei hier lediglich moderat gestiegen . Das IW bemängelt auch, dass der Frauenanteil an den MINT-Erstabsolventen immer noch sehr gering sei. 2009 betrug er 31,4 Prozent. „Frauen stellen somit in Bezug auf das MINT- Segment ein Potenzial dar, welches in vielen Bereichen noch nicht erschöpft ist.“17 Das IW sieht zwei Handlungsmöglichkeiten zur Verringerung der MINT-Lücke. Zum einen sei es notwendig, die Bildungsausländer, die hierzulande ein MINT-Studium abschließen, nach dem Studium in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und das Bleiberecht für diese Ausländergruppe zu ändern. Zum zweiten sollte, so das IW-Gutachten, das Renteneintrittsalter erhöht werden , um so das Erwerbstätigenpotenzial im MINT-Segment zu steigern.18 3.5. Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Der Wissenschaftler Karl Brenke hat im vergangenen Jahr einen kurzfristigen Fachkräftemangel in naturwissenschaftlich-technischen Berufen verneint. Gegenstand der Analyse waren auch Facharbeiterqualifikationen, die vor allem in der Industrie benötigt werden. Untersucht hat Brenke die aktuelle Situation mit Blick auf die Ausbildung der nächsten vier bis fünf Jahre. Er 15 ANGER, Christina; ERDMANN, Vera; PLÜNNECKE, Axel (2011). MINT-Trendreport, S. 18. Abrufbar unter: http://www.iwkoeln.de/LinkClick.aspx?fileticket=pmft3ZkkAjs%3d&tabid=252 (letzter Abruf am 28. Juni 2011). 16 Vgl. Fn 15, S. 4. 17 Vgl. Fn 15. S. 18. 18 Vgl. Fn 15, S. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 11 kommt zu dem Ergebnis, dass in den nächsten fünf Jahren angesichts stark gestiegener Studentenzahlen noch nicht damit zu rechnen sei, dass in technisch-naturwissenschaftlichen Berufsfeldern ein starker Engpass beim Arbeitskräfteangebot eintrete. Mittel- und langfristige Trends waren nicht Gegenstand der Untersuchung.19 Gegen einen aktuellen Fachkräftemangel spreche zum einen, dass der in der Krise begonnene Arbeitsplatzabbau in der Industrie gerade erst zum Stillstand gekommen sei. Noch im August habe die Zahl der Beschäftigten in dem Sektor um gut 300.000 unter dem Vorkrisenniveau gelegen . Zudem habe sich seit 2008 die Arbeitsmarktsituation in den meisten technischnaturwissenschaftlichen Berufen verschlechtert. Dementsprechend sei fast bei allen Fachkräften die Zahl der Arbeitslosen höher als die Zahl der offenen Stellen. Weiterhin würden Fachkräfte bei der Einkommensentwicklung nicht besser abschneiden als die übrigen Arbeitnehmer. Zeichen für eine Knappheit wären jedoch überdurchschnittliche Gehaltssteigerungen. Die Absolventenzahlen in Ingenieursstudiengängen und in der betrieblichen Ausbildung ließen ebenfalls keinen Fachkräftemangel erkennen. Das gleiche gelte in anderen wichtigen Fächern wie der Humanmedizin, der Mathematik und den klassischen Naturwissenschaften, so Brenke. In all diesen Fächern sei die Zahl der Studenten deutlich stärker gewachsen als die Zahl der Studenten insgesamt. Hinsichtlich der Ausbildung von Facharbeitern vermutet der Autor der Studie, dass die Unternehmen nur deshalb nicht mehr ausbilden würden, weil sie dies wegen eines ausreichenden Fachkräfteangebotes nicht für erforderlich hielten. Lediglich im Gesundheitssektor zeichnet sich der Untersuchung zufolge momentan ein Fachkräftemangel ab: Bei Ärzten wie bei Krankenschwestern könnte demnach ein Engpass an Arbeitskräften entstehen. Abgesehen von Medizinern und einigen wenigen Fertigungsberufen gebe es jedoch keine Anzeichen für einen momentanen Fachkräftemangel. In einem Interview zu der Studie spricht der Autor stattdessen sogar in einigen Bereichen von einem möglichen Überangebot an Fachkräften. Brenke gibt zu Bedenken, dass konkrete Zahlen zum Fachkräftemangel nicht benannt werden könnten, da bislang keine geeigneten wissenschaftlichen Verfahren zur Berechnung einer Fachkräftelücke bekannt seien, die die Komplexität des Arbeitsmarktgeschehens und die Vielfalt der Aspekte auf der Angebots- und der Nachfrageseite beachteten. Die verfügbaren amtlichen Daten reichten für eine korrekte Berechnung nicht aus. Brenke kritisiert in seinem Aufsatz insbesondere die Methodik des IW.20 19 Brenke, Karl (2010). Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht, S. 2. Abrufbar unter: http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.363686.de/10-46-1.pdf (letzter Abruf am 29. Juni 2011). 20 Vgl. Fn 19, S. 3ff. Vgl. zu dem wissenschaftlichen Disput auch die Erwiderung des IW vom 18. November 2010. Abrufbar unter: http://www.iwkoeln.de/LinkClick.aspx?fileticket=g7sOArRj62U%3D&tabid=252 (letzter Abruf am 29. Juni 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 12 Diese Studie war sowohl innerhalb des DIW als auch unter anderen Arbeitsmarktexperten nicht unumstritten21. In einem Kommentar dazu hob der damalige Präsident des DIW Prof. Dr. Zimmermann hervor, dass bereits mittelfristig - schon aufgrund des unabwendbar zu erwartenden demografischen Einbruchs ab dem Jahr 2015 - der Fachkräftemangel zum bestimmenden Thema des Arbeitsmarktes werde. Die derzeit verfügbaren Arbeitsmarktindikatoren seien allerdings nur schlechte Sensoren für kurzfristige Arbeitskräfteknappheit.22 Prof. Dr. Zimmermann betonte in seiner Funktion als Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA)23 im Februar diesen Jahres erneut, dass es an wissenschaftlichen Instrumenten mangele , die eine detaillierte Ermittlung des tatsächlichen Fachkräftemangels möglich machten. In einer Stellungnahme vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales bemängelte er, dass aufgrund einer unzureichenden Datengrundlage und in Ermangelung belastbarer Indikatoren die bevorstehenden bzw. aktuell bereits auftauchenden Fachkräfte-Engpässe bislang nicht ausreichend präzise definiert werden könnten.24 4. Lösungsansätze 4.1. Handlungsempfehlung der Bundesagentur für Arbeit Die Bundesagentur für Arbeit (BA) prognostiziert einen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials (EPP) um 6,5 Millionen Personen auf dann nur noch 38,1 Millionen Personen im Jahr 2025. Dementsprechend werde sich ein Fachkräftemangel vor allem bei den Ingenieurberufen einstellen . Nach Angaben der BA hat das Institut zur Zukunft der Arbeit errechnet, dass bis zum Jahr 2020 rund 240.000 Ingenieure fehlen werden. 25 Die BA beruft sich auf Studien, die von 2 Millionen fehlenden Fachkräften bis 2020, bzw. einer Fachkräftelücke von 5,2 Millionen bis 2030 ausgehen .26 Die BA hält eine Doppelstrategie für die beste Lösung, den Fachkräftemangel zu verhindern bzw. zu beseitigen. So solle sowohl die Anzahl qualifizierter Fachkräfte innerhalb Deutschlands erhöht , als auch die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte ermöglicht werden: 21 Vgl. HAAS, Sibylle; RIEDL, Thorsten (2010): Eine These, die nicht passt. Maulkorb für den Arbeitsmarktexperten des DIW: Er stellt Fachkräftemangel in Frage. In: Süddeutsche Zeitung vom 17. November 2010. 22 ZIMMERMANN, Klaus F. (2010). Deutschland braucht auf Dauer Fachkräfte – auch durch Zuwanderung. In: Wochenbericht des DIW Nr. 46/2010. Abrufbar unter: http://www.diw.de/sixcms/media.php/73/10-46-4.pdf (letzter Abruf am 30. Juni 2011). 23 Prof. Dr. Klaus F. Zimmermann war bis Februar 2011 zugleich Präsident des DIW. 24 ZIMMERMANN, Klaus F. (2011). Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 21. Februar 2011, S. 2. Abrufbar unter: http://www.iza.org/de/webcontent/news/BundestagZuwanderung110221.pdf (letzter Abruf am 29. Juni 2011). 25 BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (2011). Perspektive 2025, S. 3 und S. 7. Abrufbar unter: http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Veroeffentlichungen/Sonstiges/Perspektive-2025.pdf (letzter Abruf am 27. Januar 2011). 26 Vgl. Fn 25, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 13 „Durch Qualifikation und Anreize sollten diese individuellen und gleichzeitig gesellschaftlichwirtschaftlichen Chancen erschlossen werden. Dies gilt vor allem für Personengruppen, deren Anteil am Fachkräfteangebot heute vergleichsweise gering ist: beispielsweise Personen über 55 Jahre, Frauen, Geringqualifizierte und Menschen mit Migrationshintergrund. Dafür den Rahmen zu schaffen durch gesetzliche und tarifliche Lösungen, durch Bildung und Ausbildung, durch Betreuungs- und Informationsangebote, erfordert das Zusammenspiel aller Arbeitsmarktakteure und Politikbereiche.“27 Die BA hat zehn Handlungsfelder definiert, um den Fachkräftemangel zu verhindern bzw. zu beseitigen: – Schulabgänger ohne Abschluss reduzieren und Übergänge in den Beruf verbessern, – Ausbildungsabbrecher reduzieren, – Studienabbrecher reduzieren, – Erwerbspartizipation und Lebensarbeitszeit von Menschen über 55 erhöhen, – Erwerbspartizipation und Arbeitszeitvolumen von Frauen steigern, – Zuwanderung von Fachkräften steuern, – Arbeitszeit von Beschäftigten in Vollzeit steigern, – Qualifizierung und Weiterbildung vorantreiben, – Arbeitsmarkttransparenz erhöhen, – Flankierende Maßnahmen im Steuer- und Abgabenbereich prüfen. In der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen sind bislang nur 56 Prozent beschäftigt, in Frankreich sind es 39, in Schweden 70 Prozent. Allerdings, so die BA, hat Deutschland mit 31 Prozent den höchsten Altersquotienten in ganz Europa (Verhältnis der über 65-Jährigen zu den 15- bis 64- Jährigen). Eine hohe Erwerbstätigenquote bei Älteren wäre demzufolge eine wichtige Maßnahme zur Steigerung des Fachkräfteangebots. Nach Berechnungen der BA würde eine Steigerung der Erwerbstätigenquote von derzeit 56,2 Prozent auf 61,8 Prozent im Jahr 2025 eine Zunahme von einer halben Million Erwerbstätigen bedeuten (Vollzeitäquivalent). Allerdings, so die BA, müssten die Arbeitsbedingungen den veränderten Bedürfnissen und Erfordernissen Älterer angepasst werden. Hilfreich wäre zum Beispiel die Einführung eines ganzheitlichen betrieblichen Gesundheitsmanagements wie Betriebssportgruppen, gesundes Kantinenessen , Rückenschulen oder Stressbewältigungsseminare. 27 Vgl. Fn 25, S. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 14 Im Jahr 2009 waren 71,4 Prozent Frauen in Deutschland erwerbstätig, allerdings in hohem Maße in Teilzeit. Nur 55 Prozent der erwerbstätigen Frauen waren vollzeitbeschäftigt. Hinzu kommt, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Teilzeitkräften in Deutschland derzeit bei 18,5 Stunden liegt. Führend in der EU ist Schweden mit 25 Stunden pro Woche. Würde der Anteil der Frauen, die wegen Kinderbetreuung Teilzeit arbeiten, um zehn Prozent sinken und durch Vollzeitkräfte ersetzt, entspräche dies nach Berechnungen der BA einem zusätzlichen Fachkräftepotenzial von 0,1 Millionenen Vollzeitäquivalenten. Eine Erhöhung der durchschnittlichen Arbeitszeit um zehn Prozent würde demgemäß ebenfalls eine Erhöhung von 0,1 Millionen Vollzeitäquvalenten bedeuten. In Summe berge die Erhöhung der Erwerbspartizipation von Frauen , die Senkung des Anteils der Frauen, die Teilzeit arbeiten und die Anhebung der Arbeitszeit laut Berechnungen der BA ein Gesamtpotenzial von 0,7 bis 2,1 Millionenen Vollzeitäquivalenten. „Ein zentraler Ansatzpunkt (…) sind Initiativen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Zusätzlich sind Maßnahmen auf Unternehmensebene denkbar, wie etwa der Ausbau von Betriebskindergärten , die Beteiligung von Arbeitgebern an Kinderbetreuungskosten oder die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle (z.B. Telearbeit, Mutter-Kind-Büros).“28 Die BA gibt zu bedenken, dass bislang unter den Zuwanderern, die nach Deutschland kommen, die qualifizierten Fachkräfte in der Minderheit gewesen seien. 2009 waren von 721.000 Zuwanderern nur 17.000 Fachkräfte (12.000 Hochschulabsolventen, 4.400 Mitarbeiter internationaler Unternehmen, 700 Hochqualifizierte). Wenn Deutschland ab 2015 auf 100 Prozent des langfristigen historischen Nettozuwanderungsniveaus von 200.000 Personen pro Jahr kommen würde, ließe sich bis 2025 ein zusätzliches Fachkräftepotenzial von 0,8 Millionenen Vollzeitäquivalenten erschließen, so die Berechnungen der BA. „Um das Potenzial tatsächlich ausschöpfen zu können, bedarf es deutlich veränderter Rahmenbedingungen für die Zuwanderung von Fachkräften. Dazu zählen nicht nur der Abbau rechtlicher und bürokratischer Hürden, sondern auch die Schaffung einer „Willkommenskultur“, und das auf allen gesellschaftlichen Ebenen. (…) Ein erster Ansatzpunkt für dieses Modell wäre ein Verzicht auf die Vorrangprüfung bei Mangelberufen, die auf einer Positivliste vermerkt sind. Der Vorteil dieses Modells liegt darin, dass es relativ leicht und schnell umsetzbar ist.“29 Die BA schlägt zudem vor, ausländische Abschlüsse transparent und zügig anzuerkennen. Damit setze man ein Zeichen sowohl für die zukünftige Zuwanderung von Fachkräften wie für bereits in Deutschland lebende Absolventen, deren Abschlüsse derzeit nicht anerkannt werden. „Insgesamt wäre ein Paradigmenwechsel zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz und Integration von Ausländern notwendig, der mit der klaren Identifikation Deutschlands als Einwanderungsland beginnen könnte. Neben der quantitativen Erhöhung des Erwerbspotenzials sind bei einer 28 Vgl. Fn 25, S. 34 29 Vgl. Fn 25, S. 35-37. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 15 erhöhten Zuwanderung auch die positiven Effekte auf das Steuer- und Sozialsystem sowie auf das Beschäftigungsniveau der Volkswirtschaft insgesamt zu sehen.“30 4.2. Expertise des Sachverständigenrates Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat im Mai diesen Jahres eine Expertise zum demografischen Wandel vorgelegt. Darin heißt es, dass die zurückgehenden Bevölkerungszahl und die verstärkte Alterung der Gesellschaft zu einem noch stärkeren Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen führe. Dieser Rückgang könne vermieden werden, wenn die Erwerbstätigkeit von Frauen erhöht und das Renteneintrittsalter hinausgeschoben werde. Die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften könne ebenfalls eine Entlastung bewirken.31 Auf der Grundlage der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes beschreibt der Sachverständigenrat verschiedene Maßnahmen zur Verhinderung eines Fachkräftemangels. Grundsätzlich ist nach Ansicht des Sachverständigenrates die große Lücke in der Bevölkerungspyramide , die sich durch die negative Bevölkerungsbilanz seit den 1970er-Jahren gebildet hat, nachträglich „höchstens durch eine im historischen Vergleich ungewöhnlich starke Zuwanderung “ zu füllen. Denn demografische Prozesse verliefen langsam, da sich Sterbe- und Geburtenraten nur langfristig ändern könnten und somit für lange Zeit den Altersaufbau der Bevölkerung formten.32 Der Sachverständigenrat geht davon aus, dass eine Netto-Zuwanderung von 350.000 Personen jährlich notwendig sei, um eine konstante Einwohnerzahl zu erreichen. Ein positiver Wanderungssaldo könne dazu beitragen, den demografischen Wandel zu verlangsamen und die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland abzufedern.33 Ausgehend von der „Basisvariante“, dass das Arbeitsangebot trotz einer jährlichen Nettozuwanderung von 100.000 Personen zwischen dem Jahr 2010 und 2060 um fast 30 Prozent auf etwa 31 Millionen Personen zurückgeht, würde, so die Sachverständigen, eine Veränderung des Wanderungssaldos in der Arbeitsmigration sofort das Arbeitsangebot verändern. Eine Erhöhung des Wanderungssaldos auf jährlich 200.000 Personen ab 2020 würde eine um acht Prozent geringere Schrumpfung des Arbeitsangebots bewirken. Um das Arbeitsangebot im Jahr 2060 auf dem Niveau des Jahres 2010 zu halten, wäre eine jährliche Nettozuwanderung von rund 400.000 Personen notwendig, so die Sachverständigen.34 30 Vgl. Fn 25, S. 38. 31 Sachverständigenrat (2011). Herausforderungen des demografischen Wandels, S. III. Abrufbar unter: http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/Expertisen/2011/expertise_2011- demografischer-wandel.pdf (letzter Abruf am 28. Juni 2011). 32 Vgl. Fn 30, S. 28. 33 Vgl. Fn 30, S. 37. 34 Vgl. Fn 30, S. 95. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 16 Eine Steigerung der Erwerbsquote der deutschen Frauen auf das Niveau der skandinavischen Länder bedeute, so die Sachverständigen, relativ zur Basisvariante ein nur um zwei Prozentpunkte höheres Arbeitsangebot im Jahr 2060. Ursache hierfür sei, dass bereits in der Basisvariante von einer deutlichen Erhöhung der Frauenerwerbsquote ausgegangen werde. Größere Auswirkungen, so die Sachverständigen, hätte in diesem Szenario eine Variation des Renteneintrittsalters. Bei einer Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 69 Jahre erhöhe sich das Arbeitsangebot im Jahr 2060 um vier Prozentpunkte gegenüber dem Basisszenario. „Die quantitativ bedeutendsten Abweichungen vom Basisszenario bewirkt die Variation der Nettozuwanderungen . Gerade diese Größe ist äußerst schwierig zu prognostizieren, da die Höhe der zukünftigen Zuwanderung zum einen durch die Immigrationspolitik und zum anderen durch weitere politische Ereignisse bestimmt wird. Mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes in Richtung Mittel- und Osteuropa zum 1. Mai 2011 dürfte sich der negative Wanderungssaldo der vergangenen Jahre aller Voraussicht nach wieder ins Positive wenden. Hält Deutschland allerdings weiter an der restriktiven Einwanderungspolitik gegenüber Arbeitsmigration aus Drittstaaten fest, dürften die Nettozuwanderungen eher auf niedrigem Niveau verbleiben.“35 5. Auswirkungen der Arbeitsmigration In einer Materialsammlung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zum Fachkräftebedarf der Wirtschaft heißt es zu den langfristigen Wirkungen der Zuwanderung von Fachkräften , dass die Abschwächung des Alterungsprozesses durch Zuwanderung erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen und die Sozialversicherungssysteme habe: „Obwohl die ausländische Bevölkerung sehr viel stärker als die deutsche Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen ist, in höherem Umfang soziale Leistungen nach dem SGB II bezieht und niedrigere Steuern als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung bezahlt, entsteht durch Zuwanderung ein Nettogewinn für die öffentlichen Finanzen und Sozialsysteme. Dies ist im Wesentlichen auf die zusätzlichen Einzahlungen in die Rentenversicherungssysteme sowie den Umstand, dass sich die Schuldenbelastungen der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungssysteme durch Zuwanderung auf eine größere Zahl von Köpfen verteilt, zurückzuführen.“ 36 Allerdings, so der Autor, hingen die Wohlfahrtseffekte der Zuwanderung langfristig aus drei Gründen nicht allein von der Zahl, sondern auch von der Qualifikationsstruktur der Zuwanderer ab: Erstens bestimme die Qualifikation entscheidend die Arbeitsmarktintegration, das heißt, die Arbeitslosenrate unter den Zuwanderern ist abhängig von ihrer Qualifikation. Zweitens steige die Wachstumsrate der gesamtwirtschaftlichen Produktion und der Produktivität mit der Qualifikation der Zuwanderer und drittens stiegen die fiskalischen Gewinne des Sozialstaats mit der Qualifikation der Zuwanderer. „Im Unterschied zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik dürften bei einer gezielten Anwerbung von Fachkräften die Gewinne durch Migration deshalb steigen“. 37 35 Vgl. Fn 30, S. 95ff. 36 BRÜCKER, Herbert (2007). Migration als Therapie für Fachkräftemangel?, S. 3. Abrufbar unter: http://doku.iab.de/grauepap/2007/Fachkraefte_Material_C11.pdf (letzter Abruf am 30. Juni 2011). 37 Vgl. Fn 35, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 17 Eine langfristig angelegte Zuwanderungspolitik müsse deshalb die Qualifikationsstruktur der Zuwanderer erhöhen und die Integration der Migranten und von Personen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem erheblich verbessern. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 18 6. Fazit Ein Fachkräftemangel bzw. ein Fachkräfteengpass in Deutschland lässt sich bereits heute anhand verschiedener Indikatoren ablesen, allerdings kann er derzeit noch nicht exakt und wissenschaftlich präzise für die einzelnen Berufsfelder beschrieben werden.38 Im Kontext der demografischen Entwicklung deutet jedoch vieles darauf hin, dass sich in den kommenden Jahren ein Fachkräftemangel im mittleren und hohen Qualifikationsniveau einstellt, wenn nicht mit verschiedenen Maßnahmen einer solchen Entwicklung entgegengewirkt wird. Viele Handlungsempfehlungen für die Politik gehen von einer Doppelstrategie aus. So sollen einerseits inländische Potenziale stärker ausgeschöpft werden. Vorgeschlagen wird insbesondere eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren, aber auch eine bessere Qualifizierung von Schülern und Auszubildenden. Andererseits sind sich die Wissenschaftler weitgehend einig, dass Zuwanderung nach Deutschland angesichts der demografischen Entwicklung ebenso unverzichtbar ist. Empfohlen wird häufig eine selektive Zuwanderung, die sich an den Erfordernissen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und den entsprechenden Qualifikationen der Zuwanderer orientiert.39 7. Literaturliste ANGER, Christina; ERDMANN, Vera; PLÜNNECKE, Axel (2011). MINT-Trendreport 2011, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft. ANTWORT DER BUNDESREGIERUNG (2011), Fakten und Positionen der Bundesregierung zum so genannten Fachkräftemangel vom 15. Februar 2011 (Drs. 17/4784). BRENKE, Karl (2010). Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht. In: Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 46/10, S. 2-16. BRÜCKER, Herbert (2007). Migration als Therapie für Fachkräftemangel? Materialsammlung Fachkräftebedarf der Wirtschaft vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg. Stand: August 2007. BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (2011). Perspektive 2025: Fachkräfte für Deutschland, Nürnberg. Stand: Januar 2011. BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (2011). Analytikreport der Statistik. Analyse der gemeldeten Arbeitsstellen nach Berufen (Engpassanalyse), Nürnberg. Stand: April 2011. BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES (2011). Fachkräftesicherung. Ziele und Maßnahmen der Bundesregierung, Berlin. Stand: Juni 2011. HELMRICH, Robert; ZIKA, Gerd, Hrsg. (2010). Beruf und Qualifikation in der Zukunft. BIBB-IAB- Modellrechnungen zu den Entwicklungen in Berufsfeldern und Qualifikationen bis 2025, Bonn: Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung (P 5132032). 38 Siehe auch die Internetplattform des BIBB, 16 Fragen zum Fachkräftemangel in Deutschland. Abrufbar unter: http://www.bibb.de/de/56363.htm (letzter Abruf am 29. Juni 2011). 39 Vgl. zum Beispiel ZIMMERMANN, Klaus F. (2004). Demografie, Zuwanderung, Arbeitsmarkt. Brauchen wir eine selektive Zuwanderungspolitik?, S. 55ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-111/11 Seite 19 SACHVERSTÄNDIGENRAT ZUR BEGUTACHTUNG DER GESAMTWIRTSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG (2011). Herausforderungen des demografischen Wandels. Expertise im Auftrag der Bundesregierung, Wiesbaden. Stand: Mai 2011. STATISTISCHES BUNDESAMT (2009). 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. November 2009 in Berlin. ZIMMERMANN, Klaus F. (2004). Demografie, Zuwanderung, Arbeitsmarkt. Brauchen wir eine selektive Zuwanderungspolitik ? In: Wirtschaft & Wissenschaft (W&W), 1. Quartal 2004, S. 52-61. ZIMMERMANN, Klaus F. (2010). Deutschland braucht auf Dauer Fachkräfte – auch durch Zuwanderung. In: Wochenbericht des DIW Nr. 46/2010. ZIMMERMANN, Klaus F. (2011). Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 21. Februar 2011