© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 099/19 Rentenleistungen für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 099/19 Seite 2 Rentenleistungen für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 099/19 Abschluss der Arbeit: 29. Juli 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 099/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Frühere Anwendung des Eingliederungsprinzips 4 2. Rechtsänderung durch das Renten-Überleitungsgesetz 4 3. Einwendungen durch betroffene Personen 5 4. Schlussfolgerungen 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 099/19 Seite 4 1. Frühere Anwendung des Eingliederungsprinzips In Ostdeutschland zurückgelegte Zeiten einer Erwerbstätigkeit wurden in der westdeutschen Rentenversicherung für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR vor 1992 nach § 15 i. V. m. § 17 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) in der jeweils geltenden Fassung als Beitragszeiten anerkannt. Die Bewertung dieser Beitragszeiten richtete sich gemäß § 22 Abs. 1 FRG nach dem Eingliederungsprinzip und erfolgte über die Tabellenentgelte der Anlage 1-16 FRG, durch die die Berechtigten so gestellt wurden, als hätten sie ihre bisherige Erwerbsbiographie in Westdeutschland zurückgelegt. Insoweit wurden Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR rentenrechtlich so behandelt wie Vertriebene aus den früheren deutschen Ostgebieten und deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa. Die Einstufung in die Leistungsgruppen und die daraus folgende Berücksichtigung der FRG-Tabellenentgelte wurden von den Rentenversicherungsträgern durch bindenden Bescheid festgestellt. Das Fremdrentenrecht war nach dem Umbruch im östlichen Mittel- und Osteuropa in den Jahren 1989/1990 und der Wiedervereinigung Deutschlands an die neue Lage anzupassen. Bereits im Jahre 1990 wurde angenommen, dass die historisch begründete Legitimation des dem FRG zugrunde liegenden, auf Kriegs- und Nachkriegsereignissen wie Flucht und Vertreibung beruhenden Eingliederungsprinzips mit den eingetretenen politischen, rechtlichen und tatsächlichen Veränderungen entfallen war.1 Infolgedessen wurde auch die Abschaffung des FRG, dessen Grundlage in Frage zu stellen war, diskutiert.2 Die wesentlichen Neuregelungen erfolgten durch das Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz - RÜG) vom 25. Juli 1991. Die Anwendung des FRG wurde danach nur für Vertriebene und Aussiedler beibehalten, wobei dies mit deutlichen Einbußen verbunden ist. Die in der DDR von Übersiedlern und Flüchtlingen zurückgelegten Zeiten werden dagegen nunmehr nach denselben Maßstäben bewertet wie die von Versicherten, die die DDR nie verlassen haben. 2. Rechtsänderung durch das Renten-Überleitungsgesetz Bereits mit Artikel 23 § 1 des Gesetzes zum Staatsvertrag war die Anwendung des FRG auf in Ostdeutschland zurückgelegte Zeiten vor dem 19. Mai 1990 für Personen, die sich bereits am 18. Mai 1990 gewöhnlich in Westdeutschland aufgehalten haben, begrenzt worden. Für vor dem 19. Mai 1990 nach Westdeutschland zugezogene Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR ist das Fremdrentenrecht aufgrund der Neufassung des § 15 Abs. 1 FRG und der Streichung des § 17 Abs. 1 FRG in der vor 1992 geltenden Fassung durch Art. 14 RÜG nicht mehr anwendbar. Anstelle der Eingliederung in die westdeutsche Rentenversicherung nach dem Fremdrentenrecht ist die Anerkennung der in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten nunmehr in § 248 Abs. 3 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelt. So stehen den Beitragszeiten nach Bundesrecht Zeiten nach dem 8. Mai 1945 gleich, für die Beiträge zu einem System der gesetzlichen 1 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Bundestags-Drucksache 11/7171, S. 39. 2 Vgl. Steffan, Ralf „Harmonisierungsbedarf im (Fremd-)Rentenrecht“ in: Zeitschrift für Politik und Recht, 1991/1, S. 12 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 099/19 Seite 5 Rentenversicherung nach vor dem Inkrafttreten von Bundesrecht geltenden Rechtsvorschriften gezahlt worden sind. In der DDR gezahlte Beiträge zur Sozialpflichtversicherung und zur Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) stehen insoweit den nach Bundesrecht gezahlten Beiträgen gleich. Der Rentenberechnung liegen vor allem die Entgelte zugrunde, für die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden sind. Hierzu werden gemäß § 70 Abs. 1 SGB VI Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage, also der durch Beiträge versicherte Verdienst, durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten für dasselbe Kalenderjahr geteilt wird. Hinsichtlich der Berücksichtigung der in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten sind die Sonderregelungen der §§ 256a ff. SGB VI zu beachten. Danach sind grundsätzlich die in der Sozialpflichtversicherung und FZR versicherten sowie die über der seinerzeit in der DDR geltenden Beitragsbemessungsgrenze liegenden Verdienste zu berücksichtigen. Lediglich für zum Zeitpunkt der Rentenüberleitung rentennahe, vor 1937 geborene Jahrgänge kommen nach § 259a SGB VI anstelle des tatsächlichen durch Beiträge versicherten Verdienstes weiterhin die Tabellenentgelte der Anlagen 1-16 FRG zum Tragen. Ferner sind gemäß § 254d Abs. 2 Nr. 1 SGB VI für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR die für Westdeutschland geltenden Berechnungswerte maßgeblich . Damit wirken sich die noch immer bestehenden unterschiedlichen Einkommensverhältnisse in Ost und West für diese nicht aus. Nach Artikel 38 des Renten-Überleitungsgesetzes sind Bescheide, die außerhalb einer Rentenbewilligung aufgrund des Fremdrentenrechts Feststellungen getroffen haben, danach zu überprüfen , ob sie mit den zum Zeitpunkt des Rentenbeginns geltenden Vorschriften des SGB VI und des Fremdrentenrechts übereinstimmen. Das Fremdrentenrecht ist im Fremdrenten- und Auslandsrenten -Neuregelungsgesetz (FANG), das das Fremdrentengesetz (FRG) beinhaltet, geregelt. Es ist jeweils die zum Rentenbeginn maßgebende Fassung des SGB VI und des Fremdrentenrechts anzuwenden . Der frühere Bescheid über die Eingliederung in die westdeutsche Rentenversicherung ist gegebenenfalls im Rentenbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen der §§ 24 und 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), also ohne Anhörung der Betroffenen und Einhaltung von Schutzfristen, aufzuheben. Dies ist insbesondere für Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR der Fall, da das FRG für sie keine Anwendung mehr findet. 3. Einwendungen durch betroffene Personen Durch die Abkehr vom Eingliederungsprinzip und der Rentenbemessung nach dem tatsächlich in der DDR versicherten Verdienst kann es in bestimmten Fällen zu geringeren Rentenbeträgen kommen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn von der Möglichkeit Beiträge zur FZR zu zahlen kein Gebrauch gemacht wurde. Andererseits gibt es auch Versicherte, für die die Anwendung des geltenden Rechts günstiger ist. So ist beispielsweise das Eingliederungsprinzip für Frauen wegen der für sie geringeren Tabellenentgelte häufig weniger vorteilhaft. Von Rentenminderungen Betroffene haben sich in der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR- Flüchtlinge zusammengeschlossen und in zahlreichen Gerichts- und Petitionsverfahren auf eine Änderung der Rechtsanwendung beziehungsweise der gesetzlichen Regelungen gedrungen. Die Rechtsanwendung ist schließlich in gerichtlichen Verfahren geprüft und nicht beanstandet worden. So führt das Bundessozialgericht mit Urteil vom 14. Dezember 2011, Az. B 5 R 36/11 R, Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 099/19 Seite 6 aus, es begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass in der DDR zurückgelegte Pflichtbeitragszeiten nicht auf Grund des Fremdrentengesetzes zu bewerten sind. Eine hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13. Dezember 2016, Az. 1 BvR 713/13, nicht angenommen. Dabei hat es sich unter anderem auch mit der Frage der Zulässigkeit der mit der Abkehr vom Eingliederungsprinzip verbundenen unechten Rückwirkung auseinandergesetzt. Schließlich hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine eingereichte Beschwerde mit dem Az. 52872/17 am 13. November 2017, offenbar nicht aus formalen Gründen, als unzulässig verworfen. Auch der Deutsche Bundestag hat sich des Öfteren in unterschiedlichen Verfahren mit der Problematik der Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR beschäftigt. Aktuell liegt die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE. vom 28. Juni 2019 „Zur rückwirkenden Einbeziehung der DDR-Altübersiedlerinnen und DDR-Altübersiedler in die Gesetzgebung zur Rentenüberleitung“ (Bundestagsdrucksache 19/11250) vor. Seit mindestens der 13. Wahlperiode haben sich zahlreiche, aufgrund der Abkehr vom Eingliederungsprinzip von Rentenminderungen Betroffene an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages gewandt. Am 28. Juni 2012 hatte der Deutsche Bundestag nach einer Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses beschlossen, die Leitpetition der Bundesregierung – dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) – zur Erwägung zu überweisen und den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben, weil die Eingabe Anlass zu einem Ersuchen an die Bundesregierung gibt, das Anliegen noch einmal zu überprüfen und nach Möglichkeiten der Abhilfe zu suchen. In diesem Zusammenhang hat das BMAS im Jahre 2013 eine verfassungsrechtliche Ausarbeitung zur Frage einer möglichen rentenrechtlichen Neuregelung für DDR-Übersiedler/-innen in Auftrag gegeben.3 Im Ergebnis wäre danach eine Änderung im Sinne der von Rentenminderungen betroffenen Übersiedler und Flüchtlinge zwar unter bestimmten Voraussetzungen möglich, jedoch handele es sich um ein systematisch und rechtstechnisch schwieriges Gesetzesvorhaben, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Eine gesetzliche Neuregelung hat das BMAS bisher nicht angeregt. Vielmehr vertritt die Bundesregierung weiterhin die Ansicht, dass zum Adressatenkreis des RÜG alle Personen gehören, die in ihrer Erwerbsbiografie DDR-Jahre aufzuweisen haben, also auch die, die zum Zeitpunkt des Beitritts der damaligen DDR bereits Angehörige der (west-)deutschen Rentenversicherung waren. In der laufenden Wahlperiode ist ein neuerliches Petitionsverfahren anhängig, das als öffentliche Petition auf der Internetseite des Deutschen Bundestages behandelt wird.4 Auch parlamentarische Initiativen, eine Änderung der gesetzlichen Regelungen zugunsten der von Rentenminderungen betroffenen Übersiedler zu erreichen, haben in der Vergangenheit keine Mehrheit gefunden: Zuletzt wurde der Antrag der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE 3 Abrufbar auf der Internetseite der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge e.V. unter http://www.flucht-und-ausreise.info/dokumente/upload/864f4_2013-11-15_gutachten_bmas_kommentiert.pdf, zuletzt abgerufen am 25. Juli 2019. 4 Abrufbar unter https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2018/_06/_26/Petition_81823.nc.html, zuletzt abgerufen am 25. Juli 2019. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 099/19 Seite 7 GRÜNEN vom 11. Mai 2016 „DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersiedler sowie DDR-Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern“ (Bundestagsdrucksache 18/8429) mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD abgelehnt, da eine solche Neuregelung neue, gravierende Ungerechtigkeiten schaffte. 4. Schlussfolgerungen Die Beantwortung der Frage, ob eine Rückkehr zur Bewertung der in der DDR zurückgelegten Zeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung nach den FRG-Tabellenentgelten auch für nach 1936 geborene Übersiedler und Flüchtlinge angebracht ist, hängt davon ab, ob das in die Bestandskraft der früher erteilten Feststellungsbescheide nach dem FRG gesetzte Vertrauen der Betroffenen höher zu werten ist, als das Ziel der Rentenüberleitung, in ganz Deutschland ein einheitliches Rentenrecht zu schaffen. Die durch das RÜG erfolgte Ablösung des FRG für Übersiedler und Flüchtlinge verfolgte nachvollziehbar das Ziel einer einheitlichen Bewertung von in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten unabhängig vom Aufenthaltsort. Durch den Wechsel von der bisher für Übersiedler und Flüchtlinge berücksichtigten fiktiven westdeutschen auf die durch Beiträge versicherte ostdeutsche Lohnstruktur können sich jedoch für bestimmte Berufsgruppen Rentenminderungen ergeben, die so nicht beabsichtigt gewesen sein dürften. Besonders offenbart sich dies bei Versicherten, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Beiträge zur FZR gezahlt haben. Besonders benachteiligt fühlen sich Versicherte, die die DDR aus politischen Motiven verlassen haben. Die betroffenen Versicherten haben auf die vor der Wiedervereinigung per Bescheid von den Rentenversicherungsträgern vorgenommene Eingliederung in die westdeutsche Rentenversicherung vertraut. Es bestand aus Anlass der Rentenüberleitung auch keine Verpflichtung für eine rückwirkende Ablösung des FRG. Eine entsprechende Abwägung zwischen dem Vertrauen der Versicherten in den Bestand der Feststellungsbescheide nach dem FRG und dem Ziel einer einheitlichen Rechtsanwendung hat in den Gesetzgebungsverfahren zum RÜG und dem Gesetz zur Ergänzung der Rentenüberleitung (Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz - Rü-ErgG) vom 24. Juni 1993 nicht stattgefunden. Einer Änderung des geltenden Rechts könnte auch der inzwischen eingetretene Zeitablauf mit der damit verbundenen Rechtssicherheit entgegenstehen. Bisher hat sich der Deutsche Bundestag mehrheitlich gegen eine Neuregelung entschieden. Letztlich das in die Bestandskraft der früher erteilten Feststellungsbescheide gesetzte Vertrauen höher zu werten, als die mit der Rentenüberleitung bezweckte einheitliche Rentenbemessung der in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten, ist vor allem eine politische Wertung. ***