© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 091/19 Änderungen durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht im Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums 6 3.2. Bemessung der Leistung 7 3.3. Leistungshöhe evident unzureichend 7 3.4. Fehlen eines inhaltlich transparenten Verfahrens 8 3.5. Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts 8 4. Bewertung 9 4.1. Neuregelungen, Gesetzesbegründung und Antwort auf eine Kleine Anfrage 9 4.1.1. Neugeregelte Leistungseinschränkungen für die Verletzung von Mitwirkungspflichten im Asylverfahren und Gesetzesbegründung 9 4.1.2. Neuregelung des Leistungsausschlusses und von Überbrückungsleistungen, Gesetzesbegründung und Antwort auf eine Kleine Anfrage 11 4.2. Anhörung vom 3. Juni 2019 im Ausschuss für Inneres und Heimat 13 4.3. Rechtsprechung 16 4.3.1. Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. September 2017 16 4.3.2. Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Mai 2017 17 4.3.3. Aktuelle Rechtsprechung zu § 1a AsylbLG 19 4.4. Diskussion im juristischen Schrifttum zu § 1a AsylbLG in vorhergehenden Fassungen 22 4.4.1. Unverfügbarkeit des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum 22 4.4.2. Verfassungsmäßigkeit der Anspruchseinschränkungen 23 4.4.2.1. Einheitliches Grundrecht auf menschenwürdiges physisches und soziokulturelles Existenzminimum 24 4.4.2.2. Migrationspolitische Erwägungen 26 4.4.2.3. Notwendiger Bedarfsbezug 28 4.4.2.4. Anknüpfung einer Anspruchseinschränkung an ein bestimmtes Verhalten 29 5. Anhängige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch 30 6. Fazit 32 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 4 1. Einleitung Mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 traten neben weiteren Regelungen auch Neuregelungen im Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, wie diese Neuregelungen im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 20121 zu beurteilen sind. Dabei geht es zum einen um Neuregelungen in § 1a Abs. 5 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)2 und zum anderen um die Neuregelung in § 1 Abs. 4 AsylbLG. Aufgrund der Komplexität der Thematik wird nachfolgend lediglich ein Überblick über die aktuelle Gesetzeslage, die Rechtsprechung, die Materialien des Gesetzgebungsverfahrens und in der juristischen Literatur vertretene Auffassungen gegeben. 2. Entstehung des Asylbewerberleistungsgesetzes Das Asylbewerberleistungsgesetz trat am 1. November 1993 in Kraft. Leistungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und weitere Flüchtlingsgruppen wurden aus dem Bundessozialhilfegesetz herausgenommen und durch das Asylbewerberleistungsgesetz neu geregelt.3 Mit diesem Gesetz bestand eine eigenständige gesetzliche Grundlage für Umfang und Form der Leistungen für Asylsuchende und andere Ausländerinnen und Ausländer, die sich typischerweise vorübergehend , also ohne verfestigten ausländerrechtlichen Status, in Deutschland aufhalten. Das Gesetz wurde in der Vergangenheit mehrfach geändert. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 19984 wurde neben weiteren Änderungen erstmals eine Regelung zur Anspruchseinschränkung in das Gesetz aufgenommen, der für den Personenkreis der zur Ausreise verpflichteten Leistungsberechtigten und deren Familienangehörige galt. Hatten diese sich in die Bundesrepublik begeben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen, konnten sie Leistungen nur erhalten, soweit dies im Einzelfall 1 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -. 2 Asylbewerberleistungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) geändert worden ist. 3 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, Einleitung, Rn. 2. 4 Zweites Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2505). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 5 nach den Umständen unabweisbar geboten war. Dies galt ebenso, wenn aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten.5 In der Folgezeit unterlag das Asylbewerberleistungsgesetz weiteren Änderungen. Grundlegend ist die aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 erfolgte Gesetzesänderung vom 10. Dezember 2014.6 Aber auch danach erfolgten mehrfach Änderungen des Gesetzes, so etwa durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 20157, mit dem unter anderem § 1a AsylbLG neu gefasst wurde. Mit dem Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 wurden neben anderen Bestimmungen erstmals Regelungen für eine Anspruchseinschränkung im Falle des zu vertretenen Unterlassens von bestimmten Mitwirkungspflichten für Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Asylfolgeantragstellerinnen und Asylfolgeantragsteller im Asylverfahren eingeführt.8 Zuletzt wurde das Asylbewerberleistungsgesetz durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 13. August 20199 und das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 201910 geändert. 3. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 In seinem Urteil vom 18. Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022) für evident unzureichend zur Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums erklärt. Die dem Gericht zur Entscheidung vorgelegten Vorschriften seien nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar.11 Das Gericht ver- 5 Die Regelung des § 1a AsylbLG in der damaligen Fassung lautete: „Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 und ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6, 1. die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen , oder 2. bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, erhalten Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.“ 6 Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2187). 7 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722). 8 Vgl. Bundestags-Drucksache 18/8615 vom 31. März 2016, Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, Entwurf eines Integrationsgesetzes, S. 35. 9 Drittes Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 13. August 2019 (BGBl. I S. 1290). 10 Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294). 11 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, 1. Leitsatz, Tenor (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 6 pflichtete den Gesetzgeber, unverzüglich für den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu schaffen. 3.1. Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums Wie bereits in seinem Urteil zu den Regelleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch vom 9. Februar 201012 stellt das Bundesverfassungsgericht auch in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2012 fest, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt. „Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern.“13 Der Anspruch stehe als Menschenrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiere ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze und sie in Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden könne. Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstrecke sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich seien. Er gewährleiste das gesamte Existenzminimum und umfasse sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.14 Die Gewährleistung dieses menschenwürdigen Existenzminimums müsse durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert und so ausgestaltet sein, dass es stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträges decke.15 Zwar sei der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben, sein Umfang könne jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Dies sei vom Gesetzgeber zu bestimmen, der bei den diesbezüglichen Wertungen über einen Gestaltungsspielraum verfüge. Er habe diese Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten.16 Ihm obliege es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichere, bleibe grundsätzlich ihm überlassen. Der ihm zukommende Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der 12 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -,- 1 BvL 3/09 -,- 1 BvL 4/09 -. 13 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 62 (zitiert nach juris). 14 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 64 (zitiert nach juris). 15 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 65 (zitiert nach juris). 16 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 62 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 7 Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums umfasse dabei die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Er sei enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiere, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehe.17 3.2. Bemessung der Leistung Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssten, so das Gericht, in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf begründet werden können.18 Durch das Grundgesetz sei insofern keine bestimmte Methode für die Ermittlung der Bedarfe und der Leistungsberechnung vorgegeben. Vielmehr dürfe der Gesetzgeber die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Würden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, müsse dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein.19 Dem Gesetzgeber stehe es offen, bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen zu berücksichtigen, allerdings dürfe er bei der konkreten Ausgestaltung nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Dies sei nur insofern möglich, als der Bedarf dieser Personengruppe von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne.20 3.3. Leistungshöhe evident unzureichend Das Gericht stellte fest, dass die verfahrensgegenständlichen Geldleistungen nach § 3 AsylbLG in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022) evident unzureichend seien, da sie trotz erheblicher Preissteigerungen seit Inkrafttreten des Gesetzes 1993 nicht verändert worden seien.21 Der erhebliche Abstand der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch offenbare ein Defizit der Leistungen der menschenwürdigen Existenz.22 Diese evident unzureichende Höhe lasse sich auch nicht durch § 6 AsylbLG in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022) kompensieren, da diese Regelung eine Ausnahmebestimmung für den atypischen Bedarfsfall sei und daher nicht geeignet sei, strukturelle Leistungsdefizite im Regelbereich des 17 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 67 (zitiert nach juris). 18 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - , - 1 BvL 2/11 - , Rn. 69 (zitiert nach juris). 19 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - , - 1 BvL 2/11 - , Rn. 71 (zitiert nach juris). 20 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - , - 1 BvL 2/11 - , Rn. 73 (zitiert nach juris). 21 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - , - 1 BvL 2/11 - , Rn. 81 f. (zitiert nach juris). 22 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - , - 1 BvL 2/11 - , Rn. 86 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 8 § 3 AsylbLG in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022) auszugleichen .23 3.4. Fehlen eines inhaltlich transparenten Verfahrens Das Bundesverfassungsgericht kam ferner zu dem Ergebnis, dass die zur Entscheidung stehenden Leistungen nicht realitätsgerecht und begründbar bemessen seien. Sie seien nicht in einem inhaltlich transparenten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf bemessen; der Bestimmung der Leistungshöhe lägen keine verlässlichen Daten zugrunde. Der Gesetzgeber habe sich auf eine bloße Kostenschätzung gestützt. Dies stehe mit den Anforderungen des Grundgesetzes an die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz nicht in Einklang.24 Ohne hinreichend verlässliche Grundlage bleibe insbesondere auch die dem Gesetz ersichtlich zugrunde liegende Annahme, dass eine kurze Aufenthaltsdauer die begrenzte Leistungshöhe rechtfertige.25 In diesem Zusammenhang führt das Gericht aus, dass auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland nicht rechtfertige, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Das Existenzminimum müsse in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Art. 1 Abs. 1 GG garantiere ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern sei, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht.26 Ausländische Staatsangehörige verlören den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten. Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz müsse daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden .27 Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, könnten von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren.28 3.5. Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hielt bis zur entsprechenden Neuregelung durch den Gesetzgeber eine ab dem 1. Januar 2011 geltende Übergangsregelung zur Bestimmung der existentiellen Bedarfe für geboten. Das Gericht griff hierfür auf eine entsprechende Anwendung des Gesetzes 23 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - , - 1 BvL 2/11 -, Rn. 89 (zitiert nach juris). 24 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 90 (zitiert nach juris). 25 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 92 (zitiert nach juris). 26 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 94 (zitiert nach juris). 27 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 94 (zitiert nach juris). 28 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 95 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 9 zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz - zurück.29 4. Bewertung 4.1. Neuregelungen, Gesetzesbegründung und Antwort auf eine Kleine Anfrage Teil der Regelungen des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 sind Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes, mit denen unter anderem neue Leistungsbeschränkungen wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren eingeführt werden. Für bestimmte Fälle der Sekundärmigration ist zudem der weitgehende Ausschluss von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehen; es besteht nur noch ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen. 4.1.1. Neugeregelte Leistungseinschränkungen für die Verletzung von Mitwirkungspflichten im Asylverfahren und Gesetzesbegründung Gemäß § 1a AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte unter bestimmten Voraussetzungen nur eingeschränkte Leistungen. Durch die Gesetzesänderungen wurde der Katalog der Fälle, in denen Leistungseinschränkungen möglich sind, erweitert. Es wurden unter anderem neue Tatbestände wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren (§ 1a Abs. 5 AsylbLG) eingeführt. Den Änderungen liegen zum Teil ihrerseits durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht neu eingeführte Mitwirkungspflichten im Rahmen des Asylverfahrens zu Grunde. Eingeschränkte Leistungen umfassen gemäß § 1a Abs. 1 AsylbLG Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege . Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG besteht nicht. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG gewährt werden. Ausgeschlossen beispielsweise sind damit im Regelfall Grundleistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zur Deckung des Bedarfs an Kleidung, Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts sowie Leistungen zur Deckung weiterer persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG). Ebenfalls ausgeschlossen sind sonstige Leistungen, die über die Grundleistungen hinausgehen und gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich , zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind, § 6 AsylbLG. Auch der Anspruch auf regelmäßig höhere Leistungen entsprechend dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nach einem Aufenthalt von 18 Monaten im Bundesgebiet (vgl. § 2 AsylbLG) entfällt. 29 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 100 ff. (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 10 Gemäß § 1a Abs. 5 Nr. 1 AsylbLG sind nunmehr auch Leistungseinschränkungen vorgesehen, wenn Leistungsberechtigte ihrer Pflicht nach § 13 Abs. 3 Satz 3 des Asylgesetzes (AsylG)30, unverzüglich an der Grenze oder nach unerlaubter Einreise einen Asylantrag zu stellen, nicht nachkommen. Anspruchseinschränkungen greifen nach § 1a Abs. 5 Nr. 2 AsylbLG auch, wenn Leistungsberechtigte ihre Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG, ihren Pass oder Passersatz den zuständigen Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen, verletzen. Bislang war die Einschränkung auf Fälle beschränkt, in denen die Leistungsberechtigten erforderliche Unterlagen zu ihrer Identitätsklärung, die in ihrem Besitz sind, nicht vorlegen, aushändigen oder überlassen. Darüber hinaus werden die Leistungen nach § 1a Abs. 5 Nr. 3 AsylbLG beschränkt, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellt hat, dass Leistungsberechtigte ihre Pflicht laut § 15 Abs. 2 Nr. 5 AsylG, alle erforderlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, die in ihrem Besitz sind, den zuständigen Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen, verletzt haben. Dies gilt gemäß § 1a Abs. 5 Nr. 4 AsylbLG ebenfalls bei einer Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass Leistungsberechtigte im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes ihrer Verpflichtung nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken und auf Verlangen alle Datenträger, die für die Feststellung ihrer Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können und in deren Besitz sie sind, den zuständigen Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen, nicht nachgekommen sind. Der Katalog in § 1a Abs. 5 AsylbLG wird schließlich auf die Fälle erweitert, in denen Leistungsberechtigte gegen ihre Pflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG, die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden, verstoßen, § 1a Abs. 5 Nr. 5 AsylbLG.31 In der Gesetzesbegründung wird zu diesen Neuregelungen ausgeführt, dass damit die bis dahin bestehenden Regelungen zu Mitwirkungspflichten während des Asylverfahrens erweitert und konkretisiert werden. Zukünftig könne die Verletzung von Mitwirkungspflichten während des Asylverfahrens in größerem Umfang als bisher zu Leistungseinschränkungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz führen. Diese Einschränkungen würden unter Beachtung der Voraussetzungen aus der so genannten Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU)32 erfolgen. Durch die Änderung werde die Regelung in § 1a Abs. 5 AsylbLG zu den besonders gravierenden Verstößen im Asylverfahren, die zu Anspruchseinschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz führen, vervollständigt . So sei eine Anspruchseinschränkung für den Fall aufgenommen worden, dass gegen die in § 13 Abs. 3 Satz 3 AsylG neu geregelte Pflicht verstoßen wurde, einen Asylantrag so bald 30 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 45 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1307) geändert worden ist. 31 Bundestags-Drucksache 19/10047 vom 10. Mai 2019, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 52. 32 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 96-116. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 11 wie vernünftigerweise möglich nach Einreise in Deutschland zu stellen. Dies finde seine Grundlage in Art. 20 Abs. 3 der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU). Danach könnten Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken, wenn sie nachweisen können, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft in dem betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.33 4.1.2. Neuregelung des Leistungsausschlusses und von Überbrückungsleistungen, Gesetzesbegründung und Antwort auf eine Kleine Anfrage Gemäß § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG haben Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG (vollziehbar Ausreisepflichtige, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist), denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG internationaler Schutz gewährt worden ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn der internationale Schutz fortbesteht. An einem Verteilmechanismus teilnehmende Drittstaaten im Sinne des § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG sind Nicht-EU Staaten, die die Verordnung (EU) 604/2013 (sog. Dublin III-Verordnung)34 anwenden und an einem durch Organe der Europäischen Union beschlossenen, von den Regelzuständigkeiten der Dublin-III-Verordnung abweichenden Mechanismus zur Verteilung von Asylsuchenden auf andere Mitgliedstaaten bzw. Drittstaaten teilnehmen (sog. Umsiedlung bzw. „relocation“).35 Hilfebedürftige Ausländer in diesem Sinne erhalten bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von zwei Wochen, nur eingeschränkte Hilfen, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen). Die Überbrückungsleistungen werden nur einmalig innerhalb von zwei Jahren geleistet, wobei die Zweijahresfrist mit dem Erhalt der Überbrückungsleistung beginnt, § 1 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG. Die Überbrückungsleistungen umfassen die Leistungen nach § 1a Abs. 1 AsylbLG sowie § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AsylbLG und sollen als Sachleistungen erbracht werden, § 1 Abs. 4 Satz 4 und 5 AsylbLG. § 1 Abs. 4 Satz 6 AsylbLG enthält eine Härtefallregelung. Demnach werden Leistungsberechtigten , soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, zur Überwindung einer besonderen Härte auch andere Leistungen nach §§ 3, 4 und 6 AsylbLG gewährt. Zudem sind Leistungen auch über einen Zeitraum von zwei Wochen hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund 33 Bundestags-Drucksache 19/10047 vom 10. Mai 2019, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 3, 26. 34 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), Abl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31-59. 35 Bundestags-Drucksache 18/6386 vom 14. Oktober 2015, Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD - Drucksache 18/6185 -, Entwurf eines Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes et al., S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 12 besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Auf Antrag werden neben den Überbrückungsleistungen auch die angemessenen Kosten der Rückreise (in Form eines Darlehens) übernommen, § 1 Abs. 4 Satz 7 und 9 AsylbLG. In der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 1 Abs. 4 AsylbLG ist ausgeführt, dass die Neuregelung auf dem Umstand beruhe, dass es sich bei dem betroffenen Personenkreis grundsätzlich um Ausländerinnen und Ausländer handele, bei denen typisierend davon auszugehen sei, dass sie erst vor sehr kurzer Zeit nach Deutschland eingereist seien. Daher sei die Annahme gerechtfertigt , dass es für sie im Regelfall mit keinem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden sei, Deutschland kurzfristig wieder zu verlassen und in das Land zurückzukehren, durch das ihnen internationaler Schutz gewährt worden sei, solange dieser Schutz fortbestehe. Härtefällen werde durch die Regelungen in den Sätzen 5 bis 8 Rechnung getragen.36 In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.37 ist im Hinblick auf die Frage der Vereinbarkeit der Neuregelung mit verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben ausgeführt, dass dies intensiv geprüft worden sei. Die Regelung sei nicht unangemessen und entspräche im Wesentlichen der bereits im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch normierten Leistungseinschränkung für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ohne rechtmäßigen Aufenthalt bzw. Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht in Deutschland sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableite. Dass in einer solchen Situation nach EU-Recht für diese Personen kein Anspruch auf Sozialhilfe bestehe, habe der Europäische Gerichtshof in diversen Entscheidungen bestätigt. Somit werde nun im Asylbewerberleistungsgesetz für in anderen EU-Staaten anerkannte Ausländerinnen und Ausländer eine vergleichbare Regelung geschaffen, wie sie bereits für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger existiere. Dabei sei zu berücksichtigen, dass Personen, denen bereits internationaler Schutz in einem anderen EU-Staat zuerkannt worden sei, nach der so genannten Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU)38 sowohl Anspruch auf die notwendigen Sozialhilfeleistungen wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats als auch grundsätzlich uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt in dem zuständigen EU-Staat hätten. Im Übrigen trage die Neuregelung im Asylbewerberleistungsgesetz - wie die existierende Regelung im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger - auch Härtefällen Rechnung. Danach könnten unter den näher geregelten Voraussetzungen auch Leistungen über einen Zeitraum von zwei Wochen hinaus erbracht werden. Ferner gelte die Regelung nur für Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind. Für 36 Bundestags-Drucksache 19/10047 vom 10. Mai 2019, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, S. 51. 37 Bundestags-Drucksache 19/12777 vom 28. August 2019, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. auf der Bundestags-Drucksache 19/12227, Streichung von Leistungen für Asylsuchende im europäischen Kontext, S. 5. 38 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. L 337 vom 20.Dezember 2011, S. 9-26. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 13 Asylbewerberinnen und Asylbewerber (Asylsuchende während eines laufenden Asylverfahrens, also Schutzsuchende) sowie für Geduldete gelte die Regelung nicht. 4.2. Anhörung vom 3. Juni 2019 im Ausschuss für Inneres und Heimat Dass zu der Frage der Vereinbarkeit der genannten Neuregelungen mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, wurde auch in der im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens durchgeführten öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat am 3. Juni 2019 und den dazu von den Sachverständigen im Vorfeld erstellten Stellungnahmen deutlich. So wurde vom Paritätischen Gesamtverband in der Anhörung und in seiner Stellungnahme vom 29. Mai 2019 insbesondere ausgeführt, dass die Regelung des § 1 Abs. 4 AsylbLG eine Form des „gesetzlich normierten Aushungerns“ darstelle, die eindeutig migrationspolitisch motiviert sei und gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoße.39 Dies sei, ebenso wie die weiteren Leistungskürzungen, mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu vereinbaren. Die Grundrechtsverletzungen durch die Ausweitung von Leistungskürzungen und die Einführung von Leistungsstreichungen lägen umso deutlicher auf der Hand, als bei einer Vielzahl der im Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehenen Leistungskürzungen die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet sanktioniert werde und somit für die Betroffenen keinerlei Möglichkeit bestehe, durch die Korrektur eines „Fehlverhaltens“ wieder in den Genuss ungekürzter Leistungen gelangen zu können.40 Die Regelung des § 1 Abs. 4 AsylbLG sei im Übrigen völlig unverhältnismäßig, da man diese Betroffenen sehenden Auges in die aufenthaltsrechtliche Illegalität schicke, mit allen Folgen, die das haben werde und dies, da keine Ausnahmeregelung vorgesehen sei, auch Familien mit Kindern beträfe.41 Auch vom Deutschen Anwaltsverein wurde die Neuregelung in § 1 Abs. 4 AsylbLG kritisch gesehen . Insbesondere werde durch die Neuregelungen in § 1 Abs. 4 und § 1a Abs. 4 und Abs. 7 AsylbLG Sekundärmigration ohne weiteres mit Sozialleistungsmissbrauch gleichgesetzt, ohne die jeweiligen Motive oder besonderen Umstände des Einzelfalls berücksichtigen zu können . Dieser generalpräventive Ansatz, Zuwanderungsanreize und -prozesse zu steuern und ihnen zu begegnen, erlaube jedoch keine Absenkung der Sozialleistungen. Das Bundesverfassungsgericht habe unmissverständlich klargestellt, dass migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch einen im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen könne. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei dem Grunde nach unverfügbar und müsse unabhängig von der Aufenthaltsdauer und Aufenthaltsperspektive durch einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch gewährleistet werden. Er knüpfe an den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet an, selbst wenn dieser nicht rechtmäßig 39 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 7, 77. 40 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 7, 91 ff. 41 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 14 sei.42 Der vom Aufenthaltsstatus unabhängige Anspruch sei innerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes zu verwirklichen. Die schlichte Möglichkeit der Ausreise lasse den Bedarf an existenzsichernden Leistungen bis zum Zeitpunkt der Ausreise nicht entfallen. Ein Leistungsausschluss unter Verweis auf „Überbrückungsleistungen“, die nicht der Existenzsicherung dienten, sondern als „aliud-Leistungen“ allein zur Ausreise zu gewähren seien, lasse sich nicht rechtfertigen . Die vom Gesetzgeber durch den Leistungsausschluss beabsichtigte „Lenkungswirkung“ sei eindeutig migrationspolitisch und nicht bedarfsorientiert motiviert. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dürfe aber nicht von der Möglichkeit zur Rückkehr in das Herkunftsland abhängig gemacht werden.43 Speziell in Bezug auf die Regelungen zur Anspruchseinschränkung wegen der Verletzung von Mitwirkungspflichten im Asylverfahren wird in der Stellungnahme ausgeführt, dass diese Verstöße keinen Bezug zur Feststellung des Bedarfs oder Überwindung der Hilfebedürftigkeit hätten. Vielmehr werde eine uneingeschränkte Leistungsgewährung an die Erfüllung der Mitwirkungspflichten geknüpft. Ein leistungsmissbräuchliches Verhalten sei nicht Voraussetzung für eine Anspruchskürzung. Der Menschenwürdegrundsatz verbiete jedoch eine Instrumentalisierung des Leistungsrechts zu sach- und bedarfsfremden Zwecken. Es fehlten zudem Mindeststandards für die Verfahrensschutzvorschriften. Ferner wurde kritisiert, dass nur dann eine Leistungsabsenkung nicht erfolge, wenn es dem Betroffenen gelänge, sich zu exkulpieren. Der Ansatz, dass gravierende und in das Existenzminimum einschneidende Leistungseinschränkungen an vermutetes Verschulden und eine vermutete Möglichkeit zur Mitwirkung anknüpften, sei nicht zulässig.44 In der dem Ausschuss übersandten Stellungnahme vom 29. Mai 2019 kommt Pro Asyl ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die in § 1 Abs. 4 AsylbLG vorgesehene Einschränkung der Leistungen als verfassungswidrig zu bewerten sei. Das Gesetz solle die unfairen Dublin-Regelungen mit Hunger und Obdachlosigkeit durchsetzen und weitere Menschen abschrecken. Dies sei mit den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 nicht zu vereinbaren.45 Die Gewerkschaft der Polizei kommt in ihrer, dem Ausschuss übersandten Stellungnahme vom 11. April 2019 zu dem Ergebnis, dass die vorgesehenen Änderungen des § 1a AsylbLG Kürzungen des Existenzminimums darstellten, die als „Verwaltungsstrafe“ für die Nichterfüllung von Verwaltungsauflagen unzulässig seien. Ebenso wie eine Kürzung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Mitwirkungspflichten grundsätzlich abgelehnt würde, würde dies auch für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gelten, die die Sicherung des verfassungsrechtlich verankerten Existenzminimums darstellten . Dies gelte in besonderem Maße für Kürzungen bei Personen, die gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Klage erhoben haben. Insofern solle hier der Ausgang des Verfahrens über die generelle Zulässigkeit von Leistungskürzungen als Sanktion für die Nichterfüllung von Verwaltungsauflagen abgewartet werden.46 In einem an alle Abgeordneten des 42 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 147. 43 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 148. 44 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 150 f. 45 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 225. 46 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 197. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 15 Deutschen Bundestages gerichteten Offenen Brief, kritisieren verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen gemeinsam insbesondere die in § 1 Abs. 4 AsylbLG vorgesehene Regelung zu den Überbrückungsleistungen im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 18. Juli 2012, da das Gesetz durch den Entzug von Sozialleistungen auf die Verdrängung in andere EU-Staaten setze, obwohl Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht Abschiebungen in Länder wie Griechenland, Italien und Bulgarien gestoppt hätten, weil dort für Asylsuchende und Flüchtlinge menschenrechtswidrige Zustände herrschten.47 Vom Deutschen Städte- und Gemeindebund wurde das Gesetz begrüßt.48 Grundsätzlich teilte auch das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen diese Auffassung. Insbesondere die Neuregelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden positiv bewertet.49 Diese Einschätzung wurde ebenso von der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände geteilt, wobei hier insbesondere noch Konkretisierungen in Bezug auf das Vorliegen einer „besonderen Härte“ in § 1 Abs. 4 AsylbLG angeregt wurden, ebenso wie eine Klarstellung, auf welche Fallkonstellationen sich § 1 Abs. 4 Satz 7 AsylbLG beziehe.50 Prof. Dr. Marcel Kau (Universität Konstanz) führte in der Anhörung und in seiner Stellungnahme vom 2. Juni 2019 im Zusammenhang mit der Einfügung eines neuen § 60b Aufenthaltsgesetz (AufenthG)51 aus, dass auch Leistungseinschränkungen vorgenommen werden könnten. Zwar sei für den Gesetzgeber bei Leistungseinschränkungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes wegen der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich Zurückhaltung geboten. Soweit in der Entwurfsbegründung jedoch auf die Bestimmungen der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) verwiesen werde, würden entsprechende Einwände unter dem Gesichtspunkt des deutschen Verfassungsrechts zurücktreten, da dieses unionsrechtlich überlagert werde. Dies werde insbesondere durch Art. 17 Abs. 5 der Richtlinie ermöglicht, der es den Mitgliedstaaten erlaube, Antragstellern eine weniger günstige Behandlung im Vergleich mit eigenen Staatsangehörigen zu Teil werden zu lassen, wenn materielle Unterstützung teilweise in Form von Sachleistungen gewährt werde. Darüber hinaus sehe Art. 20 der Richtlinie weitere Möglichkeiten vor, im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen einzuschränken oder zu entziehen. In jedem Fall sei es nach Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie jedoch erforderlich, dass Entscheidungen über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen jeweils für den Einzelfall, objektiv und unparteiisch sowie unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes getroffen und begründet würden. Dies müsse bei Entscheidungen nach § 1a Abs. 3 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 AsylbLG berücksichtigt werden. 47 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 186. 48 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 7 f., 117, 134. 49 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 8 f. 50 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 34 f. 51 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz - in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 54 Absatz 2 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1307) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 16 Vor diesem unionsrechtlichen Hintergrund und bei Einhaltung der verfahrensrechtlichen Anforderungen bestünden über die Zulässigkeit der mit der Duldung nach § 60b AufenthG eröffneten Möglichkeit zur Leistungsbeschränkung keine durchgreifenden Bedenken.52 Prof. Dr. Daniel Thym (Universität Konstanz) stellt fest, dass die mit dem Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen zur Absenkung bzw. Streichung von Asylbewerberleistungen keine Missachtung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts darstellten. Das damalige Urteil habe eine andere Personengruppe betroffen und sich zudem nicht mit den Besonderheiten der Reisefreiheit im Schengen-Raum befasst. Es gehe bei den Regelungen nicht darum, das verfassungsrechtliche Existenzminimum „migrationspolitisch zu relativieren“, weil die Argumente zugunsten einer Verfassungskonformität einen gedanklichen Schritt zuvor ansetzten. Er führte weiter aus, dass es gute Argumente gebe, wonach für Personen mit einer geringen Bindung an die deutsche Gesellschaft allgemein niedrigere Sätze zulässig seien und man speziell im Schengen-Raum die Sozialleistungen unter Umständen sogar ganz streichen könne. Dies würden Urteile verschiedener Landessozialgerichte bestätigen, die den Sozialleistungsausschluss von Unionsbürgern als verfassungskonform betrachteten. Hinzu käme, dass verletzte Mitwirkungspflichten von ausreisepflichtigen Personen, die künftig mit einer Leistungskürzung sanktioniert werden sollen, ebenso wie die verweigerte Rückreise in den zuständigen Mitgliedstaat mit den Sanktionen für Hartz IV- Empfänger bei verletzten Mitwirkungspflichten vergleichbar seien. Aus diesem Grund werde das anstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Sachfrage zugleich wichtige Hinweise tätigen, ob das Geordnete-Rückkehr-Gesetz verfassungskonform sei.53 4.3. Rechtsprechung Zunächst ist festzustellen, dass es bisher noch keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von Anspruchseinschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz gibt. Ebenso liegen noch keine gerichtlichen Entscheidungen zu den erfolgten Neuregelungen vor, so dass im Folgenden auf Entscheidungen zu vorgehenden Fassungen des § 1a AsylbLG eingegangen wird. 4.3.1. Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. September 2017 In einem Nichtannahmebeschluss vom 19. September 201754 hatte das Bundesverfassungsgericht wegen des Grundsatzes der Subsidiarität eine Verfassungsbeschwerde als unzulässig abgelehnt, die Grundrechtsverletzungen im Rahmen einer fachgerichtlichen Eilentscheidung kritisierte. Ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache sei nicht unzumutbar. Dazu hat es ausgeführt, dass sich zu der hier mittelbar aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201655) bis dahin weder Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorläge noch sich veröffentlichte Rechtsprechung der 52 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 113 f. 53 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat, S. 15, 67 f. 54 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17 -. 55 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 17 Landessozialgerichte finden ließe. Die bis dahin veröffentlichte oder im Rahmen des vorliegenden Verfahrens bekannt gewordene Rechtsprechung beträfe sämtlich Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Es könne die Durchführung des Hauptsacheverfahrens hier nicht von vornherein als aussichtslos angesehen werden, auch wenn die Fachgerichte der gerügten Grundrechtsverletzung nicht selbst abhelfen könnten.56 Ferner seien die einfachrechtlichen Fragen und die tatsächlichen Auswirkungen der gesetzlichen Regelung noch nicht ausreichend fachgerichtlich vorgeklärt . Nur eine solche fachgerichtliche Klärung verhindere, dass das Bundesverfassungsgericht genötigt wäre, auf ungesicherter Grundlage weitreichende Entscheidungen zu treffen. Auch wenn sozialrechtliche Grundleistungen betroffen seien, sei es grundsätzlich unabdingbar, dass die fachnahen Sozialgerichte zunächst die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Fragen beantworteten und die anwendbaren Regelungen verfassungsrechtlich überprüften. Dies sei bislang durch die nur vereinzelt und in einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit der Frage einer etwaigen Verfassungswidrigkeit von § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201657) befasste Rechtsprechung nicht erfolgt.58 4.3.2. Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Mai 2017 Das Bundessozialgericht hielt in seinem Urteil vom 12. Mai 201759 die Regelung des § 1a Nr. 2 AsylbLG (in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 199860) im Hinblick auf die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums für verfassungsrechtlich unbedenklich. Der zu entscheidende Fall betraf einen 2002 eingereisten, nach rechtskräftiger Ablehnung seines Asylantrags geduldeten Leistungsberechtigten , der nur noch gekürzte Sozialleistungen für den Lebensunterhalt erhielt, weil er seiner Mitwirkungspflicht bei der Pass- bzw. Passersatzbeschaffung trotz vielfacher Aufforderung nicht nachkam. Mithin wurden nur noch eingeschränkte Leistungen bewilligt unter Ausschluss jeglicher Barleistungen für die Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens. In seinem Urteil stellte das Bundessozialgericht fest, dass die an ein persönliches Fehlverhalten anknüpfende Anspruchseinschränkung weder aufgrund der Bindungswirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 noch aufgrund der dort entwickelten verfassungsrechtlichen Maßstäbe durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegne.61 Die Regelung selbst sei zum einen nicht Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewesen; von der Möglichkeit, weitere Bestimmungen eines Gesetzes, dessen Verfassungsmäßigkeit es zu beurteilen habe, gleichfalls für nichtig zu erklären, wenn diese aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz oder sonstigen Bundesrecht unvereinbar sind, habe das Bundesverfassungsgericht 56 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17 -, Rn. 6 f. (zitiert nach juris). 57 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). 58 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17 -, Rn. 9 (zitiert nach juris). 59 Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R - . 60 Zweites Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 1998 (BGBl I S. 2505), vgl. zum Wortlaut der Norm in der, dem Urteil zugrundeliegenden Fassung Rn. 4. 61 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R - , Rn. 25 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 18 keinen Gebrauch gemacht.62 Zum anderen verstoße die Regelung nicht gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung eröffne auch die Möglichkeit, die Leistungsgewährung an Voraussetzungen zu knüpfen. Weder das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip forderten eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums . Leistungseinschränkungen seien daher gegenüber dem durch den Menschenwürdeschutz und das Sozialstaatsprinzip vorgegebenen Niveau nicht generell und als solche unzulässig. Sofern diese an die Nichteinhaltung rechtlich zulässiger Voraussetzungen geknüpft seien, werde die staatliche Verantwortung gelockert; sie rechtfertige eine Absicherung auf einem niedrigeren Niveau. Dies gelte insbesondere für ein System eingeschränkter Leistungen als Reaktion auf festgestellte Obliegenheitsverletzungen oder Verletzungen anderweitiger gesetzlicher Mitwirkungspflichten . Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehindert, die Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung solcher Pflichten zu knüpfen und bei deren Verletzung leistungsrechtliche Minderungen vorzusehen. Er dürfe die uneingeschränkte Leistungsgewährung von der Rechtstreue des einzelnen abhängig machen. Wo Leistungen rechtsmissbräuchlich bezogen würden, sei daher von Verfassungs wegen nicht grundsätzlich zu beanstanden, dass diese Leistungen auch unterhalb das Niveau des typisierend bestimmten Existenzminimums abgesenkt oder mit Einschränkungen ausgestaltet würden. Die verfassungsrechtliche Grenze bilde dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Gesetzes- und Obliegenheitsverletzungen eines Leistungsberechtigten entließen den Staat nicht vollständig aus seiner leistungsrechtlichen Verpflichtung.63 Mit der Regelung werde der Maßstab der Existenzsicherung als solcher nicht verändert und auch nicht - im Sinne des Bundesverfassungsgerichts - migrationspolitisch relativiert. Die Vorschrift knüpfe allein an ein missbräuchliches Verhalten in der Verantwortung des Einzelnen an, dessen Aufgabe dieser jederzeit in der Hand habe, nicht dagegen an generell-abstrakt gefasste migrationspolitische Erwägungen, das Leistungsniveau niedrig zu halten. Ziel der Vorschrift sei damit in erster Linie, einen rechtsmissbräuchlichen Leistungsbezug im Einzelfall zu verhindern.64 Die Anspruchseinschränkung sei auch verhältnismäßig. Die Mitwirkung an der Beschaffung von Ausweispapieren als Voraussetzung für die Ausreise entspräche zwar regelmäßig nicht dem Willen des Leistungsberechtigten, zwinge ihn jedoch auch nicht dazu, eine entsprechende „Willensbildung “ vorzutäuschen oder zu entwickeln, sondern zu einem Verhalten, das an den Ausgang eines nach rechtsstaatlichen Maßstäben geführten Asylverfahrens anknüpfe. Ferner knüpfe der Gesetzgeber nicht an den Erfolg einer endgültigen Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung an, sondern an das „Ob“ der Erfüllung der individuell geforderten Mitwirkungshandlung. Ferner werde dadurch, dass auch in Fällen eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens die unabweisbar gebotene Hilfe geleistet werde, dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip Rechnung getragen . Die der Entscheidung zu Grunde liegende Norm sei eine Regelung jeweils des konkreten 62 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, Rn. 26 (zitiert nach juris). 63 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, Rn. 27 ff. (zitiert nach juris). 64 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, Rn. 32 f. (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 19 Einzelfalls. Leistungen zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums seien nach Prüfung des Einzelfalls nicht von vornherein ausgeschlossen.65 Ferner stellte das Bundessozialgericht fest, dass in den Fällen, in denen sich der Leistungsberechtigte durchgehend seiner Möglichkeiten zur Abkehr von der Leistungsminderung bewusst und die Abkehr möglich sei, eine zeitliche Begrenzung der Leistungseinschränkung auf eine bestimmte Dauer im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung nicht geboten sei.66 Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundessozialgerichts ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig.67 4.3.3. Aktuelle Rechtsprechung zu § 1a AsylbLG Bis zum heutigen Zeitpunkt haben sich eine Vielzahl von Sozialgerichten und Landessozialgerichten mit den Regelungen des § 1a AsylbLG in vorherigen Fassungen und deren Verfassungsmäßigkeit auch im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 2012 befasst und auch unterschiedliche Auffassungen vertreten. Im Folgenden kann insoweit nur auf einzelne aktuelle Entscheidungen und ihre Begründungen hingewiesen werden. So hatte das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt in einem Beschluss vom 25. Februar 2019 keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung des § 1a Abs. 1 AsylbLG (§ 1a AsylbLG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201668). Das Bundesverfassungsgericht habe bisher über die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung nicht entschieden und das Gericht sei nicht von der Verfassungswidrigkeit der Regelung überzeugt. Bei der Regelung gehe es um Sanktionen im Einzelfall. Insoweit bestünde kein grundsätzlicher Unterschied zu der Fassung, die das Bundessozialgericht nicht für verfassungswidrig erachtet habe.69 Ebenso entschied das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in einem Beschluss vom 20. September 2018. Aus dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ergebe sich kein von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängiger Anspruch. Der bestehende Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers könne sich vordringlich in der eingeschränkten Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auswirken.70 In einem Beschluss vom 31. Mai 2019 hat das Hessische Landessozialgericht hinsichtlich einer Leistungseinschränkung nach 65 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, Rn. 34 f. (zitiert nach juris). 66 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, Rn. 37 (zitiert nach juris). 67 Aktenzeichen beim Bundesverfassungsgericht: - 1 BvR 2682/17 - (zitiert nach juris); Oppermann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, Stand: 13. September 2019, § 1a AsylbLG, Rn. 139.3. 68 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). 69 Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25. Februar 2019 - L 8 AY 10/18 B ER -, Rn. 27 (zitiert nach juris). 70 Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. September 2018 - L 23 AY 19/18 B ER -. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 20 § 1a Abs. 1 AsylbLG (§ 1a AsylbLG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201671) offen gelassen, welche Anforderungen an die Substantiierung von Bedarfen des so genannten soziokulturellen Existenzminimums zu stellen seien, bei denen eine vollständige Kürzung der Leistungen aus § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG verfassungswidrig wäre.72 Die Beschlüsse ergingen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Bezüglich Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 2 und 3 AsylbLG (in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20. Oktober 201573) kam das Bayerische Landessozialgericht in einer Entscheidung vom 11. November 2016 in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Hinblick auf die nur noch reduzierten Leistungen des physischen Existenzminimums zu dem Ergebnis, dass diese verfassungsgemäß seien. Art. 1 und 20 GG würden keine bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen gebieten. Es werde vermeidbares persönliches Fehlverhalten des Leistungsberechtigten sanktioniert, der die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch in seinen Verantwortungsbereich fallendes vertretbares und vorwerfbares Verhalten verhindere.74 Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hatte in einem Urteil vom 8. November 2018 ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung von § 1a Abs. 3 AsylbLG (in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20. Oktober 201575)76, ebenso wie das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt in einem Beschluss vom 18. März 2019 in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes77. Im Rahmen eines Beschlusses vom 8. Juli 2019 kam das Bayerische Landesozialgericht zu dem Ergebnis, dass die Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201678) grundsätzlich im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben stehe. Es könne vom Betroffenen grundsätzlich verlangt werden, dass er in dem Schutz gewährenden Land verbleibe (oder sich wieder dorthin begebe) und die ihm aufgrund seines Status zustehenden Sozialleistungen - deren Mindestmaß sich ohnehin nach den europarechtlichen Vorgaben der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) bestimme - dort beziehe, um seine Existenz zu sichern. Unter diesem Aspekt könne auch nur von einer sehr kurzfristigen Aufenthaltsperspektive ausgegangen werden, was bei der Festlegung des Bedarfs zu berücksichtigen sei. Bei einer unter diesen Gesichtspunkten vom Gesetzgeber im Einzelfall vorgenommenen Anspruchseinschränkung bestehe auch kein Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- 71 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). 72 Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31. Mai 2019 - L 4 AY 7/19 B ER-. 73 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722). 74 Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11. November 2016 - L 8 AY 29/16 B ER -, Rn. 52 (zitiert nach juris). 75 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722). 76 Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 8. November 2018 - L 7 AY 4468/16 -. 77 Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. März 2019 - L 8 AY 8/18 B ER -. 78 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 21 richts, wonach migrationspolitische Erwägungen es (allein) nicht rechtfertigten, den Leistungsstandard (generell) unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum abzusenken, um Anreize zur Binnenwanderung zu verhindern.79 In einem früheren Beschluss machte das Bayerische Landessozialgericht in diesem Zusammenhang deutlich, dass im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine restriktive Auslegung des § 1a AsylbLG geboten sei und für die Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201680) im Wege einer normerhaltenden, teleologischen Reduktion zu fordern sei, dass dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen sei.81 Ebenso gingen davon das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einem Beschluss vom 1. Juli 2019 und das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt in einem Beschluss vom 11. Juni 2019 aus.82 Das Sozialgericht Lüneburg sah dagegen in einem Beschluss vom 6. Juni 2017 erhebliche Zweifel, ob die Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201683) einer verfassungsrechtlichen Überprüfung in der Hauptsache standhalten werde. Die Regelung widerspreche offensichtlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Allein die kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland könne es nicht rechtfertigen, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung des physischen Existenzminimums zu beschränken oder - was die Regelung bewirke - das soziokulturelle Existenzminimum vollkommen unberücksichtigt zu lassen. Im Übrigen bestünden auch erhebliche Zweifel, ob bei der Leistungsbeschränkung das physische Existenzminimum noch gewährleistet sei. Ferner lasse sich in dem zu entscheidenden Verfahren nicht feststellen, ob überhaupt ein abweichender, geringerer Bedarf als bei hilfebedürftigen Menschen in anderen Sicherungssystemen bestehe und in welchem Umfang dies Einschränkungen zulasse, ohne dass das grundrechtlich geschützte Existenzminimum unterschritten werde.84 Auch das Sozialgericht Magdeburg führte in einem Beschluss vom 30. September 2018 aus, dass erhebliche Zweifel bestünden , ob durch die Leistungseinschränkung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 201685) auf das physische Existenzminimum der verfassungsrechtliche Anspruch auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz noch gewährleistet sei.86 Die vorgenannten Beschlüsse ergingen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. 79 Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 8. Juli 2019 - L 18 AY 21/19 B ER -, Rn. 33 (zitiert nach juris). 80 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). 81 Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. September 2018 - L 8 AY 13/18 B ER -; so auch Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 15. Februar 2019 - S 11 AY 10/19 ER - und Beschluss vom 17. Oktober 2018 - S 11 AY 153/18 ER -. 82 Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 1. Juli 2019 - L 7 AY 1783/19 ER-B -; ebenso Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. Juni 2019 - L 8 AY 5/19 B ER -. 83 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). 84 Sozialgericht Lüneburg, Beschluss vom 6. Juni 2017 - S 26 AY 10/17 ER -. 85 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939). 86 Sozialgericht Magdeburg, Beschluss vom 30. September 2018 - S 25 AY 21/18 ER -. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 22 4.4. Diskussion im juristischen Schrifttum zu § 1a AsylbLG in vorhergehenden Fassungen Die Verfassungsmäßigkeit von Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG in vorhergehenden Fassungen, ist in der Fachliteratur umstritten. Nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zu den Regelleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und vom 18. Juli 2012 setzte sich die Literatur verstärkt mit dieser Frage auseinander. Unabhängig von den einzelnen Einschränkungsregelungen steht in der Fachliteratur jeweils die grundsätzliche Frage im Fokus, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Anspruchseinschränkungen verfassungsrechtlich zulässig sind. Dabei wird teilweise die Ansicht vertreten, dass schon eine Einschränkung generell nicht möglich sei. Wird die Einschränkbarkeit dagegen bejaht, so wird weiter diskutiert, unter welchen Voraussetzungen eine solche Einschränkung möglich und mit der Verfassung vereinbar sei. 4.4.1. Unverfügbarkeit des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum Vor dem Hintergrund der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 9. Februar 2010, dass das Grundrecht dem Grunde nach unverfügbar sei, welche sich ebenso in dem Urteil vom 18. Juli 2012 wiederfinden, wird die Auffassung vertreten, dass sich jede Einschränkung des (einmal durch den Gesetzgeber ausgestalteten) Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum als eine ungerechtfertigte, von einer Verhältnismäßigkeit unabhängige , verfassungswidrige Verletzung darstelle.87 In die Menschenwürde könne nicht zulässig eingegriffen werden.88 Schon nach dem Begriff als Minimum bilde das Existenzminimum eine absolute Untergrenze, sodass dieses nicht weiter abgesenkt beziehungsweise relativiert werden dürfe.89 Demgegenüber wird die Auffassung vertreten, das Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum gebiete nicht zwingend eine voraussetzungslose Sicherung des Existenzminimums.90 87 Drohsel, Sanktionen nach dem SGB II und das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, NZS 2014, S. 96, 100; Neškovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, SGb 2012, S. 134, 140. 88 Neškovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht , SGb 2012, S. 134, 140. 89 Vgl. Görisch, Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum und gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum, NZS 2011, S. 646, 650. 90 Vgl. Berlit, Sanktionen im SGB II - nur problematisch oder verfassungswidrig?, info also 2013, S. 195; Lauterbach , Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH SGB 10 2011, S. 584, 584 ff.; Rothkegel, Das Gericht wird’s richten - das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen, ZAR 2012, S. 357, 360 f; Spitzlei, Asylbewerberleistungsrecht und grundgesetzliches Existenzminimum, JA 2017, S. 165, 165 ff.; Susnjar/Greiser, Zur dogmatischen Einordnung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, DVBl 2018, S. 1329, 1331; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 14 ff.; Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344, 348; Siefert in Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 23 Es gehe hier um ein Leistungsgrundrecht, nicht um ein unmittelbar in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelndes Abwehrgrundrecht und es nehme mithin nicht an der absoluten Unverfügbarkeit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Absatz 1 GG teil, denn diese Leistungsfunktion bestehe gerade nur in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip.91 Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das durch voraussetzungslose Sozialleistungen faktisch geschaffen werden würde, sei dem Grundgesetz fremd.92 Da das Grundgesetz mithin keinen Anspruch auf bedingungsloses Grundeinkommen vermittle, obliege dem Gesetzgeber die Konkretisierung des Grundrechts auf menschenwürdige Existenz über Regelungen der Voraussetzungen und Höhen existenzsichernder Leistungen.93 Das Grundrecht auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums könne mithin an Voraussetzungen geknüpft werden. Insbesondere ein von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängiger Anspruch würde nach dem Grundrecht nicht gewährt werden, sodass Einschränkungen und Kürzungen zulässig seien.94 Susnjar und Greiser führen im Zusammenhang mit den Regelungen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch aus, dass über Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 GG der Gesetzgeber einen Anspruch nur dem Grunde nach sicherstellen und dieser Anspruch sich auf das gesamte Existenzminimum beziehen müsse: Dies meine die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit „unverfügbar“. Dieser Anspruch sei aber einschränkbar, da der Leistungsempfänger nicht bereits durch eine Leistungskürzung oder Sanktionierung zum Objekt staatlichen Handelns degradiert werde. Zu berücksichtigen seien in diesem Zusammenhang die Besonderheiten der Ausgestaltung des Grundrechts. Der Gesetzgeber schaffe den Anspruch auf Leistungen des Existenzminimums in der konkreten Höhe erst selbst. Der verfassungsunmittelbare Anspruch ergebe sich nur dem Grunde nach. Bei der Ausgestaltung habe der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht überprüfe insofern - neben einer Evidenzkontrolle - lediglich die Grundlagen und die Methode der Leistungsbemessung.95 4.4.2. Verfassungsmäßigkeit der Anspruchseinschränkungen Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang Anspruchseinschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz zulässig sind, werden unterschiedliche Ansätze vertreten. 91 Berlit, Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?, info also 2013, S. 195, 196 ff. 92 Vgl. Berlit, Sanktionen im SGB II - nur problematisch oder verfassungswidrig?, info also 2013, S. 195, 199 f; Spitzlei, Asylbewerberleistungsrecht und grundgesetzliches Existenzminimum, JA 2017, S. 165, 168. 93 Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344, 348. 94 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 15. 95 Susnjar/Greiser, Zur dogmatischen Einordnung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, DVBl 2018, S. 1329, 1331 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 24 4.4.2.1. Einheitliches Grundrecht auf menschenwürdiges physisches und soziokulturelles Existenzminimum Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 fest, dass der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie gewährleiste, die sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasse.96 Vor diesem Hintergrund wird die Auffassung vertreten, dass ein Wegfall der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums verfassungswidrig sei, da das einheitliche Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen physischen und soziokulturellen Existenzminimums dem entgegenstehe.97 Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei als einheitliche Garantie, das soziokulturelle Existenzminimum umfassend, unverfügbar.98 Die bloße Sicherung der physischen Existenz habe das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig angesehen .99 Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bestehe nur hinsichtlich des „wie“ der Ausgestaltung des Anspruchs, nicht hingegen bezüglich des „ob“, sodass bei einem vollständigen Leistungsausfall hinsichtlich der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums der Gesetzgeber gegen seine Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums verstoße.100 Aus dem bestehenden weiten Gestaltungsspielraum im Hinblick auf das soziokulturelle Existenzminimum folge nicht, dass keine untere Grenze bei einer Anspruchseinschränkung im soziokulturelle Leistungsminimum bestehe.101 Die Regelung zum Umfang der Anspruchseinschränkung, wonach grundsätzlich nur noch Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft, einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt würden und auch im Einzelfall darüber hinaus nur weitere Leistungen des notwendigen Bedarfs gewährt werden könnten, sei mithin nicht mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Die Regelung, die sich so 96 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 64 (zitiert nach juris). 97 Brings/Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Berechnungen – zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der jüngsten Reformen des AsylbLG im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum, ZAR 2016, S. 22, 25; Spitzlei, Asylbewerberleistungsrecht und grundgesetzliches Existenzminimum, JA 2017, S. 165, 171. 98 Kanalan, Rechtstreue als Voraussetzung für den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums - Zugleich Besprechung von BSG, Urt. v. 12.5.2017, B 7 AY 1/16 R, NZS 2018, S. 641, 643. 99 Brings/Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Berechnungen - zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der jüngsten Reformen des AsylbLG im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum, ZAR 2016, S. 22, 25; Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344, 350. 100 Brings/Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Berechnungen - zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der jüngsten Reformen des AsylbLG im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum, ZAR 2016, S. 22, 26 f. 101 Oppermann, Leistungseinschränkungen und Sanktionen als Mittel zur Bewältigung der Flüchtlingswelle, ZESAR 2017, S. 55, 61. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 25 auch in der geltenden Fassung des § 1a Abs. 1 AsylbLG wiederfindet, laufe auf einen völligen Ausschluss des soziokulturellen Bedarfs hinaus.102 Die Regelung sei zwingend und eröffne in dieser Hinsicht auch keine Ermessensspielräume. Sie stelle eine abstrakt-generelle Wertentscheidung dar, dass die betroffenen Personen keinerlei soziokulturelle Bedarfe hätten.103 Eine im Ergebnis vollständige Kürzung der Ausgaben zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums könne auch nicht mit dem Hinweis auf ein rechtsmißbräuchliches Verhalten gerechtfertigt werden.104 Deibel sieht die Regelung in § 1a Abs. 2 AsylbLG in der der aktuellen Neuregelung vorhergehenden Fassung im Einklang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012. So sehe die Regelung vor, dass vom notwendigen Bedarf (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) bis auf Kleidung sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushaltes alle anderen Bedarfe gedeckt würden. Ebenfalls gewährt würde der Bedarf an Körperpflege, der zum notwendigen persönlichen Bedarf (§ 3 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG) gehöre. Damit gewährleiste die Regelung, dass der unabweisbare tägliche notwendige und notwendige persönliche Bedarf gedeckt werde. Soweit im Einzelfall besondere Umstände vorlägen, sei geregelt, dass weiterer notwendiger Bedarf gedeckt werden könne. Entgegen dem Wortlaut der Regelung („kann“), sei vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 in diesen Fällen allerdings von einem Anspruch auszugehen. Bis auf die tägliche Körperpflege müssten alle weiteren notwendigen persönlichen Bedarfe nicht unverzüglich gedeckt werden. Im Ergebnis gewährleiste das vom Gesetzgeber in der Regelung des § 1a Abs. 2 AsylbLG in der genannten Fassung vorgesehene abgestufte System der Bedarfsdeckung, dass das physische und soziokulturelle Existenzminimum im Rahmen von Ansprucheinschränkungen sichergestellt sei.105 Hohm vertritt zu § 1a AsylbLG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014106 die Auffassung, dass auch eine vollständige oder teilweise Einschränkung der Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums bis zur Grenze des physischen Minimums grundsätzlich als zulässig anzusehen sei, insbesondere da im Regelungsbereich des § 1a AsylbLG in der genannten Fassung 102 Oppermann, Leistungseinschränkungen und Sanktionen als Mittel zur Bewältigung der Flüchtlingswelle, ZESAR 2017, S. 55, 59; Voigt, § 1a AsylbLG: Jetzt erst recht verfassungswidrig, Asylmagazin 12/2017, S. 436, 446; Spitzlei, Asylbewerberleistungsrecht und grundgesetzliches Existenzminimum, JA 2017, S. 165, 171. 103 Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344, 349. 104 Kanalan, Rechtstreue als Voraussetzung für den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums - Zugleich Besprechung von BSG, Urt. v. 12.5.2017, B 7 AY 1/16 R, NZS 2018, S. 641, 643 ff. 105 Deibel, Der Umfang der Anspruchseinschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz, SozR aktuell, 2/2019, S. 52, 54 ff.; siehe auch Deibel, Die Neuregelung des Asylbewerberleistungsrechts durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz , S. 704, 710 f. 106 Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2187). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 26 für dieses keine verfassungsrechtlich nicht zu unterschreitende Grenze gezogen sei.107 In Bezug auf § 1a Abs. 2 und 3 AsylbLG in der bis zur aktuellen Neuregelung geltenden Fassung führt Wahrendorf aus, dass es im Hinblick auf die feststehende Ausreise verfassungsrechtlich hinnehmbar sei, die grundsätzlich zu gewährenden Mittel auf die physische Existenz einzuschränken . Tatsächlich spezifische Minderbedarfe bei einem nur kurzfristigen, nicht mehr auf Dauer angelegten Aufenthalt rechtfertigten die Einschränkung der Leistung.108 So ebenfalls Siefert, die für die in § 1a Abs. 2 AsylbLG in der genannten Fassung betroffenen Personenkreise ausführt, dass sie alsbald Deutschland zu verlassen hätten und deshalb der übrige gesellschaftliche Teilhabebedarf mit Blick auf die Ausreisepflicht und Ausreisemöglichkeit nicht mehr durch staatliche Sozialleistungen zu gewährleisten sei. Dies gelte auch für § 1a Abs. 3 AsylbLG in der genannten Fassung. Hier werde an ein rechtlich verlangtes, zumutbares Verhalten angeknüpft, das die leistungsberechtigte Person aus von ihr zu vertretenden Gründen nicht erfülle. Die leistungsberechtigten Personen seien auch in der Lage, ihr Verhalten jederzeit zu ändern, selbst wenn dies letztlich dazu führe, dass sie ausreisen müssten. Dies sei die aber die Folge, der Entscheidung, dass den Personen kein Bleiberecht zustünde und kein Grund, angesichts dieser Folge auf die verlangte Mitwirkung zu verzichten.109 4.4.2.2. Migrationspolitische Erwägungen Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Urteil weiter aus, dass migrationspolitische Erwägungen , die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen können. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren.110 Es sei mithin verfassungsrechtlich höchst bedenklich, wenn die Gewährung des Existenzminimums als unverfügbarem Grundrecht als „migrationspolitisches Steuerungs- und Abschreckungsinstrument “ fungiere.111 Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Grundrecht auf menschenwürdige Existenz nicht migrationspolitisch zu relativieren sei, sei eine „beachtliche und weitreichende Folgerung“ zur „Rechtsvereinheitlichung und Gleichbehandlung“ zwischen Sozialhilfeansprüchen von Personen mit gesichertem und ungesichertem Daueraufenthalt.112 107 Hohm in: Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Auflage 2015, § 1a AsylbLG, Rn. 43 f. 108 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 67. 109 Siefert in Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 29, 39. 110 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 95 (zitiert nach juris). 111 Classen/Kanalan, Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, info also 2010 Heft 6, S. 243, 247. 112 Eichenhofer, Menschenwürde durch den Sozialstaat – für alle Menschen?, SGb 2012, S. 565, 567. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 27 Es wird vertreten, dass vor allem die Regelung des § 1a Abs. 4 AsylbLG in der vorgehenden Fassung ein migrationspolitisch motiviertes Instrument und mithin nicht verfassungsgemäß sei.113 Das Ziel der Regelung bestehe eindeutig in einer Steuerung der Zuwanderung; die Weiterreise in die Bundesrepublik Deutschland solle unattraktiv gemacht werden.114 Diese Regelung knüpfe nicht an ein konkretes vorwerfbares Verhalten an, sondern allein an die Zugehörigkeit zu dem von Relokation betroffenen Personenkreis. Aufgrund dieser abstrakten Anknüpfung sei davon auszugehen, dass der Gedanke der Abschreckung unerwünschter Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union im Vordergrund stehe.115 Dafür sprächen ebenso die Gesetzesmaterialien .116 Demgegenüber wird vertreten, dass die Regelungen zu Anspruchseinschränkungen in § 1a AsylbLG in vorangegangenen Fassungen nicht unzulässig von migrationspolitischen Erwägungen geleitet worden seien. Ziel der Regelungen sei, dass rechtsmissbräuchliche beziehungsweise rechtswidrige Verhalten des leistungsberechtigten Personenkreises zu sanktionieren, wenn dieses Verhalten von ihm zu vertreten ist.117 Ferner habe der Gesetzgeber die Regelungen geschaffen , um eine Privilegierung von Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu Sozialhilfeempfängern zu beseitigen und zu verhindern. Zum anderen habe die Vorschrift zum Ziel, migrationspolitisch Einfluss auf eine missbräuchliche Zuwanderung zu nehmen.118 Wäre Letzteres das einzige Ziel, wäre die Vorschrift als verfassungswidrig anzusehen.119 Die Regelungen knüpften aber an ein missbräuchliches Verhalten sowie Pflichtverletzungen an und sanktio- 113 Oppermann, Leistungseinschränkungen und Sanktionen als Mittel zur Bewältigung der Flüchtlingswelle, ZESAR 2017, S. 55, 62; so auch Brings/ Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Berechnungen , ZAR 2016, S. 22, 27 in Bezug auf die Änderungen durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz. 114 Siefert in Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 44. 115 Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344, 349 f.; so im Ergebnis auch Oppermann, Leistungseinschränkungen und Sanktionen als Mittel zur Bewältigung der Flüchtlingswelle, ZESAR 2017, S. 55, 62 f. 116 Oppermann, juris PR sozR 8/2016, Anm. 1. 117 Deibel, Der Umfang der Anspruchseinschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz, SozR aktuell, 2/2019, S. 52, 55. 118 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 10; Korff in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 53. Edition, Stand: 1. Juni 2019, § 1a AsylbLG, Rn. 2. 119 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 10. zur Regelung des § 1a Abs. 1 AsylbLG in der, der Neuregelung vorhergehenden Fassung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 28 nierten diese mit Leistungseinschränkungen. Mit dieser Rechtsfolge habe die Vorschrift eine unmittelbare sozialrechtliche Qualität, sodass die general- und spezialpräventiven Zwecke, Migrationsbewegungen einzudämmen, nicht ausschließlich das Leistungsrecht bestimmten.120 4.4.2.3. Notwendiger Bedarfsbezug Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 zudem fest, dass es dem Gesetzgeber offen stehe, bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen zu berücksichtigen, allerdings dürfe er bei der konkreten Ausgestaltung nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Dies sei nur insofern möglich, als der Bedarf dieser Personengruppe von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne.121 Insofern wird vertreten, dass bedarfsunabhängige Motive als Intention der Regelung unzulässig seien.122 Bedarfe könnten sich nicht ändern, nur weil die Aufenthaltsbeendigung hintertrieben werde oder die Ausreise bald bevorstehe.123 So scheine der Entfall der Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums im Rahmen der Anspruchseinschränkungen auf einer bloßen freihändigen Setzung ohne irgendeine erkennbare empirische und methodische Fundierung zu beruhen. Augenscheinlich differenziere der Gesetzgeber pauschal nach dem (rechtlichen) Status der Hilfsbedürftigen. Eine Differenzierung anhand dieses Kriteriums sei nach dem Bundesverfassungsgericht jedoch nur gerechtfertigt, sofern der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche.124 Dagegen führt Berlit im Zusammenhang mit den Sanktionsregelungen des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch an, dass Sanktionen schon nicht „bedarfstheoretisch begründet“ seien. Da schon überhaupt nicht behauptet werden könne, dass Personen, die von einer Leistungskürzung betroffen seien, einen geringeren Bedarf hätten, laufe ein Argument, dass Personen mit Sanktionen denselben Bedarf wie Personen ohne Sanktionen hätten, ins Leere.125 Ebenso im Zusammenhang mit den Regelungen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch führen Susnjar und Greiser aus, dass das 120 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 10, zur Regelung des § 1a Abs. 1 AsylbLG in der, der Neuregelung vorhergehenden Fassung. 121 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, - 1 BvL 2/11 -, Rn. 73 (zitiert nach juris). 122 Vgl. Rothkegel, Das Gericht wird’s richten - das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen , ZAR 2012, S. 357, 360. 123 Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344, 349 f. 124 Brings/Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Begründungen, ZAR 2016, 22, 29 zu § 1a Abs. 2 bis 4 AsylbLG in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 23. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722). 125 Vgl. Berlit, Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig?, info also 2013, S. 195, 201. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 29 Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur dem Grunde nach unverfügbar sei. Es bestehe die Pflicht des Gesetzgebers, das Grundrecht im einfachen Recht auszugestalten. Dieser Anspruch beziehe sich grundsätzlich auf das gesamte Existenzminimum. Ein geringerer Umfang sei auf dieser Ebene nur bei konkreten Minderbedarfen möglich. Dies sei allerdings von der Möglichkeit zu trennen, auf konkretes Fehlverhalten des Leistungsberechtigten zu reagieren. Hierbei handele es sich um eine Beschränkung des Anspruchs, aber nicht um eine Ausgestaltung.126 Die Beschränkung stehe unter dem Verhältnismäßigkeitsvorbehalt und diese sei bei den §§ 31 ff. SGB II eingehalten.127 4.4.2.4. Anknüpfung einer Anspruchseinschränkung an ein bestimmtes Verhalten In der Literatur wird vertreten, dass es verfassungsrechtlich keinen grundsätzlichen Bedenken begegne, bei bestimmtem gesetzlich missbilligtem Verhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einzuschränken.128 Unter Berücksichtigung des in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gebe es keinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf voraussetzungslose Gewährleistung existenzsichernder Sozialleistungen auf Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes .129 Es ergebe sich sich mithin kein von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängiger Anspruch.130 Auch die Verknüpfung ausländerrechtlicher Verpflichtungen mit dem Leistungsrecht des Asylbewerberleistungsgesetzes sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden , da das Asylbewerberleistungsgesetz von Beginn an „im Kern“ als „Regelung des Aufenthalts - und Niederlassungsrechts von Ausländern nach dem Asylverfahrensrecht“ verstanden und konzipiert worden sei.131 Ferner habe das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 12. Mai 2017132 festgestellt, dass der Gesetzgeber nicht gehindert sei, die uneingeschränkte Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz an die Einhaltung ausländerrechtlicher Pflichten zu knüpfen. Hiernach sei auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt, indem die 126 Susnjar/Greiser, Zur dogmatischen Einordnung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, DVBL 2018, S. 1329, 1339; Spitzlei, Asylbewerberleistungsrecht und grundgesetzliches Existenzminimum, JA 2017, S. 165, 169. 127 Susnjar/Greiser, Zur dogmatischen Einordnung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, DVBL 2018, S. 1329, 1339. 128 Vgl.; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2017, § 1a AsylbLG, Rn. 14; Deibel, Der Umfang der Anspruchseinschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz , SozialR aktuell, 2/2019, S. 52, 56. 129 Siefert in Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 4. 130 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2017, § 1a AsylbLG, Rn. 15. 131 Siefert in Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Auflage 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 36; vgl. BSG, Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R -, Rn. 33; Bundestags-Drucksache 12/4451 vom 2. März 1993, Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber, S. 5. 132 Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 12. Mai 2017 - B 7 AY 1/16 R - . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 30 Leistungseinschränkung insbesondere an ein missbräuchliches Verhalten anknüpfe, dessen Aufgabe in der Hand jedes einzelnen Leistungsberechtigen liege.133 Werde § 1a AsylbLG allein schon wegen der Einschränkung von Leistungen aufgrund eines Missbrauchs für verfassungswidrig gehalten , müssten auch die vergleichbaren, bisher aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht beanstandeten Tatbestände im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch verfassungswidrig sein.134 Dem wird entgegengehalten, dass Leistungseinschränkungen aufgrund eines Fehlverhaltens verfassungsrechtlich unzulässig seien.135 Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 12. Mai 2017 führt Kanalan dazu insbesondere aus, dass aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folge, dass es bezüglich der Sicherung des Anspruchs auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf ein (verwerfliches) Verhalten des Betroffenen - das heiße zugleich auf seine Rechtstreue oder seine Schutzwürdigkeit - nicht ankomme . Wie verwerflich ein Verhalten auch sein möge, für den Schutzanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG (in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) sei dies ohne Relevanz. Da die Anspruchseinschränkung an das persönliche Fehlverhalten des Betroffenen geknüpft sei, betreffe diese dessen Subjektqualität. Das Anknüpfen an ein Fehlverhalten mit der Annahme einer gelockerten staatlichen Verantwortung und abgesenktem Leistungsniveau führe zu einer Relativierung der verfassungsrechtlich geschützten Menschenwürde.136 Janda führt aus, dass die Verknüpfung des in der Menschenwürdegarantie anknüpfenden Rechts auf Existenzsicherung mit der Erfüllung ausländerrechtlicher Pflichten bedenklich sei. So sei das Asylbewerberleistungsgesetz nicht dafür geschaffen, um den Aufenthaltsstatus Asylsuchender und anderer Personen zu regeln, sondern um die zur Existenzsicherung zu gewährenden Leistungen zu bestimmen.137 5. Anhängige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch Ergänzend wird auf zwei vor dem Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch verwiesen. 133 Vgl. Korff in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 53. Edition, Stand 1. Juni 2019, § 1a AsylbLG, Rn. 1. 134 Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2017, § 1a AsylbLG, Rn. 12. 135 Kanalan, Rechtstreue als Voraussetzung für den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums - Zugleich Besprechung von BSG, Urt. v. 12.5.2017, B 7 AY 1/16 R, NZS 2018, S. 641. 136 Kanalan, Rechtstreue als Voraussetzung für den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums - Zugleich Besprechung von BSG, Urt. v. 12.5.2017, B 7 AY 1/16 R, NZS 2018, S. 641, 644 ff. 137 Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, S. 344. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 31 Sowohl im Rahmen der Anhörung als auch in der Literatur wurden Parallelen zwischen den Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG und den Sanktionsregelungen nach den §§ 31 ff. Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gezogen (siehe oben unter 4.2. und 4.4.). Ferner wurden die Regelungen des § 1 Abs. 4 AsylbLG, die einen Leistungsausschluss und Überbrückungsleistungen in bestimmten Fällen der Sekundärmigration vorsehen, unter anderem dem Leistungsausschluss für Unionsbürger von Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II) nachgebildet.138 Zu beiden Regelungen des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch sind derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht konkrete Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG anhängig. Das Sozialgericht Gotha hatte mit Vorlagebeschluss vom 2. August 2016139 dem Bundesverfassungsgericht Fragen zur Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen nach den §§ 31 ff. SGB II zur Entscheidung vorgelegt. Konkret geht es unter anderem um die Frage, ob die §§ 31 bis 31b SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (BGBl. I S. 850) insoweit mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar seien, als sich das für die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums maßgebliche Arbeitslosengeld II auf Grund von Pflichtverletzungen um 30 bzw. 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs mindere bzw. bei weiteren Pflichtverletzungen vollständig entfalle.140 Des Weiteren wurde die Frage vorgelegt, ob die Sanktionsregelungen insoweit mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar seien, als Sanktionen, wenn sie zu einer Lebensgefährdung oder Beeinträchtigung der Gesundheit der Sanktionierten führen, gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstießen.141 138 Dollinger, Geordnete-Rückkehr-Gesetz - Unions-, konventions- und verfassungsrechtliche Kurzanalyse, ZRP 2019, S. 130, 132; vgl. auch für entsprechende Regelungen gemäß § 23 SGB XII: Bundestags-Drucksache 19/12777 vom 28. August 2019, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. auf der Bundestags -Drucksache 19/12227, Streichung von Leistungen für Asylsuchende im europäischen Kontext, S. 5. 139 Sozialgericht Gotha, Vorlagebeschluss vom 2. August 2016 - S 15 AS 5157/14 -; Aktenzeichen beim Bundesverfassungsgericht : Az. 1 BvL 7/16. 140 Sozialgericht Gotha, Vorlagebeschluss vom 2. August 2016 - S 15 AS 5157/14 -, Tenor II.1. (zitiert nach juris). 141 Sozialgericht Gotha, Vorlagebeschluss vom 2. August 2016 - S 15 AS 5157/14 -, Tenor II.2. (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 32 Die mündliche Verhandlung fand am 15. Januar 2019 statt.142 Über das Verfahren wird voraussichtlich noch in diesem Jahr entschieden.143 Ferner hat das Sozialgericht Mainz mit Vorlagebeschluss vom 18. April 2016144 dem Bundesverfassungsgericht unter anderem die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob der Leistungsausschluss für Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 [BGBI. I S. 850]) mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sei.145 Auch dieses Verfahren soll voraussichtlich noch in diesem Jahr entschieden werden.146 6. Fazit Das Bundesverfassungsgericht selbst hat über die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Anspruchseinschränkungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz noch nicht entschieden. Ob und gegebenenfalls welche mittelbaren Wirkungen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 und seine Begründung auf diese Frage haben, herrschen, wie dargestellt unterschiedliche Auffassungen. Wie ebenfalls dargestellt, liegen dem Bundesverfassungsgericht derzeit Verfahren im Hinblick auf die Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG (in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 1998), zu Fragen zur Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelegungen nach den §§ 31 ff. SGB II (in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011) und zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011) zur Entscheidung vor. Die Entscheidungen in den beiden letztgenannten Verfahren sollen noch in diesem Jahr erfolgen. Es ist davon auszugehen , dass die unmittelbar bevorstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die Beurteilung der Frage zur Verfassungsmäßigkeit der mit der Neuregelung eingeführten Regelungen im Asylbewerberleistungsgesetz richtungsweisende Bedeutung haben werden. Vor diesem 142 Bundesverfassungsgericht, Mündliche Verhandlung in Sachen „Sanktionen im SGB II“ am Dienstag, 15. Januar 2019, um 10.00 Uhr (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen /DE/2018/bvg18-085.html, zuletzt abgerufen am 10. September 2019). Eine Verhandlungsgliederung ist unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-004.html abrufbar (zuletzt abgerufen am 10. September 2019). 143 Bundesverfassungsgericht, Jahresvorschau 2019, Nr. 17 - Az. 1 BvL 7/16 - (https://www.bundesverfassungsgericht .de/DE/Verfahren/Jahresvorausschau/vs_2019/vorausschau_2019_node.html, zuletzt abgerufen am 10. September 2019). 144 Sozialgericht Mainz, Vorlagebeschluss vom 18. April 2016 - S 3 AS 149/16 -; Aktenzeichen beim Bundesverfassungsgericht : Az. 1 BvL 4/16. 145 Sozialgericht Mainz, Vorlagebeschluss vom 18. April 2016 - S 3 AS 149/16 -, Tenor 2.a) (zitiert nach juris). 146 Bundesverfassungsgericht, Jahresvorschau 2019, Nr. 15 - Az. 1 BvL 4/16 - (https://www.bundesverfassungsgericht .de/DE/Verfahren/Jahresvorausschau/vs_2019/vorausschau_2019_node.html, zuletzt abgerufen am 10. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 091/19 Seite 33 Hintergrund bleiben diese Entscheidungen abzuwarten, um eine belastbare Aussage zur Vereinbarkeit der kodifizierten und in der Diskussion stehenden Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts treffen zu können . ***