© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 088/19 Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen Einzelfragen zur Änderung der Pflichtquote bzw. der Ausgleichsabgabe Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 2 Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen Einzelfragen zur Änderung der Pflichtquote bzw. der Ausgleichsabgabe Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 088/19 Abschluss der Arbeit: 6. August 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 1.1. Aktuelle Rechtslage 4 1.2. Normgeschichte 4 2. Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen 5 3. Erhöhung der Beschäftigungsquote oder der Ausgleichsabgabe 7 3.1. Beschäftigungsquote 7 3.1.1. Verfassungsrechtliche Aspekte 7 3.1.2. Beschäftigungswirkung 8 3.2. Ausgleichsabgabe 8 3.2.1. Verfassungsrechtliche Aspekte 8 3.2.2. Beschäftigungswirkung 9 4. Wirksamkeit von Quotensystemen 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 4 1. Einleitung 1.1. Aktuelle Rechtslage1 Private und öffentliche Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätzen sind nach den gegenwärtigen Bestimmungen des § 154 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) grundsätzlich verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Für Arbeitgeber, die diese Pflichtquote nicht erfüllen, schreibt § 160 Abs. 1 SGB IX die Entrichtung einer Ausgleichsabgabe für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz vor, die auf der Grundlage einer jahresdurchschnittlichen Beschäftigungsquote ermittelt wird. Die Ausgleichsabgabe beträgt nach § 160 Abs. 2 SGB IX je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz bei einer Beschäftigungsquote – von drei Prozent bis weniger als dem Pflichtsatz: 125 Euro – von zwei Prozent bis weniger als drei Prozent: 220 Euro, – von weniger als zwei Prozent: 320 Euro. Die Ausgleichsabgabe hat sowohl eine Antriebsfunktion für die Arbeitgeber als auch eine Ausgleichsfunktion hinsichtlich der Kosten, die Arbeitgebern bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen entstehen. Demgegenüber kommt der Ausgleichsabgabe keine Finanzierungsfunktion zu; auch dient sie nicht der Sanktionierung von Arbeitgebern, die die Pflichtquote nicht erfüllen .2 Die Mittel aus der Ausgleichsabgabe sind zweckgebunden zu verwenden und dürfen nur für besondere Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben eingesetzt werden (§ 160 Abs. 5 SGB IX). Dieser Finanzierungseffekt tritt jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hinter der Antriebs- und Ausgleichsfunktion der Ausgleichsabgabe zurück , die verfassungsrechtlich zwar als Eingriff in das Grundrecht der Arbeitgeber aus Art. 12 Abs. 1 GG zu werten ist, aber vom Gesetzgeber auf Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG gestützt werden kann.3 1.2. Normgeschichte Die Beschäftigungspflicht ist bereits durch das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 16. Juni 1953 eingeführt worden (BGBl. I S. 389). Seit dem Gesetz zur Weiterentwicklung 1 Vgl. dazu Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste: Ausgewählte Informationen zur Ausgleichsabgabe gemäß § 160 SGB IX, Sachstand WD 6 - 3000 - 027/19 vom 13. Februar 2019, abrufbar im Internetauftritt des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag.de/resource/blob/645620/b0c0e675a255a5cca6eb893ae8bb85ce/WD-6-027-19-pdfdata .pdf (letzter Abruf: 26. Juli 2019). 2 Deinert in: Deinert/Welti, StichwortKommentar Behindertenrecht, 2. Auflage 2018, Stichwort Ausgleichsabgabe, Rn. 2 f. mit weiteren Nachweisen aus der Kommentarliteratur. 3 Deinert in: Deinert/Welti, StichwortKommentar Behindertenrecht, 2. Auflage 2018, Stichwort Ausgleichsabgabe, Rn. 2 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 5 des Schwerbeschädigtenrechts vom 24. April 1974 (BGBl. I S. 981) galt eine Beschäftigungspflichtquote von sechs Prozent für Arbeitgeber mit mindestens 16 Arbeitsplätzen. Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom 29. September 2000 (BGBl. I S. 1394) hat sie mit Wirkung vom 1. Januar 2001 auf fünf Prozent herabgesetzt. In § 71 Abs. 2 des zum 1. Juli 2001 eingeführten SGB IX war eine Rückkehr zur Pflichtquote von sechs Prozent vorgesehen , wenn die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen nicht bis Januar 2002 um 25 Prozent fallen würde. Nachdem durch das Gesetz zur Änderung von Fristen und Bezeichnungen im Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung anderer Gesetze vom 3. April 2003 (BGBl. I S. 462) die Frist zunächst bis zum 31. Dezember verlängert worden war, wurde durch das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23. April 2004 (BGBl. I S. 606) die Verpflichtung zur Wiedereinführung der Quote von sechs Prozent gänzlich aufgehoben. „Die Beschäftigungsquote war 1974 deswegen in Höhe von 6 Prozent festgesetzt worden, weil der Gesetzgeber auf der Grundlage statistischer Erhebungen von einem entsprechenden Bedarf an Arbeitsplätzen für schwerbehinderte Menschen ausging (BT-Drucks. 7/656 S. 24). Die zum 1. Januar 2001 wirksam gewordene Absenkung der Quote ist nicht etwa dadurch veranlasst gewesen, dass der Bedarf an Arbeitsplätzen für schwerbehinderte Menschen geringer geworden ist. […] Nach der Unterrichtung durch die Bundesregierung vom 15. Dezember 1999 (BT-Drucks. 14/2415 S. 3) betrug die Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten bei privaten Arbeitgebern für das Jahr 1997 abhängig von dem jeweiligen Bundesland nur zwischen 2,3 und 4,1 Prozent. Angesichts dieser Zahlen stellt die Senkung der Quote eine begrenzte Abkehr von dem bisherigen System dar, die Beschäftigung von Schwerbehinderten durch eine entsprechende Rechtspflicht der Arbeitgeber zu fördern. Der Gesetzgeber setzte stattdessen verstärkt auf die freiwillige Integrationsbereitschaft der Arbeitgeber.“4 2. Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen Zwar ist die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Menschen in den letzten Jahren deutlich gestiegen.5 Trotz Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe liegt aber die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen gesamtwirtschaftlich seit Jahren unterhalb der Pflichtquote und betrug 2017 4,6 Prozent6, wobei der öffentliche Dienst besser abschneidet als die Privatwirtschaft: 4 Schneider in: Hauck/Noftz SGB IX, Werksstand: März 2012, § 71 SGB IX a.F. Rn. 12. 5 BIH-Jahresbericht 2017/2018 - Die Arbeit der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, BIH: Köln, S. 23; die BIH Jahresberichte sind abrufbar im Internetauftritt der BIH: https://www.integrationsaemter.de/jahresbericht/67c56/index.html (letzter Abruf: 26. Juli 2019). 6 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (BA) - Statistik: Schwerbehinderte Menschen in Beschäftigung (Anzeigeverfahren SGB IX) - Deutschland, West/Ost und Länder (Jahreszahlen) - Dezember 2017, abrufbar im Internetauftritt der Statistik der BA: https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_31958/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche _Form.html?view=processForm&resourceId=210368&input_=&pageLocale=de&topic Id=17388&year_month=201712&year_month.GROUP=1&search=Suchen (letzter Abruf: 16. Juli 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 6 Während sie dort bei 4,1 Prozent lag, wird sie für den öffentlichen Dienst mit 6,5 Prozent beziffert .7 Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen lag 2018 zwar um sechs Prozent unter dem Niveau des Jahres 2008. Bei nichtschwerbehinderten Menschen verringerte sie sich allerdings im gleichen Zeitraum um mehr als einem Viertel. Die ungünstigere Entwicklung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen wird vor allem durch die starke Zunahme bei den älteren Arbeitslosen geprägt.8 Diese Situation wird insbesondere von den Behindertenverbänden vielfach nicht als zufriedenstellend empfunden. Zur Steigerung der Beschäftigungsbereitschaft bei den Arbeitgebern fordern sie deshalb seit langem eine deutliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe.9 Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund beklagt vor dem Hintergrund des zehnjährigen Bestehens der VN-Behindertenrechtskonvention 10 die unzureichende Situation schwerbehinderter Menschen am Arbeitsmarkt.11 7 BA - Statistik: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt - Situation schwerbehinderter Menschen, April 2019, S. 8, abrufbar im Internetauftritt der BA: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen /Brosch-Die-Arbeitsmarktsituation-schwerbehinderter-Menschen.pdf (letzter Abruf: 16. Juli 2019). 8 BA - Statistik: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt - Situation schwerbehinderter Menschen, April 2019, S. 10, abrufbar im Internetauftritt der BA: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen /Brosch-Die-Arbeitsmarktsituation-schwerbehinderter-Menschen.pdf (letzter Abruf: 16. Juli 2019). 9 Vgl. zuletzt z.B. Sozialverband VdK (2018): Inklusion ohne Wenn und Aber: Auch private Unternehmen einbeziehen , 12. September 2018, abrufbar im Internetauftritt des VdK: http://www.vdk.de/deutschland/pages/themen/75622/inklusion_ohne_wenn_und_aber_auch_private_unternehmen _einbeziehen (letzter Abruf: 16. Juli 2019) sowie Sozialverband Deutschland (SoVD) (2018): Armutsrisiko Behinderung wird unterschätzt, Pressemitteilung vom 30. November 2018, abrufbar im Internetauftritt des SoVD: https://www.sovd.de/kontakt/pressedienst/pressemeldungen/pressemitteilungen/pressemitteilung-30112018/ (letzter Abruf: 16. Juli 2019). 10 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung vom 13. Dezember 2006, abrufbar im Internetauftritt der Vereinten Nationen (in Deutschland in Kraft seit 3. Mai 2008): https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-15&chapter=4&clang=_en (letzter Abruf: 15. Juli 2019). 11 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB): Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Zahlen: Schule, Ausbildung , Beschäftigung, Arbeitsmarkt aktuell 01/2019 vom 26. März 2019, abrufbar im Internetauftritt des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++e656139e-4fb3-11e9-8baa-52540088cada (letzter Abruf: 15. Juli 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 7 3. Erhöhung der Beschäftigungsquote oder der Ausgleichsabgabe Vor dem Hintergrund der Forderungen nach weiteren Maßnahmen und Anreizen zur Steigerung der Beschäftigungsbereitschaft wird vorliegend die Frage nach den Möglichkeiten einer Anhebung der Pflichtquote bzw. einer Erhöhung der Ausgleichsabgabe und deren Wirkungen auf die Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen aufgeworfen. 3.1. Beschäftigungsquote 3.1.1. Verfassungsrechtliche Aspekte Das BVerfG hat in einem Urteil vom 26. Mai 198112 die Verfassungsmäßigkeit der im damaligen Schwerbehindertengesetz 1974 festgelegten Pflichtquote von sechs Prozent (§ 4 Abs. 1 SchwbG 1974) festgestellt. Der Gesetzgeber müsse sich bei der Festsetzung der Pflichtquote an dem tatsächlichen Bedarf an Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte orientieren, der nach dem damals neu eingeführten sogenannten finalen Schwerbehindertenbegriff nur durch Prognose ermittelt werden konnte. Die damalige Prognose des Gesetzgebers war nach Überzeugung des BVerfG vertretbar . Die Berücksichtigung einer Vermittlungsreserve sei auch dann unbedenklich, wenn dadurch „von vornherein feststand, dass es angesichts der vorhandenen Zahl vermittlungsfähiger Schwerbehinderter nicht allen Arbeitgebern möglich sein werde, alle ausgewiesenen Pflichtplätze zu besetzen .“13 In einem Beschluss vom 1. Oktober 200414 bekräftigte das BVerfG diese Entscheidung auch für die inhaltlich entsprechende Vorschrift des Schwerbehindertengesetzes in der Fassung von 1986 (§ 5 Abs. 1 SchwbG 1986). Zur Forderung nach einer Erhöhung der Pflichtquote nach § 154 SGB IX ist zunächst festzustellen , dass bereits die derzeitig gültige Pflichtquote von fünf Prozent, wie bereits dargestellt, seit Jahren nicht erfüllt wird.15 Nach der zitierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erscheint gleichwohl eine Erhöhung nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn sich der Bedarf an Arbeitsplätzen für schwerbehinderte Menschen erhöht hat oder eine höhere Vermittlungsreserve für erforderlich gehalten wird. Die Bundesregierung weist in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage vom September 2018 jedoch darauf hin, dass bereits eine Erhöhung der Pflichtquote von derzeit fünf Prozent auf den vor 2001 geltenden Wert von sechs Prozent nach Angaben der Bundesregierung die Zahl der Pflichtplätze um 230.000 erhöhen würde. Die Zahl arbeitslos gemeldeter schwerbehinderter Menschen habe aber 2017 lediglich bei 162.000 gelegen, sodass auch bei vollständigen Abbau der Arbeitslosigkeit 12 BVerfG, Urteil vom 26. Mai 1981 - 1 BvL 56/78. 13 BVerfG, Urteil vom 26. Mai 1981 - 1 BvL 56/78, Rn. 79, zit. nach juris. 14 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. Oktober 2004 - 1 BvR 2221/03. 15 Siehe oben Abschnitt 2, S. 4 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 8 schwerbehinderter Menschen zahlreiche weitere Unternehmen die Ausgleichsabgabe nach § 160 SGB IX zahlen müssten.16 Die Notwendigkeit einer Erhöhung der Vermittlungsreserve könnte eine Anhebung der Pflichtquote unter Umständen gleichwohl rechtfertigen, wenn sie für geeignet und erforderlich erachtet werden könnte, die Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen zu verbessern und Arbeitslosigkeit zu verringern. 3.1.2. Beschäftigungswirkung Wissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen Wirkungen einer Anhebung der aktuellen Pflichtquote für die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen gibt es - soweit ersichtlich - nicht, so dass Aussagen dazu nicht getroffen werden können. 3.2. Ausgleichsabgabe 3.2.1. Verfassungsrechtliche Aspekte Auch die Ausgleichsabgabe ist vom BVerfG in den bereits zitierten Entscheidungen als geeignetes und notwendiges Antriebsmittel für angemessen und zumutbar erachtet worden. Zwar handele es sich dabei nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung und ihrem materiellen Gehalt um eine Sonderabgabe, die jedoch nicht primär der Finanzierung vom Gesetz bestimmter Zwecke diene und deshalb weniger strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliege.17 Das Gericht hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung der speziell der Ausgleichsabgabe zukommende Antriebs- und Ausgleichsfunktion gegenüber ihrer Finanzierungsfunktion hervor: Hinsichtlich der erforderlichen Antriebsfunktion sei zwar „zu berücksichtigen, daß die oft schwierige Vermittlungsmöglichkeit bei Schwerbehinderten, vor allem aber die unterschiedlichen Verhältnisse in den verschiedenen Branchen und Regionen es vielen Arbeitgebern, die ihre Pflichtplatzquote nicht erfüllt haben, schwierig oder unmöglich machen, Schwerbehinderte zu beschäftigen. Gleichwohl behält die Antriebsfunktion schon deswegen ihre Bedeutung für die Eingliederung Schwerbehinderter, weil sie auch dahin wirkt, daß Arbeitgeber durch die Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe bei Nichterfüllung ihrer Beschäftigungsquote angehalten werden, bei ihnen beschäftigten Schwerbehinderten auch in [gesetzlich zulässigen] Fällen nicht zu kündigen […]. Unbeschadet dessen rechtfertigt allein die Ausgleichsfunktion die Abgabe auch in allen den Fällen, in denen mit ihrer Entrichtung kein Antriebseffekt verbunden sein kann, 16 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sören Pellmann, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: - Drucksache 19/3877, Bundestagsdrucksache 19/4157 vom 4. September 2018, S. 7. 17 BVerfG, Urteil vom 26. Mai 1981 - 1 BvL 56/78; BVerfG, Rn. 94 ff., zit. nach juris. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 9 wenn Arbeitgeber Schwerbehinderte nicht einstellen, weil sie ihnen nicht nachgewiesen werden können.“18 Bei der Beurteilung der Rechtfertigung der Ausgleichsabgabe sei „die Antriebs- und Ausgleichsfunktion jedenfalls so bedeutsam, daß demgegenüber die Finanzierungsfunktion zurücktritt […]. Wollte man […] die Ausgleichsabgabe deswegen, weil sie auch zu einem erheblichen Finanzaufkommen führt, voll den verfassungsrechtlichen Anforderungen für solche Sonderabgaben, die primär einer Finanzierung dienen, unterwerfen, würde das dem Gesetzgeber unmöglich machen, mit dieser Abgabe auf den von ihm für notwendig erachteten Antrieb und Ausgleich hinreichend einzuwirken.“19 Dem letzten Jahresbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) zufolge ist das Gesamtaufkommen der Ausgleichsabgabe im Jahr 2017 gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Integrationsämter haben danach 642 Millionen Euro und damit 78 Millionen Euro (fast 14 Prozent) mehr an Ausgleichsabgabe eingenommen als 2016.20 „Die Einnahmen der Integrationsämter durch die Ausgleichsabgabe sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Grund dafür ist zum einen die ‚Anpassungsklausel‘ in § 160 Absatz 3 SGB IX. Die gestaffelten Zahlbeträge für unbesetzte Pflichtarbeitsplätze erhöhten sich für die Arbeitgeber in den Jahren 2012 und 2016 pro Monat um jeweils gut 10 Prozent. Die Steigerung der Ausgleichsabgabe ist an die Entwicklung der Bezugsgröße21 gekoppelt. Zum anderen ist die Steigerung der guten Entwicklung des Arbeitsmarkts geschuldet. Seit Jahren steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Deutschland. Damit steigt auch die Bemessungsgrundlage für die Beschäftigungspflicht .“22 Forderungen nach einer deutlichen Erhöhung der Ausgleichsabgabe müssen daher stets danach überprüft werden, ob damit deren Finanzierungsfunktion gesteigert werden soll, oder ob sie erforderlich erachtet wird, um ihre Antriebs- und Ausgleichfunktion zu verbessern. Unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des BVerfG darf die Finanzierungsfunktion jedenfalls nicht in den Vordergrund rücken. 3.2.2. Beschäftigungswirkung Wissenschaftliche Studien zu möglichen Wirkungen einer Erhöhung der geltenden Ausgleichsabgabe auf die Beschäftigungschancen schwerbehinderter Menschen liegen - soweit ersichtlich - nicht vor. 18 BVerfG, Urteil vom 26. Mai 1981 - 1 BvL 56/78; BVerfG, Rn. 101, zit. nach juris. 19 BVerfG, Urteil vom 26. Mai 1981 - 1 BvL 56/78; BVerfG, Rn. 102, zit. nach juris. 20 BIH-Jahresbericht 2017/2018 (Fn.5), S. 28. 21 Bezugsgröße = Durchschnittentgelt aller Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr (§ 18 Absatz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV). 22 BIH-Jahresbericht 2017/2018 (Fn. 5), S. 28. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 10 4. Wirksamkeit von Quotensystemen Die Bundesregierung weist in der bereits zitierten Antwort auf eine Kleine Anfrage23 unter Berufung auf eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln)24 für den Bereich der betrieblichen Ausbildung darauf hin, dass „die Beschäftigungspflicht und das Vermeiden der Ausgleichsabgabe nicht die entscheidenden Faktoren für die Personalverantwortlichen sind, Menschen mit Behinderungen einzustellen. […] Wesentlich wichtigere Motive sind danach vielmehr das soziale Engagement und die Gewinnung von besonders motivierten Auszubildenden.“25 Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung stellt sich die Frage, ob einer Quotenregelung mit Ausgleichsabgabe bei Nichterfüllung überhaupt nennenswerte Wirkungen auf die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen beigemessen werden können. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development - OECD) aus dem Jahr 2009 zieht die Integrationswirkung von Quotenregelungen grundsätzlich in Zweifel.26 Demgegenüber stellt ein Autorenteam der Universität St. Gallen (Schweiz), das im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung einer allgemeinen Beschäftigungspflicht in der Schweiz Politikansätze zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Behinderungen in ausgewählten Ländern vergleicht, fest: „Politikansätze zur Integration von Menschen mit Behinderung unterscheiden sich stark in den einzelnen Ländern. Die volkswirtschaftliche Wirksamkeit dieser Integrationspolitik ist noch in ihren Anfängen. Eine abschließende Wertung der einzelnen Politikansätze ist daher beim derzeitigen Stand der Forschung noch nicht möglich. Die Wirkung von Einzelaspekten lässt sich jedoch bereits absehen. [...] Auch zeigen erste Ergebnisse , dass eine Beschäftigungsverpflichtung wahrscheinlich besser ist als ihr Ruf.“27 Eine 2014 veröffentlichte Studie des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung (European Centre for Social Welfare Policy and Research) in Wien hat die Wirkung unter- 23 Siehe oben Fn. 16. 24 Metzler, Christoph et al.: Menschen mit Behinderung in der betrieblichen Ausbildung, IW-Analysen Nr. 114, IW Köln 2017, abrufbar im internetauftritt des IW Köln: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen /2017/329530/IW-Analyse_114_2017_Behinderung_Ausbildung.pdf (letzter Abruf: 6. August 2019). 25 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sören Pellmann, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 19/3877, Bundestagsdrucksache 19/4157 vom 4. September 2018, S. 7. 26 OECD Sickness, Disability and Work - Keeping on Track in the Economic Downturn, Backgroundpaper, High- Level Forum, Stockholm, 14-15 May 2009, OECD (engl.), S. 25, abrufbar im Internetauftritt der OECD: http://www.oecd.org/employment/emp/42699911.pdf (letzter Abruf: 6. August 2019). 27 Deuchert, Eva; Liebert, Helge: Unterschiedliche Politikansätze zur Arbeitsmarkt-Integration von Menschen mit Behinderung: Eine volkswirtschaftliche Perspektive, in: Böhm, Stephan A.; Baumgärtner, Miriam K.; Dwertmann ; David. J. G. (Hrsg.): Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung: Best Practices aus dem ersten Arbeitsmarkt, St. Gallen: Springer Gabler 2013, S. 23 - 44 (41). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 088/19 Seite 11 schiedlicher politischer Mechanismen zur Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) untersucht.28 Die wesentlichen Ergebnisse der in englischer Sprache verfassten Studie hat der Autor in einem in Österreich erschienen Aufsatz zusammengefasst: Fuchs, Michael: Beschäftigungsquoten für behinderte Personen: Parameter, Aspekte, Effektivität, in: Soziale Sicherheit (Zeitschrift des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger) 9/2013, S. 438-445. - Anlage - Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten haben danach zur Stimulation der Arbeitsnachfrage eine Beschäftigungspflicht eingeführt, die regelmäßig auch mit einer entsprechenden Ausgleichsabgabe verbunden ist. „Die empirischen Analysen zeigen in ihrer Gesamtheit, dass sich die Gesamtbeschäftigung von behinderten Personen aufgrund von Beschäftigungsquoten leicht erhöhen könnte. Diese fördern jedoch in erster Linie die Beschäftigung von bereits bestehenden Arbeitnehmern/-nehmerinnen eines Unternehmens. Die Beschäftigungsaussichten von Personen, die zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Behindertenstatus keine Beschäftigung aufweisen, werden nicht verbessert.“29 Einer spezifischen Studie zufolge habe allerdings die in Österreich erfolgte Reform 2001, bei der die Ausgleichstaxe erheblich erhöht wurde, „gewisse positive Ergebnisse“ gezeigt.30 Eine Übertragung der Ergebnisse aus Österreich auf Länder mit anderen gesetzlichen Rahmenbedingungen bedarf jedoch gründlicher Prüfung.31 *** 28 Fuchs, Michael (2014): Quota Systems for Disabled Persons: Parameters, Aspects, Effectivity. Policy Brief 3/2014, Vienna: European Centre (engl.), abrufbar im Internetauftritt des European Centre: https://www.euro.centre.org/publications/detail/408 (letzter Abruf: 16. Juli 2019). 29 Anlage, S. 444. 30 Anlage, S. 444, Fn. 5. 31 Deuchert/Liebert (Fn. 27), S. 41.