© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 084/19 Die Versorgungsmedizin-Verordnung Fragen zur Vereinbarkeit mit der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 2 Die Versorgungsmedizin-Verordnung Fragen zur Vereinbarkeit mit der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 084/19 Abschluss der Arbeit: 18. Juni 2019 Fachbereiche: WD 6: Arbeit und Soziales WD 3: Verfassung und Verwaltung (Gliederungspunkt 2) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 3 1. Einleitung Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 7 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) werden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung von den zuständigen Behörden festgestellt. Dabei werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt , wobei eine Feststellung nur zu treffen ist, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt, § 152 Abs. 1 Satz 5 und Satz 6 SGB IX. Das SGB IX gibt kein eigenes Bewertungssystem für die Feststellung einer Behinderung und des Grads der Behinderung vor.1 Vielmehr wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind, § 153 Abs. 2 SGB IX. Bislang hat das BMAS keinen Gebrauch von der Ermächtigungsgrundlage gemacht.2 Bis zum Erlass einer eigenständigen Verordnung für das Schwerbehindertenrecht gelten gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) entsprechend. Die VersMedV regelt die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG, für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 BVG, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung, § 1 VersMedV. Die in § 1 VersMedV genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu § 2 VersMedV festgelegt. Anhand dieser „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ werden der Grad der Behinderung und der Grad der Schädigungsfolgen festgelegt . Die Anlage zu § 2 VersMedV gliedert sich in Teil A: Allgemeine Grundsätze, Teil B: GdS3- Tabelle, Teil C: Begutachtung im sozialen Entschädigungsrecht und Teil D: Merkzeichen. Derzeit überarbeitet das BMAS die in der Anlage zu § 2 VersMedV enthaltenen „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“. Im Herbst 2018 wurde der Referentenentwurf des BMAS der Sechsten 1 Düwell, jurisPR-ArbR 19/2019 Anm. 1. 2 Dau in: Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX, 5. Auflage 2019, § 153 Rn. 1. 3 Grad der Schädigung. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 4 Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) mit Stand 28. August 20184 (6. ÄndV der VersMedV) vorgelegt5, der sich auf die Ermächtigungsgrundlagen in § 153 Abs. 2 SGB IX und § 30 Abs. 16 BVG stützt. Laut BMAS beruhen die vorgesehenen Änderungen auf Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales.6 Aufgabe des nach § 3 Abs. 1 VersMedV unabhängigen Beirats ist es, das BMAS zu allen versorgungsärztlichen Angelegenheiten zu beraten und die Fortentwicklung der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ entsprechend dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft und versorgungsmedizinischer Erfordernisse vorzubereiten. Gemäß dem Referentenentwurf der 6. ÄndV der VersMedV betreffen die Empfehlungen des Beirats insbesondere den neu gefassten Teil A „Gemeinsame Grundsätze“ sowie die fachspezifischen Begutachtungsgrundsätze für „Sehfunktionen und verwandte Funktionen“, für „Funktionen des hämatologischen und des Immunsystems“ und für „Muskuloskeletale Funktionen“. Die Gesamtüberarbeitung der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ sei zudem Teil des von der Bundesregierung beschlossenen Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention .7 Laut Begründung des Referentenentwurfs der 6. ÄndV der VersMedV sei Ziel „nicht nur die Verbesserung der fachspezifischen Begutachtungskriterien durch Anpassung an den aktuellen Stand der evidenzbasierten Medizin, sondern auch die Implementierung des bio-psycho-sozialen Modells des modernen Behinderungsbegriffs der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit , Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health - ICF) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization - WHO) in die gemeinsamen Begutachtungsgrundsätze“.8 4 Abrufbar auf der Internetseite des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands - Gesamtverband e. V., http://infothek .paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/d1b5c893b161af93c125835300438b40/$FILE/Entwurf_6-%C3%84ndVO- VersMedV_2018-08-28.pdf (zuletzt abgerufen am 14. Juni 2019). 5 BMAS, Informationen und häufige Fragen zum Entwurf der 6. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin -Verordnung (VersMedV) vom 14. Februar 2019, S. 1, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads /DE/Thema-Soziale-Sicherung/informationspapier-zur-6-verordnung-zur-aenderung-der-versorgungsmedizin -verordnung.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 14. Juni 2019). 6 BMAS, Informationen und häufige Fragen zum Entwurf der 6. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin -Verordnung (VersMedV) vom 14. Februar 2019, S. 2, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads /DE/Thema-Soziale-Sicherung/informationspapier-zur-6-verordnung-zur-aenderung-der-versorgungsmedizin -verordnung.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abge-rufen am 14. Juni 2019). 7 Referentenentwurf des BMAS, Sechste Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (Vers- MedV), S. 1. 8 Referentenentwurf des BMAS, Sechste Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (Vers- MedV), S. 55. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 5 Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurden um Stellungnahme zu der Frage gebeten, ob der vom BMAS vorgelegte Referentenentwurf der 6. ÄndV der VersMedV insbesondere in Teil A, Teil C und Teil D Anlage zu § 2 der VersMedV „wesentliche Entscheidungen “ enthält, welche vom Gesetzgeber selbst zu treffen wären. 2. Grundsätze der Wesentlichkeitslehre 2.1. Inhalt der Wesentlichkeitslehre9 Nach der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten und in ständiger Rechtsprechung ausgeprägten Wesentlichkeitslehre muss der Gesetzgeber staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch ein förmliches Gesetz legitimieren und alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen.10 Im Ergebnis folgen daraus ein Verbot der Delegation wesentlicher Entscheidungen an die Exekutive und eine Pflicht des parlamentarischen Gesetzgebers, solche Entscheidungen selbst vorzunehmen. Die Wesentlichkeitslehre wird als Ausprägung des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes gesehen.11 Nach diesem Grundsatz darf die Verwaltung nur tätig werden, wenn sie dazu durch ein formelles Gesetz ermächtigt wurde.12 Anhand des Kriteriums der Wesentlichkeit versucht das BVerfG zum einen die Erforderlichkeit eines Gesetzes und zum anderen dessen erforderliche Regelungsdichte zu bestimmen.13 2.2. Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit Eindeutige Abgrenzungskriterien zu der Frage, welche Entscheidungen wesentlich und damit durch formelles Gesetz zu regeln sind, existieren nicht. Die Bestimmung der Wesentlichkeit erfolgt vielmehr nach einer Art Gleitformel.14 Je wesentlicher sich eine Angelegenheit für die Allgemeinheit darstellt, desto stärker ist der parlamentarische Gesetzgeber gefordert und desto detaillierter und bestimmter muss die gesetzliche Regelung ausgestaltet sein.15 Die Wesentlichkeit einer Angelegenheit wird daher weniger statisch als vielmehr flexibel verstanden und unter Zuhilfenahme zusätzlicher Kriterien aus allgemeinen verfassungsrechtlichen Regelungen, insbesondere aus den Grundrechten und dem Demokratiegebot, bestimmt.16 Dabei müssen die Gründe für 9 Die folgenden Ausführungen entstammen in weiten Teilen der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Reichweite der Wesentlichkeitslehre – Grenzfälle der Wesentlichkeit, WD 3 - 3000 - 043/15. 10 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 40, 237 (249); 49, 89 (126); 83, 130 (142, 151 f.); 95, 267 (307). 11 Vgl. Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Auflage 2017, § 6 Rn. 11 f. 12 Ehlers, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Auflage 2016, § 2 Rn. 40. 13 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 106. 14 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Auflage 2017, § 6 Rn. 14; Ehlers, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Auflage 2016, § 2 Rn. 45. 15 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Auflage 2017, § 6 Rn. 14. 16 Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 6 eine Zuordnung zum parlamentarischen Gesetzgeber mit den Gründen für die Zuordnung zu den anderen Staatsgewalten abgewogen werden.17 Nach dem BVerfG lässt sich im Rahmen der Abwägung nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ermitteln, in welchen Bereichen staatliches Handeln einer parlamentarischen Rechtsgrundlage bedarf und wie weit die erforderliche Regelungsdichte geht.18 Entscheidend für die Annahme der Wesentlichkeit ist für das BVerfG insbesondere die Grundrechtsrelevanz einer Maßnahme. Die Wesentlichkeit bestimmt sich demnach vor allem danach, inwieweit eine Maßnahme in Grundrechte des Einzelnen eingreift oder für die Verwirklichung von Grundrechten bedeutsam ist.19 Daneben werden für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Angelegenheit unter anderem herangezogen: der Umfang des Adressatenkreises , die Langzeitwirkung einer Regelung, gravierende finanzielle Auswirkungen, erhebliche Auswirkungen auf das Staatsgefüge, Konkretisierung offenen Verfassungsrechts, die Auswirkungen auf das Gemeinwesen sowie die Unmittelbarkeit und Finalität einer gesetzlichen Regelung .20 Ob und in welcher Intensität politischer Streit über die zu regelnde Angelegenheit besteht , hält das BVerfG hingegen nicht für maßgebend.21 Beispiele, in denen das BVerfG die Wesentlichkeit einer Angelegenheit bejaht hat, waren etwa die Einführung des Sexualkundeunterrichts ,22 Regelungen zur Zulässigkeit des Tragens eines Kopftuchs durch Lehrerinnen,23 sowie die grundlegenden Kriterien für die Anwendung von Zulassungsbeschränkungen an Universitäten.24 Gegen die Wesentlichkeit einer Angelegenheit können unter anderem das Erfordernis flexibler Regelungen, das Vorliegen entwicklungsoffener Sachverhalte, das Bedürfnis nach dezentraler Regelung und bundesstaatlicher Koordinierung, das Einräumen von Beteiligungsrechten für die von der Regelung Betroffenen sowie die Grenzen des Sachverstands des Parlaments sprechen.25 Beispiele , in denen die Wesentlichkeit verneint wurde, waren etwa die Rechtschreibreform26 und 17 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 109. 18 BVerfGE 49, 89 (126); 111, 191 (217). 19 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113 m.w.N. 20 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 107. 21 BVerfGE 98, 218, (251 f.); a.A.: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL 2019, Art. 20 VI Rn. 107; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412). 22 BVerfGE 47, 46 (78 ff.). 23 BVerfGE 108, 282 (312). 24 BVerfGE 33, 303 (345 f.). 25 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 107; siehe vertiefend dazu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Reichweite der Wesentlichkeitslehre – Grenzfälle der Wesentlichkeit, WD 3 - 3000 - 043/15, S. 8 f. 26 BVerfGE 98, 218 (250 ff.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 7 die Einführung der Fünf-Tage-Woche in Schulen27. In der jüngeren Rechtsprechung ist das BVerfG mit der Bejahung der Wesentlichkeit eher restriktiv vorgegangen.28 3. Referententwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales der Sechsten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung Die Frage, ob der Verordnungsgeber in dem Referentenentwurf der 6. ÄndV der VersMedV wesentliche Entscheidungen vorgesehen hat, die in einem formellen Gesetz hätten geregelt werden müssen, ist folglich anhand der unter 2. dargelegten Grundsätzen zu beurteilen. Dabei wird vorab darauf verwiesen, dass - wie unter 2.2 dargelegt - keine eindeutigen Abgrenzungskriterien zu der Frage, welche Entscheidungen wesentlich und damit durch formelles Gesetz zu regeln sind, existieren. Eine abschließende Bewertung, ob vorliegend die formell-rechtlichen Regelungen im SGB IX und BVG die von ihm geforderte Regelungsdichte aufweisen, ist daher an dieser Stelle nicht möglich. Nach hiesiger Auffassung sind nach summarischer Prüfung jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich , dass der Verordnungsgeber in dem Referentenentwurf der 6. ÄndV der VersMedV derart wesentliche Entscheidungen getroffen hat, die in einem formellen Gesetz hätten geregelt werden müssen. Gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot ist nach der Rechtsprechung des BVerfG Grundrecht und zugleich objektive Wertentscheidung. Aus ihm folge, dass der Staat eine besondere Verantwortung für Menschen mit Behinderungen trage.29 Der Gesetzgeber hat seiner grundrechtlichen Schutzpflicht unter anderem im SGB IX Rechnung getragen.30 § 2 Abs. 1 SGB IX definiert den Begriff der Behinderung: Menschen mit Behinderungen sind demnach Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine solche Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Der Begriff der Behinderung war durch 27 BVerwG NJW 1975, 1182. 28 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 105 m.w.N. 29 BVerfG, NJW 2000, 2658, 2659. 30 Schmidt in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 19. Auflage 2019, Art. 3 GG Rn. 80. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 8 das Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 201631, das das SGB IX mit Wirkung zum 1. Januar 2018 neu gefasst hat, neu definiert und sprachlich an die Art. 1 Satz 2 und die Präambel Buchstabe e) des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK) angepasst worden. Die Regelung gründet sich in ihrem Verständnis dabei wesentlich auf das bio-psychosoziale Modell der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization - WHO), das der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zugrunde liegt.32 Der Referentenentwurf der 6. ÄndV der VersMedV greift dementsprechend diesen gesetzlich definierten Behinderungsbegriff auf. § 2 Abs. 2 SGB IX enthält die Legaldefinition einer Schwerbehinderung. Danach sind Menschen im Sinne des Teils 3 des SGB IX (Schwerbehindertenrecht, §§ 151 – 241 SGB IX) schwerbehindert , wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt. Wie eingangs erläutert hat der Gesetzgeber die Grundsätze des Verfahrens zur Feststellung einer Behinderung und ihres Grades in § 152 SGB IX geregelt. Die Norm legt dafür ein gestuftes Bewertungssystem („nach Zehnergraden abgestuft“) und eine Erheblichkeitsgrenze (Grad der Behinderung von wenigstens 20) sowie Verfahrensfristen fest. Zudem werden die Grundsätze des Versorgungsrechts und des Unfallversicherungsrechts für anwendbar erklärt.33 § 152 Abs. 3 SGB IX regelt die Feststellung des Grades der Behinderung bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen. § 152 Abs. 4 SGB IX erstreckt die Kompetenz der zuständigen Behörden auf die Feststellung gesundheitlicher Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche.34 § 152 Abs. 5 SGB IX regelt den Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis sowie die Grundzüge des Ausweisverfahrens. Der Bundesgesetzgeber hat somit die wesentlichen Grundsätze der Feststellung einer Behinderung und des Grads der Behinderung entschieden und in einem formellen Gesetz geregelt. Mit § 153 Abs. 2 SGB IX und § 30 Abs. 16 BVG hat der Gesetzgeber zudem eine formelle Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung geschaffen, um die Grundsätze der Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind, festzulegen. Auch die Entstehungsgeschichte der VersMedV sowie der Ermächtigungsgrundlagen in § 153 Abs. 3 SGB IX und § 30 Abs. 16 BVG geben nach hiesiger Auffassung keinen Hinweis darauf, dass die VersMedV grundsätzlich wesentliche Entscheidungen, die dem Parlament vorbehalten sind, trifft. 31 Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz ‒ BTHG), BGBl. I 2016 Nr. 66, S. 3234. 32 Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG), BT-Drs. 18/9522, S. 192. 33 Jabben in: BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 52. Edition, Stand: 1. März 2019, SGB IX § 152 Rn. 4. 34 Dau in: Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX, 5. Auflage 2019, § 152 Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 9 Bis zum 31. Dezember 2008 wurde das Ausmaß einer nach dem Bundesversorgungsgesetz auszugleichenden Schädigungsfolge nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) festgestellt. Diese wurden vom BMAS auf der Grundlage von Beschlüssen und Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats – Sektion Versorgungsmedizin – beim BMAS herausgegeben.35 Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) handelte es sich bei den AHP um antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten waren36 und nach den langjährigen Erfahrungen des BSG „ein einleuchtendes und abgewogenes, in sich geschlossenes Beurteilungsgefüge zum GdB37“ darstellten, das darauf angelegt sei, eine gleichmäßige Gutachtertätigkeit und damit eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu gewährleisten .38 BVerfG und BSG kritisierten jedoch, dass „es weder für die "Anhaltspunkte" noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des für die "Anhaltspunkte" zuständigen Expertengremiums eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes“ gebe.39 Sowohl BVerfG als auch BSG mahnten daher den Erlass einer entsprechenden Ermächtigungsgrundlage an.40 Der Gesetzgeber hat daher zunächst in § 30 Abs. 17 BVG (nunmehr § 30 Abs. 16 BVG) eine materielle Ermächtigungsgrundlage zum Erlass einer Rechtsverordnung geschaffen, die unter anderem die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen, die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen , die Aufstellung von Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 des BVG sowie das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung regelt.41 Eine inhaltliche Änderung sollte nicht erfolgen; vielmehr sollte laut Gesetzesbegründung an den über Jahrzehnte bewährten Bewertungskriterien und Verfahrensabläufen festgehalten werden.42 Mit der VersMedV wurde die neu geschaffene Ermächtigungsgrundlage konkretisiert, wobei laut Verordnungsbegründung die in den AHP niedergelegten Grundsätze und Kriterien beibehalten 35 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts, BT-Drs. 16/6541, S. 31. 36 BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 – B 9 SB 4/10 R – Rn. 20 (juris). 37 Grad der Behinderung. 38 BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. März 1995 – 1 BvR 60/95 –, Rn. 7 (juris). 39 BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. März 1995 – 1 BvR 60/95 –, Rn. 7 mwN (juris). 40 BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. März 1995 – 1 BvR 60/95 –, Rn. 7 mwN (juris). 41 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts, BT-Drs. 16/6541, S. 31. 42 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts, BT-Drs. 16/6541, S. 31. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 084/19 Seite 10 werden sollten.43 Ferner wurden in der VersMedV, wie von der Rechtsprechung gefordert, die Bildung, die Regularien und die Aufgaben des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin geregelt.44 Es bestanden jedoch Zweifel, inwieweit die Ermächtigungsgrundlage für die VersMedV in § 30 Abs. 16 BVG (bzw. zuvor § 30 Abs. 17 BVG) auch Regelungen abdeckt, die sich auf die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung bezogen.45 Der Gesetzgeber ermächtigte daher in § 70 Abs. 2 SGB IX a. F.46 das BMAS, die Grundsätze aufzustellen , die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Diese Regelung hat das Bundesteilhabegesetz in § 153 Abs. 2 SGB IX wortgleich übernommen. Soweit ersichtlich, wurde eine Unvereinbarkeit der VersMedV mit der Wesentlichkeitslehre des BVerfG bislang auch weder von der Rechtsprechung noch in der Literatur festgestellt. *** 43 Entwurf der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV), BR-Drs. 767/08, S. 3. 44 Entwurf der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV), BR-Drs. 767/08, S. 3. 45 Sozialgericht Aachen, Urteil vom 24. Oktober 2017 - S 18 SB 460/16 mwN; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 18/2953 – Entwurf eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG, BT-Drs. 18/3190, S. 5; Düwell in: Düwell/Beyer, Das neue Recht für behinderte Beschäftigte, 1. Auflage 2017, § 12 Änderungen im Individual-Schwerbehindertenrecht Rn. 284. 46 Gesetz zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 7. Januar 2015, BGBl. II 2015, S. 15.