© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 083/19 Aspekte des Schutzes der Religionsausübung am Arbeitsplatz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 2 Aspekte des Schutzes der Religionsausübung am Arbeitsplatz Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 083/19 Abschluss der Arbeit: 2. Oktober 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verfassungsrechtliche und gesetzliche Vorgaben 4 2.1. Grundgesetz 4 2.2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 5 2.3. Betriebsverfassungsgesetz 5 2.4. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen 6 3. Aktuelle Gesetzgebungsvorhaben 7 4. Ausgewählte Rechtsprechung 7 5. Formelle Maßnahmen zur Gewährleistung der Religionsfreiheit am Arbeitsplatz 9 6. Umsetzung des Schutzes der Religionsfreiheit im Arbeitsalltag 9 7. Vergleich zu anderen Personengruppen 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 4 1. Einleitung In der nachfolgenden Arbeit soll auf verschiedene Aspekte zum Schutz der Religionsausübung im Arbeitsleben eingegangen werden, insbesondere auf verfassungsrechtliche und gesetzliche Regelungen, die die Ausübung der Religionsfreiheit in Deutschland im Arbeitsleben in privaten Arbeitsverhältnissen schützen. Zudem anderen wird auf ausgewählte Rechtsprechung zu dieser Thematik hingewiesen. Ferner soll auch die praktische Umsetzung des Schutzes der Religionsund Glaubensfreiheit im Arbeitsalltag unter Einbeziehung von möglichen Maßnahmen des Arbeitgebers in den Blick genommen werden.1 2. Verfassungsrechtliche und gesetzliche Vorgaben 2.1. Grundgesetz Verfassungsrechtlich ist der Schutz des Grundrechts der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG)2 verankert, in denen es heißt: (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich, so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten . Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben.3 Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG normiert zudem, dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung , seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. 1 In der vorliegenden Arbeit wird lediglich auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse eingegangen. 2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 28. März 2019 (BGBl. I S. 404) geändert worden ist. Abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/gg/index.html in deutscher Sprache und unter https://www.gesetze-im-internet.de/englisch_gg/index.html in englischer Sprache (beide zuletzt abgerufen am 26. September 2019). 3 Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 1968, - 1 BvR 241/66 -; BVerfG, Urteil vom 24. September 2003, - 2 BvR 1436/02-; BVerfG, Urteil vom 27. Januar 2015 - 1 BvR 1181/10; BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 27. Juni 2017 - 2 BvR 1333/17. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 5 2.2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)4 regelt den Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder der ethischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität, § 1 AGG. Es gilt für alle Beschäftigten in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst. Die Vorschriften sind nach § 6 AGG auf Arbeitnehmer und Auszubildende anzuwenden und gelten auch für Bewerber um ein Beschäftigungsverhältnis und Personen, deren Beschäftigungsverhältnis bereits beendet ist. Von diesen Vorschriften kann nicht zum Nachteil des geschützten Personenkreises abgewichen werden (§ 31 AGG). Das Verbot einer Benachteiligung wegen der Religion oder Weltanschauung ergibt sich aus § 1 AGG in Verbindung mit § 7 AGG, wobei jede Benachteiligung am Arbeitsplatz, insbesondere bei der Einstellung, beim beruflichen Aufstieg, bei einer Weisung, bei den Arbeitsbedingungen oder einer Beendigung davon umfasst ist. Umfasst sind sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen, § 3 AGG. Das Gesetz sieht als Folge von solchen Benachteiligungen etwa Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten des Arbeitgebers vor, aber auch Unterlassungs- und Entschädigungsansprüche der Arbeitnehmer. So regelt § 15 Abs. 1 AGG etwa, dass der Arbeitgeber bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot verpflichtet ist, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen, es sei denn, er hat die Pflichtverletzung nicht zu vertreten. Darüber hinaus ist der Arbeitgeber nach § 13 AGG verpflichtet, eine Beschwerdestelle einzurichten , an die sich alle Beschäftigten wenden können, wenn sie sich im Zusammenhang mit ihrem Beschäftigungsverhältnis vom Arbeitgeber, von Vorgesetzten, anderen Beschäftigten oder Dritten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt fühlen. Die Beschwerde ist zu prüfen und das Ergebnis der oder dem beschwerdeführenden Beschäftigten mitzuteilen. 2.3. Betriebsverfassungsgesetz § 75 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)5 schreibt ferner ausdrücklich vor, dass Arbeitgeber und Betriebsrat darüber zu wachen haben, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, insbesondere, dass jede Benachteiligung von Personen aus Gründen ihrer Rasse oder wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Abstammung oder sonstigen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Behinderung, ihres Alters, ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität unterbleibt. Die Regelung 4 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet .de/agg/ in deutscher Sprache und unter https://www.gesetze-im-internet.de/englisch_agg/index.html in englischer Sprache (beide zuletzt abgerufen am 27. September 2019). 5 Betriebsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. September 2001 (BGBl. I S. 2518), das zuletzt durch Artikel 4e des Gesetzes vom 18. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2651) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/betrvg/ in deutscher Sprache und unter https://www.gesetze-im-internet .de/englisch_betrvg/index.html in englischer Sprache (beide zuletzt abgerufen am 27. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 6 begründet unmittelbare Pflichten des Arbeitgebers und des Betriebsrates bezüglich des Umgangs mit den Arbeitnehmern und ergänzt mithin das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit, vgl. § 2 Abs. 1 BetrVG. Subjektive Rechte der im Betrieb tätigen Arbeitnehmer begründet die Regelung allerdings nicht. 2.4. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen Die Grundrechte verpflichten Private grundsätzlich zwar nicht unmittelbar untereinander selbst. Sie entfalten jedoch auch auf die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen Ausstrahlungswirkung und sind von den Fachgerichten, insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen strahlen sie mithin in das Zivilrecht ein. Dabei sind die kollidierende Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zum Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Betroffenen möglichst weitgehend wirksam werden.6 Den Gerichten obliegt es, den grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren.7 Mit dem Abschluss des Arbeitsvertrages begründen die Vertragsparteien neben den Hauptpflichten auch die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Die Begründung dieser Vertragspflicht, ihre Konkretisierung im Arbeitsverhältnis sowie die Beendigung der Vertragsbeziehung sind mithin auch unter Beachtung des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit durch die Gerichte zu beurteilen. So kann nach § 106 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO)8 der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht anderweitig verbindlich festgelegt sind. Der Arbeitsvertrag ist dahingehend auszulegen, dass eine Abwägung beiderseitiger Interessen stattfinden muss und die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Die Grenzen des Direktionsrechts können sich insbesondere aus der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ergeben. Die Leistungspflichten des Arbeitnehmers und das Weisungsrecht des Arbeitgebers können im Hinblick auf einen offengelegten Glaubens- oder Gewissenskonflikt eingeschränkt sein. Bei einem Glaubenskonflikt des Arbeitnehmers, der der Erbringung der Arbeitsleistung entgegensteht , dürfte zudem regelmäßig ein Kündigungsrund vorliegen, der eine Kündigung nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG)9 rechtfertigen kann. Allerdings sind auch hier bei der Frage der Wirksamkeit der Kündigung die Grundrechte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander in 6 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. April 2018, - 1 BvR 3080/09-. 7 Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30. Juli 2003, - 1 BvR 792/03, Rn. 12 ff. (nach juris). 8 Gewerbeordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Februar 1999 (BGBl. I S. 202), die zuletzt durch Artikel 5 Absatz 11 des Gesetzes vom 21. Juni 2019 (BGBl. I S. 846) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/gewo/ (zuletzt abgerufen am 26. September 2019). 9 Kündigungsschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1317), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2509) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/kschg/ (zuletzt abgerufen am 26. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 7 Ausgleich zu bringen. Die Grundrechte sind zudem zu berücksichtigen bei der Anwendung der kündigungsrechtlichen Generalklausel des § 626 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)10, wonach ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden kann, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Auch die Regelung in § 612a BGB, wonach der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen darf, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt und die Vorschrift des § 616 BGB, der Regelungen zu einer vorübergehenden Verhinderung vorsieht, müssen im Hinblick auf die Religionsfreiheit des Arbeitnehmers und die unternehmerischen Grundrechte des Arbeitgebers verhältnismäßig nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausgelegt werden. 3. Aktuelle Gesetzgebungsvorhaben Aktuelle Gesetzgebungsvorhaben zur Stärkung des Schutzes der Religionsfreiheit am Arbeitsplatz sind derzeit nicht bekannt. 4. Ausgewählte Rechtsprechung Die nachfolgende Darstellung ausgewählter Gerichtsentscheidungen beschränkt sich auf Entscheidungen zur Religionsausübung am Arbeitsplatz in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen. Im Jahre 2002 hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) über die Wirksamkeit einer Kündigung zu entscheiden. Eine Arbeitnehmerin, die als Verkäuferin in einem Kaufhaus tätig war und aufgrund ihres Glaubens ein Kopftuch trug, wurde von ihrem Arbeitgeber aufgefordert, das Kopftuch bei der Arbeit abzunehmen. Nachdem sie sich weigerte, sprach der Arbeitgeber die Kündigung aus. Das BAG stellte fest, dass diese nicht wirksam war. Das Tragen eines - islamischen - Kopftuches allein rechtfertige regelmäßig noch nicht die ordentliche Kündigung einer Verkäuferin in einem Kaufhaus aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen nach § 1 Abs. 2 KSchG. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers dürfe nach § 315 Abs. 1 BGB nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden, welches inhaltlich durch die Grundrechte, hier vor allem durch das einheitliche Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, mitbestimmt werde. Dies gelte ebenso für die vertragliche Rücksichtnahmepflicht im Rahmen des § 242 BGB. Das Gericht stellte fest, dass die grundrechtlich geschützte Unternehmerfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG 10 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 31. Januar 2019 (BGBl. I S. 54) geändert worden ist, abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ in deutscher und unter https://www.gesetze-im-internet .de/englisch_bgb/index.html in englischer Sprache in der dort genannten Fassung (beide zuletzt abgerufen am 26. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 8 eine Einschränkung der Ausübung der Religionsfreiheit im zu entscheidenden Fall rechtfertigen könnte, wenn betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Einbußen konkret dargelegt worden wären; bloße Vermutungen und Befürchtungen genügten nicht.11 Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hatte im Zusammenhang mit der Frage der Wirksamkeit einer Abmahnung eines Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber in einem Urteil vom 26. Februar 2002 entschieden, dass ein gläubiger Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der betrieblichen Belange wegen seiner Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich berechtigt sei, seinen Arbeitsplatz zur Abhaltung kurzzeitiger Gebete zu verlassen. Insoweit könne ein Leistungshindernis nach § 616 BGB bestehen. Wegen der grundrechtlich geschützten Belange des Arbeitgebers dürfe der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz jedoch nicht ohne Rücksprache mit seinem Vorgesetzten verlassen. Die Pflichtgebete des Islam seien nur innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens abzuhalten. Der Arbeitnehmer sei nicht berechtigt, den genauen Zeitpunkt seiner Arbeitsunterbrechung innerhalb des Zeitrahmens ohne Rücksprache mit seinem Vorgesetzten selbst zu bestimmen. Ansonsten würde er ungerechtfertigt in die dem Arbeitgeber obliegende Organisationsgewalt eingreifen, die diesen berechtige, für eine zeitlich nicht gebundene Religionsausübung einen am wenigsten betriebsstörenden Zeitpunkt auszusuchen.12 In einer Entscheidung aus dem Jahr 2011 hatte das LAG Hamm über einer außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber zu entscheiden. In seinem Urteil stellte es hierzu fest, dass dann, wenn ein Arbeitnehmer gelten machen will, dass eine arbeitgeberseitige Weisung seine Glaubensüberzeugung verletze und deshalb von ihm nicht zu beachten sei, er plausibel darlegen müsse, dass seine Haltung auf einer für ihn zwingenden Verhaltensregel beruhe, gegen die er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könne. Gelänge ihm das nicht, so komme nach den Grundsätzen der so genannten beharrlichen Arbeitsverweigerung eine außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber in Betracht.13 Das LAG Nürnberg hatte in einer Entscheidung aus dem Jahr 2018 über die Wirksamkeit einer Weisung durch den Arbeitgeber zu entscheiden. Der Arbeitgeber einer als Verkaufsberaterin und Kassiererin tätigen Arbeitnehmerin, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch trug, wies sie darauf hin, dass man sie nicht weiter beschäftigen werde, wenn sie ein Kopftuch trage. Dazu berief er sich auf die bestehende Kleiderordnung. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass das im konkreten Fall vorliegende Verbot, während der Arbeitszeit aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, eine mittelbare Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/78 beziehungsweise des § 3 Abs. 2 AGG darstelle. Die Weisung, so das Gericht, sei nicht durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt. Im Unternehmen eine Politik der Neutralität zu verfolgen, sei grundsätzlich ein legitimes Ziel und könne eine Weisung, die das offene Tragen religiöser Symbole verbiete , sachlich rechtfertigen. Allerdings genüge es nicht, wenn der Arbeitgeber die Neutralitätspolitik lediglich wegen subjektiver Befindlichkeiten betreiben möchte. Die Abwägung der beiderseitigen Interessen sei hier zugunsten der Arbeitnehmerin zu entscheiden. Darüber hinaus beeinträchtige das Kopftuchverbot die Religionsfreiheit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG. 11 BAG, Urteil vom 10. Oktober 2002, - 2 AZR 472/01 -. 12 LAG Hamm, Urteil vom 26. Februar 2002, - 5 Sa 1582/01 -, Leitsatz (nach juris). 13 LAG Hamm, Urteil vom 20. April 2011, - 4 Sa 2230/10 -, Leitsatz (nach juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 9 Daher habe im Rahmen der mittelbaren Drittwirkung bei der Auslegung und Anwendung von einfachrechtlichen Normen einer Abwägung mit den Grundrechten des Arbeitgebers zu erfolgen, die im vorliegenden Fall dazu geführt habe, dass der Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin der Vorzug gegenüber der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers der Vorzug zu geben sei.14 Gegen das Urteil wurde vor dem BAG Revision eingelegt. Das Gericht hat im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vier Fragen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet, die das Verständnis der Richtlinie 2000/78/EG15 sowie der Religionsfreiheit nach Art. 10 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC, auch im Verhältnis zu nationalem Verfassungsrecht, betreffen.16 5. Formelle Maßnahmen zur Gewährleistung der Religionsfreiheit am Arbeitsplatz Wie weit die Pflicht zur Gewährleistung und zum Schutz der Religions- und Glaubensfreiheit in privaten Arbeitsverhältnissen reicht, ist von der Rechtsprechung im Einzelfall umrissen worden. Diese Entscheidungen können nicht verallgemeinert werden. Vielmehr ist es in erster Linie Sache der Fachgerichte, bezogen auf den konkreten Streitfall und das jeweils betroffene Arbeitsverhältnis unter Abwägung der kollidierenden Grundrechtspositionen zu entscheiden. Vom Gesetzgeber wurden keine konkreten Handlungspflichten für die Arbeitgeber aufgestellt. 6. Umsetzung des Schutzes der Religionsfreiheit im Arbeitsalltag Im Hinblick auf die praktische Umsetzung des Schutzes der Religionsfreiheit im Arbeitsalltag kann auf Publikationen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hingewiesen werden. Die Antidiskriminierungsstelle kommt dabei insbesondere zu dem Ergebnis, dass in Großunternehmen die Berücksichtigung religiöser Vielfalt häufig ein Bestandteil des betrieblichen Diversity Managements sei. Aufgrund der Betriebsgröße bestehe bei Bedarf zumeist die Möglichkeit, auf besondere Urlaubswünsche Rücksicht zu nehmen, Gleitzeitregelungen einzuführen und Räume der Stille für Gebete einzurichten. Kleine und mittlere Unternehmen hätten jedoch häufig kein strategisches Diversity Management, da sie insoweit über weniger finanzielle Ressourcen verfügten. Hier käme es auf die Bildung von Netzwerken an, in denen sich diese Unternehmen gegenseitig darin unterstützen könnten, ein betriebliches Diversity Management aufzubauen.17 14 LAG Nürnberg, Urteil vom 27. März 2018, - 7 Sa 304/17-. 15 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303/16 vom 2. Dezember 2000, S. 16-22). 16 BAG, EuGH-Vorlage vom 30. Januar 2019, - 10 AZR 299/18 (A). 17 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Religiöse Vielfalt am Arbeitsplatz, April 2017, abrufbar unter https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/Literatur_Reli_Weltan/Religioese_Vielfalt _am_Arbeitsplatz.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt abgerufen am 1. Oktober 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 10 Ferner kann auf die Ergebnisse einer Umfrage hingewiesen werden. Das Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI) hatte vor dem Hintergrund des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Unternehmen und Verwaltungen zu ihren Erfahrungen mit religiöser Vielfalt am Arbeitsplatz befragt. Die Ergebnisse der Befragung zeigten, dass es in Deutschland bislang noch nicht viele Maßnahmen im Umgang mit Religion im Arbeitsleben gebe. Die meisten Maßnahmen bezögen sich auf die Arbeitsorganisation; durch entsprechende Vorkehrungen werde die Ausübung von Religion im Rahmen der betrieblichen Gegebenheiten ermöglicht. Maßnahmen, die sich auf andere Unternehmensbereiche bezögen, seien häufig in eine umfassendere Diversity-Strategie eingebettet. Im Hinblick auf die Frage der Wirksamkeit der präsentierten Maßnahmen wurde darauf hingewiesen, dass eine systematische oder wissenschaftliche Messung oder Evaluation von Maßnahmen, die auf die Prävention von oder Intervention gegen Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit am Arbeitsplatz abzielten, nicht bekannt sei. Gerade in Bezug auf die Religionszugehörigkeit sei es schwierig, eindeutige Wirksamkeitsindikatoren zu identifizieren und einzusetzen. Anders als in manchen Bereichen gäbe es hier keine Kennzahlen, die eine Orientierung ermöglichten , wie etwa Quotenregelungen bei der Inklusion von Frauen oder von Menschen mit Behinderung . Insgesamt scheine es eine eher geringe Anzahl an Konflikten aufgrund der Religionszugehörigkeit im Arbeitsleben zu geben. Allerdings würden Maßnahmen für einen diskriminierungsfreien Umgang mit Religion in der Regel erst dann getroffen, wenn konkreter Bedarf bestehe.18 7. Vergleich zu anderen Personengruppen Wie bereits dargestellt, regelt das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 GG, dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf und niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt darf. Das Grundgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und die Grundrechte als Wertentscheidungen gelten insofern auch für andere etwaige Benachteiligungen. Insbesondere für Menschen mit Behinderung gibt es weitere Vorschriften im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)19, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere auch am Arbeitsleben, zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken, §§ 1, 49 ff. SGB IX. So können Menschen mit Behinderung beispielsweise Hilfe zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes , eine Berufsvorbereitung, eine betriebliche Qualifizierung oder eine berufliche Weiterbildung 18 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Umgang mit religiöser Vielfalt am Arbeitsplatz Praxisbeispiele aus Unternehmen und Verwaltungen, August 2016, abrufbar unter https://www.antidiskriminierungsstelle .de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Expertise_Umgang_mit_religioeser_Vielfalt _am_Arbeitsplatz_20160922.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (zuletzt abgerufen am 1. Oktober 2019). 19 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 8. Juli 2019 (BGBl. I S. 1025) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 083/19 Seite 11 erhalten. Auch an Arbeitgeber von Menschen mit Behinderungen können Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, wie etwa Ausbildungszuschüsse, Eingliederungszuschüsse und Zuschüsse für Arbeitshilfen im Betrieb. Ab einer Betriebsgröße von 20 Arbeitsplätzen ist der Arbeitgeber zudem verpflichtet, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen, § 154 SBG IX. ***