© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 – 083/17 Fragen zum Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 083/17 Seite 2 Fragen zum Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 – 083/17 Abschluss der Arbeit: 3. Januar 2018 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 083/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Erfordernis internationaler Abkommen 4 2. Deutsch-türkisches Sozialversicherungsabkommen vom 30. April 1964 4 3. Auswirkungen auf die gesetzliche Krankenversicherung 5 4. Auswirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung 5 5. Auswirkungen auf die gesetzliche Unfallversicherung 6 6. Schlussbetrachtung 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 083/17 Seite 4 1. Erfordernis internationaler Abkommen Grundlage der Leistungserbringung aus der deutschen Sozialversicherung ist seit ihrem Bestehen die vorherige Verpflichtung zur Beitragszahlung regelmäßig aufgrund der Ausübung einer versicherten Erwerbstätigkeit in Deutschland. Dabei wird nicht nach Staatsangehörigkeit oder Herkunft unterschieden.1 Mit einer weiter voranschreitenden Globalisierung steigt auch die Zahl der Menschen, die im Laufe ihres Berufslebens als Arbeitsmigranten in mehreren Ländern erwerbstätig sind. Die wirtschaftliche Verflechtung der hoch entwickelten Industriestaaten und der damit verbundene Austausch von Arbeitskräften, die Ausländerbeschäftigung in Deutschland, sowie der internationale Tourismus erfordern auf dem Gebiet der sozialen Sicherung den rechtlichen Ausbau der Beziehungen zu anderen Staaten. Diesem Ziel dienen Abkommen, die auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und der Gleichbehandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen abgeschlossen werden. Dadurch wird deren sozialer Schutz auch im Fall eines Aufenthalts im jeweils anderen Vertragsstaat sichergestellt.2 2. Deutsch-türkisches Sozialversicherungsabkommen vom 30. April 19643 Mit der Anwerbung von Arbeitnehmern aus der Türkei übernahm die Bundesrepublik Deutschland auch die Verantwortung für die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer und ihrer Familien. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Arbeitnehmer aus anderen Anwerbeländern. Die Arbeitnehmer zahlen Beiträge zur Sozialversicherung und Steuern und haben deshalb auch Anspruch auf Sozialleistungen. Das Deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen ist auf einen umfassenden sachlichen Geltungsbereich hin angelegt und bezieht sich auf die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung sowie die Zahlung von Kindergeld. Die Arbeitslosenversicherung ist nicht Gegenstand des Abkommens .4 Das Deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen richtet sich nach den üblichen Standards des zwischen- und überstaatlichen Sozialversicherungsrechts.5 1 Vgl. Persönlicher und räumlicher Geltungsbereich, § 3 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV). 2 Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Themen > Soziales Europa und Internationales > International > Sozialversicherungsabkommen. Abrufbar im Internet unter http://www.bmas.de/DE/Themen/Soziales-Europaund -Internationales/International/sozialversicherungsabkommen.html, zuletzt abgerufen am 22. Dezember 2017. 3 BGBl. 1965 II S. 1169. 4 Kalmund, Egon (2017). Internationale Soziale Sicherung – Die Abkommen mit den Anwerbeländern, in: Übersicht über das Sozialrecht. Ausgabe 2017/2018. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Verlag Bildung und Wissen, Nürnberg, S. 1260 f. 5 Vgl. Sozialversicherungsabkommen (2016), Sammlung der Texte der von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten zweiseitigen Abkommen über Soziale Sicherheit. Broschüre der Deutschen Rentenversicherung Bund. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 083/17 Seite 5 3. Auswirkungen auf die gesetzliche Krankenversicherung Das Abkommen dehnt den Versicherungsschutz der deutschen Krankenversicherung auf den Aufenthalt in der Türkei aus. Die bei einem Aufenthalt in der Türkei benötigten Sachleistungen werden von der türkischen Sozialversicherung im Wege der Sachleistungshilfe durch die dortigen Ärzte, Apotheker und sonstigen Sachleistungsträger erbracht. Anspruchsberechtigt sind neben dem Versicherten auch Familienangehörige. Denn die zur deutschen gesetzlichen Krankenversicherung gezahlten Beiträge dienen nicht nur der Absicherung der eigenen gesundheitlichen Risiken, sondern auch dem Schutz der nicht erwerbstätigen Familienangehörigen. Dies gilt auch bei einem Aufenthalt im Vertragsausland. Die Kosten für die in der Türkei erbrachten Sachleistungen sind von der deutschen Krankenversicherung im Wege von kalenderjährlich zu vereinbarenden Monatspauschbeträgen je Familie zu erstatten. Die Monatspauschbeträge basieren auf den Durchschnittskosten in der Türkei nach dortigem Recht anspruchsberechtigter Personen und berücksichtigen die durchschnittliche Zahl der in der Türkei wohnenden Familienangehörigen. Hintergrund ist die Regelung des § 15 a Abs. 2 Satz 2 des Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens, nach dem sich der Kreis der hinsichtlich der Monatspauschbeträge zu berücksichtigenden Familienangehörigen nach den für den Träger des Aufenthaltsortes geltenden Rechtsvorschriften richtet. Neben den Ehepartnern und Kindern sind dies in der Türkei unter Umständen auch sonst nicht krankenversicherte, gebrechliche Eltern, für die eine Unterhaltspflicht besteht. Im Jahr 2016 belief sich der Monatspauschbetrag auf vorläufig 40,90 Euro. Insgesamt waren für rund 11.000 Familienversicherte in der Türkei 4,4 Millionen Euro zu erstatten. Obwohl seit Jahren bekannt, werden die der deutschen Krankenversicherung entstehenden Kosten für in der Türkei lebende Familienmitglieder von in Deutschland beschäftigten Versicherten immer wieder kontrovers diskutiert.7 Die Thematik war auch Gegenstand einer öffentlichen Petition auf der Internetseite des Deutschen Bundestages, mit dem Ziel entsprechende bilaterale Abkommen zu ändern. Das Petitionsverfahren wurde am 30. Juni 2011 abgeschlossen, weil dem Anliegen nicht entsprochen werden konnte.8 4. Auswirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung Auch auf dem Gebiet der Rentenversicherung gelten im Wesentlichen die allgemeinen Regelungen des internationalen Rechts der Sozialen Sicherheit. So sind für die Prüfung der Anspruchs- 7 Z.B. im Artikel in der FAZ: Mitversicherung von ausländischen Familienangehörigen in der Kritik, aktualisiert am 15. August 2003. Abrufbar im Internet unter http://www.faz.net/aktuell/politik/krankenversicherung-mitversicherung -von-auslaendischen-familienangehoerigen-in-der-kritik-1114321.html, zuletzt abgerufen am 28. Dezember 2017. 8 Die Beschlussempfehlung ist abrufbar https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2010/_10/_24/Petition _14686/forum/Beitrag_109004.$$$.batchsize.10.tab.1.html, zuletzt abgerufen am 28. Dezember 2017. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 083/17 Seite 6 voraussetzungen die in beiden Ländern zurückgelegten Versicherungszeiten zusammenzurechnen . Es gilt, die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen beider Vertragsstaaten auch hinsichtlich des Leistungsexports in Drittstaaten und die Leistungserbringung in den anderen Vertragsstaat im Rahmen der Gebietsgleichstellung. Das Abkommen enthält ferner Bestimmungen über die Beitragserstattung, wenn Arbeitnehmer in ihr Heimatland zurückkehren. Mit dem Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen verbundene Aufwendungen der gesetzlichen Rentenversicherung sind bisher nicht beziffert worden. Die Rentenbestandsstatistik erfasst lediglich die Anzahl und den durchschnittlichen Rentenzahlbetrag der Renten nach dem Wohnsitzland der Rentner. Im Jahr 2016 wurden aus der deutschen allgemeinen Rentenversicherung in die Türkei 1.148 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, 30.232 Altersrenten, 27.965 Witwen-/Witwerrenten, 1.236 Waisenrenten und vier Erziehungsrenten gezahlt. Der durchschnittliche monatliche Rentenzahlbetrag belief sich auf 639,28 Euro.10 Aus der Rentenbestandsstatistik lassen sich jedoch keine allein auf dem Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen beruhenden Rentenzahlungen herleiten, da in den in die Türkei gezahlten Renten auch solche erfasst sind, denen ausschließlich in Deutschland zurückgelegte rentenrechtliche Zeiten zugrunde liegen. Hierzu gehören auch Rentenzahlungen an Deutsche in der Türkei lebende Ruheständler. Auch über die Anzahl und Höhe der aus der türkischen Sozialversicherung nach Deutschland gezahlten Renten sind Veröffentlichungen nicht bekannt. 5. Auswirkungen auf die gesetzliche Unfallversicherung Für die Unfallversicherung gelten hinsichtlich des Leistungsexports dieselben Regelungen wie in der gesetzlichen Rentenversicherung. Hinsichtlich der Feststellung von Berufskrankheiten werden die Expositionszeiten in beiden Ländern zusammengerechnet. Eine Aufstellung der auf die gesetzliche Unfallversicherung entfallenen Kosten, die auf das Deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen zurückzuführen sind, ist nicht verfügbar. 6. Schlussbetrachtung Die Erstattung der Aufwendungen für in der Türkei lebende Familienangehörige durch die deutsche an die türkische Krankenversicherung wird im politischen Raum zum Teil als ungerecht empfunden und wiederholt eine entsprechende Änderung des Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens gefordert. Selbst wenn die Türkei einer Änderung zustimmen würde, was 10 Die Rentenbestände in der gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: 1. Juli 2016. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Abrufbar im Internet unter http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Rentenbestandsstatistik-2016.pdf;jsessionid =F4E3E2892C69578D7E8B52670B5AEA9B?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 27. Dezember 2017. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 083/17 Seite 7 nicht wahrscheinlich erscheint, könnten die berechtigten türkischen Familienangehörigen durch einen Umzug nach Deutschland im Rahmen der Familienversicherung Leistungen der deutschen Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Auf die gesetzlichen Krankenkassen kämen gegebenenfalls aufgrund der weitaus höheren Gesundheitskosten in Deutschland gegenüber der Türkei deutliche Mehraufwendungen zu.12 Die Erstattung an die türkische Krankenversicherung beträgt lediglich 0,002 Prozent der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.13 Zudem geht die Anzahl der Familienangehörigen von in Deutschland versicherten türkischen Arbeitnehmern kontinuierlich zurück. So hat sich die Anzahl der Familienversicherten, für die Pauschbeträge zu zahlen sind, von 1999 bis 2016 um zwei Drittel reduziert. 14 Ein politischer Handlungsbedarf mit dem Ziel einer Änderung des Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens besteht hinsichtlich des Kreises der für die Monatspauschbeträge zu berücksichtigenden Familienangehörigen somit nicht. In der Diskussion ist indes noch eine Anpassung des Deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen für Alterspendler, da immer mehr türkische Versicherte im Alter zwischen Deutschland und der Türkei pendeln und das Abkommen aus 1964 von seiner ursprünglichen Intention her nicht auf deren Belange eingestellt ist. Alternde Migranten stellen auch für die deutsche Gesellschaft eine Herausforderung dar.15 *** 12 Bundestags-Drucksache 15/337, S. 49 f. 13 Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung 2016 = rund 222,77 Milliarden Euro. Bundesgesundheitsministerium : Finanzergebnisse der GKV 2016. Abrufbar im Internet unter https://www.bundesgesundheitsministerium .de/presse/pressemitteilungen/2017/1-quartal/finanzergebnisse-gkv.html, zuletzt abgerufen am 28.Dezember 2017. 14 Vgl. Fn. 12. 1999 war der Pauschbetrag für knapp 34.000 gegenüber rund 11.000 Familienversicherte 2016 zu erstatten. 15 Aşkın, Basri (2009). Deutsch-türkisches Sozialversicherungsabkommen: Für Alterspendler sind zeitgemäßere Ansprüche notwendig, in: Soziale Sicherheit, 3/2009, S. 100 ff.