Deutscher Bundestag Entschädigung deportierter Russlanddeutscher für Gesundheitsschäden infolge sowjetischer Atomtests in Kasachstan nach dem BVG Sachstand Wissenschaftliche Dienste © 2010 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-081/10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 2 Entschädigung deportierter Russlanddeutscher für Gesundheitsschäden infolge sowjetischer Atomtests in Kasachstan nach dem BVG Aktenzeichen: WD 6 – 3000-081/10 Abschluss der Arbeit: 5. Mai 2010 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Voraussetzung einer Entschädigung nach dem BVG 4 2. Verschleppung als Internierung 4 2.1. Deportation, Trud-Armee und Sondersiedlungen 4 2.2. Internierung im Sinne des BVG 5 2.2.1. Definition 5 2.2.2. Trud-Armee 5 2.2.3. Sondersiedlungen 6 2.2.4. Weiterer Verbleib im Deportationsgebiet 6 2.2.5. Zwischenfazit 6 3. Kausalitätsfragen 6 4. Ergebnis 7 5. Anlage 8 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 4 Die staatliche Versorgung von Kriegsopfern und die Entschädigung für Personenschäden, die sich aus den Folgen des Krieges ergeben, regelt das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG). 1. Voraussetzung einer Entschädigung nach dem BVG Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält, „wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, […] wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung“. Dem Militärdienst werden in § 1 Abs. 2 BVG neben unmittelbarer Kriegseinwirkung und Kriegsgefangenschaft u.a. auch eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit gleichgestellt (§ 1 Abs. 2 lit. c BVG). 2. Verschleppung als Internierung Die aufgrund der Atomwaffentests erlittenen gesundheitlichen Schäden der verschleppten Russlanddeutschen könnten nach dem BVG entschädigungspflichtig sein, wenn sie als Folge einer Internierung anzusehen wären. 2.1. Deportation, Trud-Armee und Sondersiedlungen Die Deportation der russlanddeutschen Bewohner der Wolgarepublik erfolgte aufgrund eines Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941, das den Wolgadeutschen pauschal Spionage und Sabotage zugunsten des Deutschen Reichs vorwirft. Im Zuge der Deportation wurden zahlreiche Wolgadeutsche nach Kasachstan verbracht. Die Wolgarepublik wurde aufgelöst, das Gebiet der Wolgarepublik den benachbarten Verwaltungsgebieten zugeschlagen. Die Deportierten sowie die in Sibirien siedelnden, nicht deportierten Russlanddeutschen wurden ab dem 10. Januar 1942 zum Teil für die Arbeitsarmee (Trud-Armee) mobilisiert und in Lagern untergebracht. Die übrigen Russlanddeutschen waren generell dem Regime der Sonderkommandanturen unterworfen und lebten in sog. Sondersiedlungen, die sie nicht verlassen durften. Ab Kriegsende bis 1948 wurden die Volksdeutschen aus der Trud-Armee entlassen und ebenfalls in den Sondersiedlerstatus überführt. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 5 Seit 1954 erfolgten schrittweise Erleichterungen des Sondersiedlerstatus für verschiedene Gruppen unter den Russlanddeutschen; dieser Prozess wurde 1955 durch die Ergebnisse der Moskaureise Konrad Adenauers beschleunigt. Am 13. Dezember 1955 kam es schließlich zur Aufhebung der Sondersiedlungsbeschränkungen.1 2.2. Internierung im Sinne des BVG 2.2.1. Definition Nach der völkerrechtlichen Definition, die auch dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 zugrunde liegt, ist eine Internierung die mit der Festnahme beginnende, auf dem eng begrenzten und überwachten Raum des Internierungsortes stattfindende und mit der Freilassung endende Festhaltung einer Zivilperson fremder Staatsangehörigkeit durch die Gewahrsamsmacht. Von diesem völkerrechtlichen Begriff weicht der des BVG nur insofern ab, als er nicht fremde Staatsangehörigkeit des Internierten zur Gewahrsamsmacht voraussetzt. Es genügt auch die Internierung wegen deutscher Volkszugehörigkeit.2 „Die Internierung unterscheidet sich von der Zuweisung eines Zwangsaufenthalts im Sinne der Art. 41 bis 43 des Genfer Abkommens, die nur eine Aufenthaltsbeschränkung bedeutet, durch den allgemeinen Freiheitsentzug“3. 2.2.2. Trud-Armee Die Errichtung der Trud-Armee und die Heranziehung der Russlanddeutschen zum Dienst in diesen Einheiten sind nach Auffassung des Regensburger Osteuropa-Instituts eindeutig Folge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Die Trud-Armisten waren nach Auskunft des Instituts im Allgemeinen in besonderen abgeschlossenen (mit Stacheldraht und Wachtürmen umgebenen) Lagern kaserniert. Außerhalb der Arbeitszeit war der Aufenthalt im Allgemeinen auf den Bereich des Lagers beschränkt. Eventueller kurzer Ausgang innerhalb eines eng begrenzten Sperrbezirks an arbeitsfreien Tagen hing sowohl (und primär) von der Erfüllung der Arbeitsnormen wie vom guten Willen des Lagerkommandanten ab und bildete die Ausnahme. Bei eigenmächtiger Entfer- 1 GRAßMANN, Walter (2004): Geschichte der evangelisch-lutherischen Russlanddeutschen in der Sowjetunion, der GUS und in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Gemeinde, Kirche, Sprache und Tradition . Dissertation, LMU München: Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften. Diss. Ludwigs- Maximilian-Universität München, S. 82 ff.; vgl. zum Ganzen auch EISFELD, Alfred; HERDT, Victor (1996): Deportation , Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941-1956. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, S. 9 ff. (Anlage). 2 ROHR /STRÄßER (Begr.) (2006): Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht Handkommentar. 6. Aufl. Sankt Augustin: Asgard Verlag, § 1, K 74. 3 Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22. Februar 1961, Az. 9 RV 946/58, Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 6 nung aus dem Lager oder Verweigerung der Arbeit drohte nach Angaben des Osteuropa-Instituts die Todesstrafe. Da die Mitglieder der Trud-Armee mithin unter haftähnlichen Bedingungen lebten , geht das Osteuropa-Institut davon aus, dass es sich dabei um Internierung im o.g. Sinne handelte . 2.2.3. Sondersiedlungen Auch in den zumeist in unwirtlichen Gegenden gelegenen Sondersiedlungen war die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Ein Verlassen der zugewiesenen Verbannungsorte wurde schwer bestraft. Die Bewohner mussten sich zudem in regelmäßigen Abständen bei den Sonderkommandanturen melden. Teilweise bestanden in den Sondersiedlungen nach Darstellung des Osteuropa-Instituts zwangsarbeitsähnliche Bedingungen fort. Für die „überwältigende Mehrheit“ der nach 1947 in Sondersiedlungen lebenden Deutschen sei daher von einer Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 lit. c BVG auszugehen. 2.2.4. Weiterer Verbleib im Deportationsgebiet Nach der Aufhebung der Sonderkommandanturen bestand weiterhin ein Rückkehrverbot in die ehemaligen Siedlungsgebiete, Umsiedlungen in andere Gebiete waren jedoch möglich, so dass es nach 1955 auch zu zahlreichen Umsiedlungen ehemaliger Wolgadeutscher kam, die offenbar trotz des Fortbestandes des Zwangsaufenthaltsstatus (s.o. 2.2.1) zumindest geduldet wurden 4. Von einer internierungsähnlichen Unterbringung unter strenger Bewachung im Sinne der o.g. Definition kann jedenfalls in diesem Stadium nicht mehr die Rede sein. 2.2.5. Zwischenfazit Während Zeiten in der Trud-Armee durchweg als Internierung anzusehen sind, müsste dies für Zeiten der Unterbringung in den Sondersiedlungen einer Einzelfallprüfung vorbehalten werden. 3. Kausalitätsfragen Es soll an dieser Stelle nicht in Zweifel gezogen werden, dass die von Russlanddeutschen aus Kasachstan geltend gemachten Gesundheitsschäden auf die in Semipalatinsk durchgeführten Atomwaffenversuche zurückzuführen sind. Die Datenanalyse zeigt nach Darstellung des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS)„eine deutliche Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen der Strahlen- 4 Vgl. EISFELD/HERDT (Fn. 1 - Anlage), S. 21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 7 exposition und der Tumorsterblichkeit“5. Auch haben Atombombenversuche in Kasachstan ab 1949 stattgefunden, also bereits während der als Internierung zu qualifizierenden Zeiten der Trud-Armee und der Sondersiedlungen6. Eine Entschädigungspflicht nach dem BVG würde allerdings nur bestehen, wenn zwischen der unter dem Schutz des Versorgungsrechts stehenden Tätigkeit (hier: Internierung) und der Schädigung ein Ursachenzusammenhang besteht7. Die Gesundheitsschädigung müsste durch die der Internierung „eigentümlichen Verhältnisse“ (vgl. § 1 Abs. 1 BVG) herbeigeführt worden sein. Dies ist dann der Fall, wenn sie den besonderen, von den Verhältnissen des zivilen Lebens abweichenden und diesen in der Regel fremden Verhältnissen der Internierung zuzurechnen ist8. Dazu gehören z.B. Hunger, Kälte, harte Arbeit, enge Belegung der Unterkünfte, ungenügende Heizung und Beleuchtung, Störungen der Verpflegung, schlechte medizinische Versorgung etc. Eine vergleichbare Situation braucht im Zivilleben nicht ausgeschlossen zu sein, sie darf aber nicht üblicherweise auch dort bestehen9. Die gesundheitsgefährdenden Wirkungen der Atombombenversuche betrafen jedoch nicht nur die internierten Volksdeutschen, sondern die gesamte in dem in Rede stehenden Gebiet wohnende Bevölkerung. Sie sind daher nicht auf die oben beschriebenen besonderen Verhältnisse der Internierung zurückzuführen. 4. Ergebnis Da es an dem von der Rechtsprechung geforderten Kausalitätszusammenhang zwischen der Internierung und den Atombombenversuchen fehlt, ist eine Entschädigung nach dem BVG ausgeschlossen . Andere Rechtsgrundlagen für einen Entschädigungsanspruch der betroffenen Personengruppe sind nicht ersichtlich. 5 BfS (2003): Gesundheitliche Folgen der sowjetischen Atombombenversuche in Kasachstan. In: Jahresbericht 2002, S. 33. 6 Nach Angaben der von der australischen Regierung unterhaltenen Nuclear Explosions Database (Abrufbar im Internetaufgtritt von Geoscience Australia: http://www.ga.gov.au/oracle/nuclear-explosion.jsp [Abruf: 5. Mai 2010] haben zwischen 1949 und 1955 22 Atombombenversuche in Semipalatinsk/Kasachstan stattgefunden. 7 EICHENHOFER, Eberhard (2007): Sozialrecht. 6. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, Rn 422. 8 Vgl. zum militärischen oder militärähnlichen Dienst GELHAUSEN, Reinhard (1998): Soziales Entschädigungsrecht . Eine Einführung. 2. Aufl. Neuwied: Luchterhand, Rn. 81 9 GELHAUSEN (1998) (Fn. 8), vgl. Urteil des BSG vom 17. Mai 1977, Az. 10 RV 19/76. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 – 3000-081/10 Seite 8 5. Anlage EISFELD, Alfred; HERDT, Victor (1996): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941-1956. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. Auszug: S. 922.