© 2015 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 080/15 Entschädigungszahlungen für die Opfer des Germanwings-Absturzes nach dem OEG? Abhandlung ausgewählter Fragen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 2 Entschädigungszahlungen für die Opfer des Germanwings-Absturzes nach dem OEG? Abhandlung ausgewählter Fragen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 080/15 Abschluss der Arbeit: 18. Juni 2015 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Findet das OEG im Falle des Germanwings-Absturzes Anwendung? 4 2. Welche Rechte können die Angehörigen der Opfer des Absturzes aus dem OEG und anderen Gesetzen ableiten? 5 2.1. OEG 5 2.2. Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) 5 2.2.1. Sterbegeld 5 2.2.2. Überführungskosten 6 2.2.3. Hinterbliebenenrenten 6 2.2.4. Schülerunfallversicherung 6 3. Unterscheidet das OEG zwischen Angehörigen deutscher Staatsbürger und Angehörigen von EU-Ausländern? 6 4. Welche Leistungen sind konkret laut OEG zu gewähren? 6 5. Besteht ein Regress-Anspruch des Bundes gegen die Lufthansa? 7 6. Ist es von Relevanz, dass eine strafrechtlich relevante Tat noch nicht sicher nachgewiesen werden kann? 7 7. Was unterscheidet „Primäropfer“ von „Sekundäropfern“ und inwiefern spielt dies eine Rolle? 7 8. Wie wurde beim ICE-Unglück von Eschede am 3. Juni 1998 verfahren und auf welche Leistungen erhielten Überlebende einerseits und Angehörige von Verstorbenen andererseits Anspruch? 7 8.1. Soforthilfe und psychosoziale Betreuung 8 8.2. Entschädigungen 8 9. Gab es aufgrund des ICE-Unglücks gesetzliche Änderungen in Bezug auf die Opferentschädigung? 9 10. Literatur 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 4 Zusammenfassung Der Zwischenbericht1 der französischen Behörde für zivile Luftfahrt-Sicherheitsuntersuchung (BEA) zum Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 über den Französischen Alpen wurde Anfang Mai publiziert. Danach scheinen die Voraussetzungen für eine Entschädigung der Hinterbliebenen der Opfer nach dem Opferentschädigungsgesetz vorzuliegen: es scheint sich um einen vorsätzlichen, rechtwidrigen tätlichen Angriff des Copiloten zu handeln (siehe Seiten 28, 29). Für Hinterbliebene von Opfern in einem Beschäftigungsverhältnis (Besatzungsmitglieder, Lehrer, etc.) gelten die Vorschriften der Gesetzlichen Unfallversicherung, Diese Ansprüche sind grundsätzlich vorrangig vor den Ansprüchen, die nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend gemacht werden können. Bei dem ICE-Unglück von Eschede im Juni 1998 waren die Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz nicht erfüllt. Die Deutsche Bahn haftete entsprechend den Regelungen des Haftpflichtgesetzes. 1. Findet das OEG im Falle des Germanwings-Absturzes Anwendung? Ratio des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) ist die Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern, diese vor Gewalttaten und Schaden durch kriminelle Handlungen zu schützen. Versagt dieser Schutz, so haftet der Staat nach den Voraussetzungen des OEG. Der Gesetzgeber hat sich mit der Einführung des OEG dazu entschieden, die unschuldigen Opfer von Gewalttaten vor den wirtschaftlichen Folgen einer Straftat besonders zu schützen und sie damit aus dem System der Sozialhilfe herauszuheben. Grundsätzlich stehen allen Menschen, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, Entschädigungsleistungen nach dem OEG zu. Dass das hier betroffene Flugzeug nicht über deutschem Boden abgestürzt ist, spielt dabei keine Rolle. Zwar ist der räumliche Anwendungsbereich des OEG auf den Geltungsbereich des Gesetzes, also die Bundesrepublik Deutschland beschränkt. Jedoch erfährt diese räumliche Anwendbarkeit durch § 1 Satz 1 OEG eine Erweiterung auf Vorfälle auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug. Da es sich bei dem betroffenen Flugzeug um eine deutsche Maschine der Lufthansa bzw. deren Tochter Germanwings handelte, findet das OEG Anwendung. Konkret Anspruch auf Versorgung hat nach § 1 Absatz 1 OEG, wer durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriff an der Gesundheit geschädigt ist. Regelmäßig wird die Angriffshandlung den Tatbestand einer Straftat nach dem StGB erfüllen. Voraussetzung ist dies jedoch nicht. Im OEG ist bewusst auf eine ausdrückliche Bezugnahme auf Bestimmungen des StGB verzichtet worden. Maßgeblich für das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs ist nicht die innere Einstellung des Täters, sondern die objektive Rechtsfeindlichkeit des Täterhandelns. Dafür kommt es nicht darauf an, ob der Täter in der Lage ist, sein Handeln zu bewerten. Schuldfähigkeit im Sinne des StGB ist daher ebenfalls keine Voraussetzung, ebenso wenig eine feindselige Haltung des Täters gegenüber dem Opfer. 1 Der Zwischenbericht ist abrufbar unter: http://www.bea.aero/docspa/2015/d-px150324.de/pdf/dpx 150324.de.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 5 Voraussetzung für einen Anspruch ist zudem, dass der tätliche Angriff vorsätzlich erfolgt. Der Begriff des Vorsatzes ist dabei zumindest an den strafrechtlichen Begriff angelehnt – das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Auch schuldunfähige Personen können vorsätzlich handeln – ausreichend ist insofern der natürliche Vorsatz. Der Vorsatz muss grundsätzlich erwiesen sein.2 Dies ist in Fällen wie dem vorliegenden praktisch schwierig. Das Bundessozialgericht geht jedoch davon aus, dass aus äußeren Umständen auf den Vorsatz des Täters geschlossen werden kann. Anhand der bisherigen Ergebnisse der Ermittlungen könnte demnach auf ein vorsätzliches Handeln geschlossen werden. 2. Welche Rechte können die Angehörigen der Opfer des Absturzes aus dem OEG und anderen Gesetzen ableiten? 2.1. OEG § 1 Absatz 8 OEG regelt den Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung. Ist ein solcher Anspruch dem Grunde nach gegeben, erhalten die Anspruchsberechtigten auf Antrag die entsprechenden Leistungen. Ein Anspruch besteht in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Nach §§ 38 Abs. 1 Satz 1, 43 BVG haben die Witwe, der Witwer, der hinterbliebene Lebenspartner, die Waisen und die Verwandten der aufsteigenden Linie Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung. Verlobte haben keinen Anspruch auf Witwenversorgung. Als Kinder waisenberechtigt sind auch Stiefkinder oder Kinder des gleichgeschlechtlichen Lebenspartners , die der Verstorbene in seinen Haushalt aufgenommen hatte sowie Pflegekinder. Bei dem Anspruch des Hinterbliebenen handelt es sich um einen vom Geschädigten abgeleiteten Anspruch. Deshalb ist Voraussetzung für einen Anspruch des Hinterbliebenen, dass in der Person des Geschädigten alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. 2.2. Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Beschäftigte kraft Gesetzes in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Diese Voraussetzung für das Vorliegen des Versicherungsschutzes dürfte bei der Besatzung des Germanwings-Fluges und dem die Schüler begleitenden Lehrpersonal (abhängig vom Status ggf. auf der Grundlage des Landesbeamtenrechts) bestanden haben sowie für Passagiere, die ebenfalls aus beruflichen Gründen mit diesem Flug gereist sind. Kommt es zu einem tödlichen Arbeitsunfall, so sichert die gesetzliche Unfallversicherung die Hinterbliebenen mit finanziellen Leistungen ab. Dazu gehören: 2.2.1. Sterbegeld Das Sterbegeld beträgt pauschal ein Siebtel der im Zeitpunkt des Todes geltenden Bezugsgröße (§ 18 SGB IV ). Es wird an die Hinterbliebenen gezahlt, die die Kosten der Bestattung getragen haben. 2 Bundessozialgericht (BSG), Urt. v. 24.4.1991, Az. 9a/9 RVg 1/89. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 6 Haben nicht die Hinterbliebenen, sondern außenstehende Dritte die Kosten der Bestattung getragen , werden ihnen die tatsächlich entstandenen Kosten bis zur Höhe des Sterbegeldes erstattet. 2.2.2. Überführungskosten Ist der Tod nicht am Ort der ständigen Familienwohnung des Versicherten eingetreten, können unter bestimmten Voraussetzungen (siehe § 64 Absatz 2 SGB VII) neben dem Sterbegeld auch die Kosten für die Überführung an den Ort der Bestattung erstattet werden. 2.2.3. Hinterbliebenenrenten Renten an Hinterbliebene sollen den Familienangehörigen von Versicherten Ersatz für den entfallenden Unterhalt schaffen. Alle Hinterbliebenenrenten dürfen zusammen höchstens 80 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes betragen. Zusätzlich besteht meist ein Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (DRV). Dort muss ein Antrag gestellt werden. Die Rentenversicherung prüft, ob ihre Rente wegen des Zusammentreffens mit der Rente der Unfallversicherung zu kürzen ist. Witwen und Witwer sowie eingetragene Lebenspartner und Lebenspartnerinnen können eine Hinterbliebenenrente erhalten, wenn sie nicht wieder geheiratet haben. 2.2.4. Schülerunfallversicherung Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchstabe b SGB VII sind Schüler während des Besuchs von allgemeinoder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen ebenfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung pflichtversichert. Unter diesen Voraussetzungen könnte ggf. ein Anspruch auf Sterbegeld bzw. Überführungskosten bestehen. 3. Unterscheidet das OEG zwischen Angehörigen deutscher Staatsbürger und Angehörigen von EU-Ausländern? Nach dem Wortlaut des § 1 Absatz 1 OEG ist nicht zwischen Deutschen und Ausländern zu unterscheiden . Dies gilt uneingeschränkt jedenfalls für deutsche Staatsangehörige und Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedstaates. Deutschen und EU-Staatsangehörigen werden die Leistungen nach dem OEG auch ins Ausland erbracht. Neben Deutschen und EU-Staatsangehörigen haben auch andere Ausländer, die sich bereits seit drei Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhalten, einen Anspruch auf das volle Leistungsspektrum des OEG. 4. Welche Leistungen sind konkret laut OEG zu gewähren? Das OEG enthält keine eigenständigen Regelungen zu Versorgungsleistungen. Die Leistungen des OEG richten sich nach dem BVG. Die Versorgung nach § 9 BVG umfasst im Falle der hier mangels Überlebender nur noch in Betracht kommenden Hinterbliebenen Bestattungsgeld und eine Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 7 Hinterbliebenenrente. Die konkrete Höhe der Leistungen ist jeweils stark vom Einzelfall abhängig und bemisst sich nach den wirtschaftlichen und sozialen Umständen im konkreten Fall. 5. Besteht ein Regress-Anspruch des Bundes gegen die Lufthansa? Zahlt der Staat aufgrund des OEG Entschädigungen an die Opfer des Unglücks, stellt sich die Frage, inwiefern eventuell daneben bestehende Ansprüche der Opfer gegen die Fluggesellschaft eine Rolle spielen. Ob ein Anspruch der Opfer gegen die Lufthansa besteht, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Hierfür fehlen im Übrigen bisher klärende Fakten. Sollte jedoch ein solcher Anspruch zu bejahen sein, gilt folgendes: Gemäß § 4 Absatz 2 Satz 2 Alt. 2 OEG trägt der Bund die Kosten der Versorgung, wenn die Schädigung auf einem deutschen Luftfahrzeug eingetreten ist. Da hier ein deutsches Flugzeug über ausländischem Boden abgestürzt ist, trägt der Bund die Kosten alleine. Nach § 81 a BVG geht ein gesetzlicher Anspruch des Geschädigten gegen einen Dritten (hier z.B. die Lufthansa) im Umfang der durch das BVG begründeten Pflicht zur Gewährung von Leistungen auf den Bund über. Der Bund kann sich also in dem Umfang, den er selbst aufgrund des OEG an das Opfer leistet, bei dem Dritten, gegen den das Opfer ebenfalls einen Anspruch hat, schadlos halten. 6. Ist es von Relevanz, dass eine strafrechtlich relevante Tat noch nicht sicher nachgewiesen werden kann? Anhand des Zwischenberichtes der BEA vom 6. Mai 2015 ließe sich auf ein vorsätzliches Handeln schließen (siehe oben unter 1.). Strafrechtliche Relevanz im eigentlichen Sinne muss nicht vorliegen. 7. Was unterscheidet „Primäropfer“ von „Sekundäropfern“ und inwiefern spielt dies eine Rolle? Das Opfer eines Schockschadens wird als „Sekundäropfer“ bezeichnet. Schockschäden sind die psychische Schädigung einer Person, die zwar nicht selbst unmittelbar Opfer eines tätlichen Angriffs geworden ist, jedoch als Zeugen einer solchen Gewalttat oder als Empfänger einer Nachricht bezüglich einer solchen gleichwohl betroffen ist. Das unmittelbar geschädigte Opfer ist in diesem Zusammenhang als „Primäropfer“ zu bezeichnen . Diese Unterscheidung spielt zwar auch im OEG eine Rolle, ist im hier vorliegenden Fall jedoch nicht von Relevanz. 8. Wie wurde beim ICE-Unglück von Eschede am 3. Juni 1998 verfahren und auf welche Leistungen erhielten Überlebende einerseits und Angehörige von Verstorbenen andererseits Anspruch? Bei dem ICE-Unglück von Eschede am 3. Juni 1998 kamen 101 Menschen ums Leben und 105 wurden zum Teil schwer verletzt. Ursache für das Unglück war ein geplatzter Radreifen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 8 Wenige Tage nach dem Unglück setzte die Bahn einen unabhängigen Ombudsmann ein.3 Er sollte in eigener Verantwortung schnell finanzielle Überbrückungshilfen gewähren und eingreifen bei Streit um die Entschädigung für die finanziellen Folgen des Unglücks. Vor allem aber war er für die Koordination der psychosozialen Betreuung der Opfer, Angehörigen, Hinterbliebenen und Helfer verantwortlich. Die Bahn gewährte zunächst einen Fonds von fünf Millionen Mark. Damit sollte Soforthilfe gewährt und die psycho-soziale Betreuung organisiert werden. Die Ausführungen zu 8.1 und 8.2 basieren auf den Ausführungen von Reiter (2005). 8.1. Soforthilfe und psychosoziale Betreuung Etwa drei Monate nach dem Unglück haben der Ombudsmann und sein Team – zu denen auch Psychologinnen und Psychologen gehörten – begonnen, therapeutisch betreute Gruppen einzurichten . Ihre Arbeit nahmen die Gruppen im Januar 1999 auf. Die späte Einrichtung der Gruppen entsprach der Empfehlung der einschlägigen Fachliteratur. Später erkannte man, dass mit einer früheren Einrichtung der Gruppen traumatische Prozesse besser hätten gesteuert werden können. 8.2. Entschädigungen Parallel zu der Arbeit des Obmanns begann die Haftpflichtabteilung der Deutschen Bahn ihre Arbeit aufzunehmen. Sie war für die Abwicklung von schadensrechtlichen Forderungen zuständig, zunächst meist Aufwandserstattungen (z.B. Bestattungskosten). Jeder Geschädigte konnte sich auf Kosten der Bahn anwaltlich vertreten lassen. Anders als bei Straßenverkehrsunfällen wandten sich die Betroffenen nicht an die Versicherungen , sondern direkt an die Deutsche Bahn. 355 Verletzte und Hinterbliebene erhoben Ansprüche auf Schadenersatz. Hinzu kamen Regressansprüche der Sozialversicherungsträger. Nach dem Haftpflichtgesetz (HaftPflG)4, das für die Bahn gilt, hatte sie – ohne Rücksicht darauf, ob sie ein Verschulden traf – die Kosten der Heilbehandlung und der Rehabilitation zu tragen. Unterhaltsansprüche der Hinterbliebenen waren nach diesem Gesetz (in der damaligen Fassung) nur mit einer monatlichen Rente bis zu höchstens 3000 Mark zu erstatten. Eine höhere Rente und Schmerzensgeld waren danach den Opfern von Eschede nur zu zahlen, wenn der Bahn ein Verschulden an dem Unglück nachzuweisen war. Die Bahn war jedoch bereit, eine Haftung „wie bei 3 Ombudsmann war Prof. Dr. Otto Ernst Krasney, Prof. für Sozialrecht an der Universität Gießen und ehemaliger Vizepräsident des Bundessozialgerichts in Kassel. 4 Haftpflichtgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 4. Januar 1978 (BGBl. I S. 145), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 9 Verschulden“ zu übernehmen. Für Verletzte orientierte sich die Bahn an den Schmerzensgeldtabellen , wie sie beispielsweise der ADAC für Verkehrsopfer ausarbeitet.5 Die deutsche Rechtsprechung sah für den Tod eines nahen Angehörigen an sich kein Schmerzensgeld vor. Nur wenn bei Hinterbliebenen selbst ein psycho-pathologischer Zustand diagnostiziert wurde, stand ihnen Schmerzensgeld zu. Dies hätte bedeutet, dass in diesem Fall für jeden Angehörigen ein entsprechendes Gutachten zu erstellen gewesen wäre (Probleme: unterschiedliche Zeitpunkte des Vorliegens eines psycho-pathologischer Zustands, unterschiedliche Ausprägungsformen ). Der Bahnvorstand akzeptierte den Vorschlag des Ombudsmanns: sie zahlte für jeden Todesfall ein einheitliches Schmerzensgeld. In der deutschen Rechtsprechung wurden damals 5.000 bis 10.000 Mark pro Todesfall als angemessenes Schmerzensgeld angesehen. Der Ombudsmann und der Bahnvorstand einigten sich auf 30.000 Mark pro Todesfall. Dies galt auch für Partner aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Auch die Angehörigen der verstobenen Bahnmitarbeiter haben – entgegen der gesetzlichen Regelung – das gleiche Schmerzensgeld erhalten. Die Interessengemeinschaft, in der hauptsächlich Hinterbliebene organisiert waren, verlangte von der Bahn 550.000 Mark für jeden Todesfall. Das Berliner Landgericht, das Landgericht Lüneburg und das Oberlandesgericht Celle wiesen die Klagen auf erheblich höheres Schmerzensgeld zurück . Bis Ende 2004 hatte die Bahn Entschädigungen und Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 30 Millionen Euro gezahlt. 9. Gab es aufgrund des ICE-Unglücks gesetzliche Änderungen in Bezug auf die Opferentschädigung ? Ursache für das ICE-Unglück war ein geplatzter Radreifen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen zwei Mitarbeiter der Deutschen Bahn und einen Ingenieur des Radherstellers des ICEs. Nach fast einjähriger Prozessdauer stellte das Landgericht Lüneburg das Verfahren Mitte 2003 wegen nur geringer Schuld der Angeklagten ein. Sie mussten Geldauflagen von jeweils 10.000 5 Die Rechtsprechung legt bei der Berechnung des Schmerzensgeldes verschiedene Kriterien zu Grunde. Die Höhe hängt insbesondere davon ab, wie lange und wie stark der Geschädigte durch die Verletzungen in seiner Lebens -führung beeinträchtigt ist. Dabei werden z.B. die Dauer eines Krankenhausaufenthalts sowie die Dauer der Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt. Daneben können sich die Verletzungen für den Geschädigten auch im sozialen Alltag auswirken, wenn ihm bestimmte Tätigkeiten, wie z.B. die Ausübung eines Sports, nicht mehr möglich sind. Diese Art der Belastung beeinflusst die Höhe des Schmerzensgeldes. Das Alter des Geschädigten kann bei der Berechnung ebenfalls berücksichtigt werden. Auch psychische Beeinträchtigungen können zu einem Schmerzensgeldanspruch führen. In diesem Fall muss jedoch ein medizinisch nachweisbares Krankheitsbild vorliegen. Gefühle, wie z.B. Trauer, führen aus diesem Grund nicht zu einem Anspruch auf Schmerzensgeld . (Quelle: ADAC, https://www.adac.de/infotestrat/unfall-schaeden-und-panne/unfallabwicklung/unfall /schadenabwicklung-deutschland/Schmerzensgeld/default.aspx#tabid=tab2). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 10 Euro zahlen. Die Hinterbliebenen hatten erfolglos (Nichtannahmebeschluss) Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen die Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 153a Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) eingelegt.6 Eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) kam bei diesem Unglück nicht in Betracht, da hier die unter der Überschrift 1 beschrienen notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem OEG fehlten. Zu Änderungen des OEG kam es daher nicht. Entschädigungen nach dem Haftpflichtgesetz hatte somit nur die Deutsche Bahn zu leisten. 2.1. Änderung des Haftpflichtgesetzes Der Gesetzgeber hat das Haftpflichtgesetz (HaftPflG) im Jahr 2002 reformiert.7 Durch das am 1. August 2002 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Änderung schadenersatzrechtlicher Vorschriften (2. SchadÄndG) wurden die Bahnhaftung und insbesondere der Schmerzensgeldanspruch geändert. Der Gesetzgeber beabsichtigte „die Einführung eines allgemeinen Anspruchs auf Schmerzensgeld bei Verletzungen von Körper, Gesundheit, Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung , der über die bereits jetzt erfasste außervertragliche Verschuldenshaftung hinaus auch die Gefährdungshaftung und die Vertragshaftung umfasst, sowie die Begrenzung dieses Anspruchs bei nicht vorsätzlich verursachten Verletzungen auf Schäden, die unter Berücksichtigung ihrer Art und Dauer nicht unerheblich sind. (…) Für die Einführung eines solchen Schmerzensgeldes sprach zunächst der wichtige Gesichtspunkt eines verbesserten Opferschutzes. Erlittene Körper- oder Gesundheitsschäden verlangen nach einem Ausgleich auch des immateriellen Schadens nicht nur dann, wenn sie schuldhaft herbeigeführt wurden, sondern auch dann, wenn der Anspruchsgegner eine Gefahr gesetzt hat, die eine Haftung begründet und sich in der erlittenen Verletzung realisiert hat.“8 Durch Einführung eines Schmerzensgeldanspruchs in § 6 HaftPflG wurde somit der Umfang der Haftung erweitert. Wenn sich das schädigende Ereignis nach dem 31. Juli 2002 ereignet hat, kann der nach §§ 1–3 HaftPflG Ersatzberechtigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, auch eine billige Entschädigung in Geld – Schmerzensgeld – verlangen. Die Höchsthaftungsregelungen der §§ 9 und 10 HaftPflG wurden geändert und die Beträge heraufgesetzt und auf Euro umgestellt. 6 Verfahrensgang: LG Lüneburg, 08.05.2003 - 17 KLs 15/01; LG Lüneburg, 19.05.2003 - 17 KLs 15/01; OLG Celle, 05.06.2003 - 2 Ws 185/03; BVerfG, 27.08.2003 - 2 BvR 911/03. 7 Haftpflichtgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 4. Januar 1978 (BGBl. I S. 145), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) geändert worden ist. 8 Gesetzentwurf BT-Drs. 14/7752 vom 07.12.2001, S. 11 und 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000 – 080/15 Seite 11 10. Literatur Knickrehm, Sabine (Hrsg), Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Handkommentar, 1. Auflage Baden-Baden, Nomos 2012. Reiter, Markus, Eschede und danach – Erfahrungen aus der Arbeit des Ombudsmannes der Deutschen Bahn, Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart, 2005.