© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 076/17 Argumentationsansätze aus Rechtsprechung und Fachliteratur zur Frage der Rückforderung von Mietkautionsdarlehen im Rahmen des SGB II Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Aufwendungen für Mietkautionen und den Erwerb von Genossenschaftsanteilen werden Beziehern von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 22 Abs. 6 SGB II (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) im Wege eines Darlehens erbracht. Solange die Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen, werden Rückzahlungsansprüche aus Darlehen nach § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfs getilgt. Diese Tilgungsregelung wird von den Leistungsträgern auch auf Mietkautionsdarlehen angewandt. Die Rechtmäßigkeit dieser Praxis wird im Fachschrifttum kontrovers diskutiert. Auch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, die bereits verschiedentlich mit der Frage der Anwendbarkeit des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen befasst war, gelangt nicht zu einheitlichen Ergebnissen .1 Derzeit liegt ein entsprechender Fall dem 14. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) zur Entscheidung vor.2 Einen Überblick über in Rechtsprechung und Literatur vertretene Auffassungen hierzu gibt eine frühere Arbeit dieses Fachbereichs: Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste (2017): Rückzahlung von Mietkautionsdarlehen im Rahmen des SGB II, Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 vom 21. November 2017. Im Folgenden sollen ausgewählte Urteile und Fachbeiträge unter Hervorhebung der jeweils wesentlichen Argumentationsansätze dargestellt werden. Schwerpunkt ist dabei die Methodik der Gesetzesauslegung, wonach Bedeutung und Inhalt gesetzlicher Bestimmungen ausgehend vom Wortlaut (wörtliche oder grammatikalische Auslegung), anhand des systematischen Zusammenhangs (systematische Auslegung), der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung) sowie nach Sinn und Zweck der Bestimmung unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens (teleologische Auslegung) herausgearbeitet werden. Schließlich wird die Bestimmung auch im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben betrachtet (verfassungskonforme Auslegung). 1 Vgl. für einen Überblick über den Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur auch Nguyen, Sophia: Keine monatliche Aufrechnung bei Mietkautionsdarlehen, in: SGb 4/2017, S. 202-207 (202). 2 BSG, Urteil vom 1. April 2011 – B 14 AS 31/17 R, Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. Juni 2017 – L 7 AS 607/17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 5 2. Rechtsprechung 2.1. Bundessozialgericht In einem nach der vor dem 1. April 2011 geltenden Rechtslage zu entscheidenden Fall3 qualifizierte der 4. Senat des BSG die neue Tilgungsregelung des § 42a Abs. 2 SGB II als Rechtsänderung gegenüber der früheren Tilgungsermächtigung. Anders als die alte Tilgungsregel erfasse § 42a Abs. 2 SGB II dem Wortlaut nach alle Arten von Darlehen. Der Senat ließ offen, wie der Fall nach neuem Recht zu beurteilen wäre. Derselbe Senat äußerte aber in einem Prozesskostenhilfeverfahren4 Bedenken gegen eine bedingungslose Anwendung der Neuregelung auf Mietkautionsdarlehen, die aber nicht weiter konkretisiert wurden. 2.2. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Die Landessozialgerichte hatten sich bereits mehrfach mit der Frage der Anwendung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen zu befassen. Dies wurde dabei überwiegend bejaht . Dass jedoch selbst die Senate ein und desselben Landessozialgerichts nicht immer zu einheitlichen Ergebnissen gelangen, wird am Beispiel der jüngeren Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) aus dem Jahr 2017 deutlich. 2.2.1. 6. Senat Der 6. Senat des LSG NRW ging in einem Urteil vom 11. Mai 20175 ähnlich wie bereits im Jahr 2012 das BSG6 davon aus, dass § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II nach seinem Wortlaut auch Mietkautionsdarlehen erfasse.7 Auch systematische und teleologische Auslegung böten keine Anhaltspunkte dafür, Mietkautionen aus dem Anwendungsbereich der Bestimmung herauszunehmen. Der Gesetzgeber habe mit der Vorschrift die bislang fehlenden Rahmenvorgaben für alle Darlehen geschaffen und dies in 3 BSG, Urteil vom 22. März 2012 – B 4 AS 26/10 R. 4 BSG, Beschluss vom 29. Juni 2015 – B 4 AS 11/14 R. 5 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14. 6 BSG, Urteil vom 22. März 2012 – B 4 AS 26/10 R, siehe oben unter 2.1. 7 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14, Rn. 16 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 6 der Begründung ausdrücklich formuliert.8 Aus gesetzessystematischer Sicht lasse sich „ohne weiteres der Schluss ziehen, dass die allgemeinen Rahmenvorgaben gelten, soweit nicht für ein bestimmtes Darlehen eine abweichende Regelung getroffen ist.“9 Verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf das Bedarfsdeckungsprinzip trage das insgesamt zur Verfügung stehende Regelungsprinzip ausreichend Rechnung.10 In atypischen Fällen komme statt eines Darlehens auch die Gewährung eines Zuschusses in Betracht.11 2.2.2. 7. Senat Demgegenüber nahm der 7. Senat des LSG NRW in seinem Urteil vom 29. Juni 201712 an, dass die Anwendung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen rechtswidrig sei. In seiner Begründung stützt sich der Senat zunächst auf den Wortlaut des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II. Dieser sei, anders als der 6. Senat des LSG NRW meint,13 offen und zwinge nicht zu einer Anwendung auf Mietkautionsdarlehen, da „Darlehensnehmer“ im Sinne der Norm nicht zwangsmäßig alle Darlehensnehmer des SGB II seien. § 42a SGB II kenne nämlich aufrechnungsfreie Darlehen , auf die § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II nicht anwendbar sei, ohne dass dies ausdrücklich geregelt wäre. Soweit § 42a Abs. 3 S. 1 Hs. 2 SGB II die sofortige Fälligkeit des noch nicht getilgten Darlehensbetrages anordnet, sei aus dessen Wortlaut nicht zwingend zu schließen, dass eine Tilgung nach § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II gelten solle.14 Das Gericht belegt seine Entscheidung auch mit historischen Gründen. Vor dem Inkrafttreten des § 42a SGB II sei anerkannt gewesen, dass Kautionsdarlehen nicht mit laufenden Regelleistungen zu tilgen seien. Die Aufrechnungsbefugnis gelte seit jeher nur für Regelleistungen, die dem Sonderbedarf unterliegen. Mit Inkrafttreten des § 42a SGB II könne die bisherige Rechtslage nicht anders bewertet werden, was auch vom Gesetzgeber nicht vorgesehen gewesen sei.15 § 42a SGB II 8 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14, Rn. 18 f. 9 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14, Rn. 19. 10 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14, Rn. 23. 11 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14, Rn. 26. 12 LSG NRW, Urteil vom 29. Juli 2017 – L 7 AS 607/17; anhängig BSG, B 14 AS 31/17 R. 13 LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14 (siehe oben 2.2.1). 14 LSG NRW, Urteil vom 29. Juni 2017 – L 7 AS 607/17, Rn. 23 f. 15 LSG NRW, Urteil vom 29. Juni 2017 – L 7 AS 607/17, Rn. 25 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 7 selbst sehe eine Vielzahl von Sonderregelungen für bestimmte Darlehen vor, sodass gerade nicht angenommen werden könne, dass es sich um Rahmenregelungen für alle Darlehen handele.16 Die Rechtswidrigkeit der Anwendung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen ergibt sich für den 7. Senat des LSG NRW vor allem aus systematischen und teleologischen Erwägungen unter Berücksichtigung einer verfassungskonformen Interpretation. Die Aufrechnung eines Darlehens für die Deckung einmaliger Bedarfe nach § 24 Abs. 1 SGB II könne nicht mit der Aufrechnung einer Mietkaution verglichen werden. Die Aufrechnung von Darlehen im Sinne des § 24 Abs. 1 SGB II entspreche spiegelbildlich der gesetzlich vorgesehenen Ansparung entsprechender Mittel. Dies sei im Falle eines Mietkautionsdarlehens nicht der Fall, weil die Betroffenen keine Möglichkeit hätten, Rücklagen zu bilden. Bei der Aufrechnung des Mietkautionsdarlehens würden die „Leistungen zur Deckung des Existenzminimums geschmälert, obwohl der Gesetzgeber selbst durch eine Trennung der Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs und von Mehrbedarfen (§§ 20, 21 SGB II) einerseits und der Leistungen zur Deckung von Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) andererseits nicht von wechselseitigen Bedarfsdeckungsmöglichkeiten [ausgehe].“17 Die verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift führe schließlich nach Auffassung des 7. Senats zur Nichtanwendbarkeit des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen. Für die Deckung des Unterkunftsbedarfs sei „bei der Berechnung der Regelleistung gerade kein Spielraum vorgesehen“ und dem Betroffenen sei es „nicht zuzumuten, auf die Deckung der in der Regelleistung enthaltenen soziokulturellen Bedarfe (vorübergehend) zu verzichten.“18 2.2.3. 19. Senat Der 19. Senat des LSG NRW vertritt demgegenüber in seinem Urteil vom 31. August 201719 die Ansicht, dass sich die Regelung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen erstrecke und argumentiert ähnlich wie der 6. Senat des LSG NRW (siehe oben 2.2.1). Der Gesetzgeber habe den Sinn und Zweck des § 42a SGB II gerade darin gesehen, eine Rahmenregelung für alle Darlehenstatbestände des SGB II zu schaffen. Dafür sprächen auch Wortlaut und Gesetzesbegründung.20 16 Anderer Ansicht LSG NRW, Urteil vom 11. Mai 2017 – L 6 AS 111/14 (siehe oben 2.2.1). 17 LSG NRW, Urteil vom 29. Juni 2017 – L 7 AS 607/17, Rn. 29 unter Berufung auf BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 - B 14 AS 42/13 R. 18 LSG NRW, Urteil vom 29. Juni 2017 – L 7 AS 607/17, Rn. 31. 19 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17. 20 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17, Rn. 30, 39 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 8 Auch der 19. Senat betrachtet die Gesetzessystematik und bezieht sich dabei insbesondere auf die innere Systematik der Norm: Während § 42a Abs. 1 S. 1 SGB II Bestimmungen zur Gewährung von Darlehen enthalte, regelten die folgenden Absätze 2 bis 6 der Norm die Rückführung und stellten Besonderheiten für einzelne Darlehen auf. Soweit dort keine abweichende Regelung getroffen werde, sollten die allgemeinen Rahmenregelungen gelten. Für Mietkautionsdarlehen aber treffe § 42a Abs. 3 SGB II eine besondere Regelung lediglich für die Fälligkeit.21 Einen Wertungswiderspruch zu anderen Regelungen erkennt der 19. Senat des LSG NRW ebenfalls nicht. Verneint wird ein Wertungswiderspruch zu § 43 SGB II22, dem ein nicht vergleichbarer Tatbestand zugrunde liege, sowie zu § 35 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) unter Hinweis auf die grundsätzlichen Unterschiede der dem SGB II und SGB XII jeweils unterfallenden Personengruppen.23 Voraussetzungen für eine einschränkende verfassungskonforme Auslegung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II erkennt der entscheidende Senat nicht. Er verwirft insbesondere das Argument des 7. Senats (siehe oben 2.2.2) eines Verstoßes gegen das Bedarfsdeckungsprinzip des SGB II.24 Der Gefahr einer Unterdeckung werde durch die Beschränkung gleichzeitiger Tilgung mehrerer Darlehen auf insgesamt höchstens 10 Prozent des Regelbedarfs sowie die Möglichkeit des Erlasses nach § 44 SGB II wirksam begegnet.25 Auch die Möglichkeit eines Zuschusses statt eines Darlehens sei für Härtefallmehrbedarfe nicht ausgeschlossen (§ 21 Abs. 6 SGB II). Der Umstand, dass Mietkautionsdarlehen einen Bedarf im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II decken, könne nicht dazu führen, dass sie von § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II nicht erfasst würden. „Diese Sicht widerspräche kontradiktorisch dem positiven Willen des Gesetzgebers, Rahmenvorgaben für alle Darlehen im SGB II zu schaffen und würde die in § 42a Abs. 2 SGB II gewollte und geschaffene generelle Regelung in eine Spezialregelung mit äußerst kleinem Anwendungsbereich verkehren .“26 3. Literatur Auch in der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur wird über die Frage der Anwendbarkeit des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen eine kontroverse Diskussion geführt. 21 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17, Rn. 42. 22 Vgl. dazu Nguyen (Fn. 1), der der 19. Senat ausdrücklich widerspricht; siehe auch weiter unten 3.1. 23 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17, Rn. 36. 24 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17, Rn. 32 ff. 25 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17, Rn. 34 mit weiteren Nachweisen. 26 LSG NRW, Urteil vom 31. August 2017 – L 19 AS 787/17, Rn. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 9 3.1. Ablehnende Stimmen Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass die Anwendung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen ausgeschlossen sei. Begründet wird dies mit unterschiedlichen Argumentationsansätzen . So geht etwa Nguyen27 davon aus, dass § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II dem Wortlaut nach auch Mietkautionsdarlehen erfasse. Der Wortlaut sei nicht auf bestimmte Darlehen beschränkt und schließe die Mietkaution somit nicht aus. Nguyen fordert aber im Hinblick auf Sinn und Zweck der Norm, Entstehungsgeschichte und Gesamtzusammenhang eine teleologische Reduktion mit der Folge ihrer Unanwendbarkeit auf Mietkautionsdarlehen.28 Sinn und Zweck von Leistungen nach § 22 Abs. 6 SGB II sei es, dem Leistungsberechtigten unter anderem die Anmietung einer Unterkunft zu ermöglichen. Der dem Mietkautionsdarlehen zugrundeliegende Bedarf entfalle aber erst, wenn der Kautionsrückzahlungsanspruch des Leistungsberechtigten gegen seinen Vermieter fällig werde. Es entspreche nicht dem Sinn dieser Regelung, wenn man das Darlehen gemäß § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II zurückfordere, während die Mietkaution selbst noch bei dem Vermieter verbleibe.29 Auch aus der Entstehungsgeschichte des § 42a Abs. 2 SGB II lasse sich nach Überzeugung von Nguyen nicht ableiten, dass der Gesetzgeber damit eine Rahmenregelung für alle Darlehen im SGB II und damit auch für die Mietkautionsdarlehen habe schaffen wollen. Hinsichtlich der Gesetzessystematik macht Nguyen geltend, die Mietkaution sei als Unterkunftsbedarf nicht im Regelbedarf berücksichtigt und damit auch nicht von dessen Ansparfunktion erfasst . Eine Aufrechnung mit Regelbedarfsleistungen stehe daher im Widerspruch zum Bedarfsdeckungskonzept des SGB II.30 Zudem widerspreche eine Aufrechnung nach § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II dem Gegenwärtigkeitsprinzip als Teil des Bedarfsdeckungsgrundsatzes, wonach nur bereite Mittel auf den Bedarf anzurechnen seien. Aus der Natur einer Mietkaution ergebe sich aber, dass der Bedarf nicht entfalle, solange sie beim Vermieter zu verbleiben habe.31 Anders als der 19. Senat des LSG NRW (siehe oben 2.2.3) erkennt Nguyen in der Anwendung des § 42a Abs. 2 SGB II auf Mietkautionsdarlehen einen Wertungswiderspruch zu § 43 SGB II, der die Rückzahlung rechtswidrig erbrachter oder von dem Leistungsberechtigten vorwerfbar verursachter Leistungen regelt. Diese Vorschrift räume für eine Aufrechnung ein Ermessen ein, das die Berücksichtigung persönlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse des Leistungsberechtigten ermögliche . Dies sei bei § 42a Abs. 2 SGB II, der sich auf rechtmäßig erbrachte Darlehen beziehe, 27 Siehe oben Fn. 1. 28 Nguyen (Fn. 1.), S. 202. 29 Nguyen (Fn. 1.), S. 203. 30 Nguyen (Fn. 1.), S. 203 f. 31 Nguyen (Fn. 1.), S. 203, 204. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 10 nicht der Fall. Im Ergebnis werde dadurch der Mietkautionsdarlehensnehmer schlechter gestellt als derjenige, welcher Empfänger von rechtswidrig erbrachten oder selbst verschuldeten Leistungen sei.32 Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht werden Bedenken im Hinblick auf das Bedarfsdeckungsprinzip geltend gemacht, obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer Entscheidung vom 9. Februar 2010 im Zusammenhang mit der Rückforderung eines Anschaffungsdarlehens nach § 24 Abs. 1 SGB II festgestellt hat, dass vorübergehende Darlehensaufrechnungen mit Regelleistungen das Existenzminimum nicht grundsätzlich gefährdeten.33 Weth sprach sich bereits 2011 gegen die Anwendung der starren Aufrechnungsregelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen aus. Die Regelung bringe wohnungssuchende Leistungsberechtigte „in die Zwangslage, ihr Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum in Gestalt einer angemessenen Wohnung nur bei Strafe der Kürzung ihres sonstigen existenznotwendigen Lebensbedarfs umsetzen zu können.“34 Da mithin ein eigener Handlungsspielraum nicht mehr bestehe, würden sie zu bloßen Objekten staatlichen Handelns, was „mit dem aus der Menschwürde herzuleitenden Wert- und Achtungsanspruch nicht zu vereinbaren“35 sei. Nach Auffassung von Nguyen verstoße die Aufrechnung von Mietkautionsdarlehen mit Regelleistungen gegen den aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 GG abzuleitenden Bedarfsdeckungsgrundsatz , da Mietkautionsdarlehen als Kosten der Unterkunft nicht vom Ansparkonzept der Regelleistungen des SGB II erfasst seien. Die einen vorübergehenden Zeitraum regelmäßig überschreitende Tilgung von Mietkautionsdarlehen gefährde die Gewährleistung des Existenzminimums der Betroffenen.36 Einen weiteren Wertungswiderspruch, der sich als Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG darstelle, erkennt Nguyen trotz der bestehenden Unterschiede zwischen den jeweils erfassten Gruppen von Leistungsberechtigten im Verhältnis zur Regelung des § 35 SGB XII, wonach Leistungsempfänger einer sofortigen Aufrechnung mit den laufenden Leistungen nicht ausgesetzt seien. Vor dem Hintergrund des in beiden Rechtskreisen geltenden Bedarfsdeckungsprin- 32 Nguyen (Fn. 1.), S. 204 f. 33 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09. 34 Weth, Hans-Ulrich (2011), Anmerkung zum Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. September 2011 – S 37 AS 24431/11 ER, Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung, info also 2011 Heft 6, S. 175- 177 (177). 35 Weth (Fn. 34) S. 177. 36 Nguyen (Fn. 1.), S. 205. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 11 zips bezweifelt sie, dass die Unterschiede zwischen den Zielgruppen ausreichten, um unterschiedliche Anrechnungsregelungen sachlich zu rechtfertigen.37 Auch Weth erkennt in der Erwerbszentrierung des SGB II keinen hinreichenden sachlichen Grund für eine unterschiedliche Handhabung.38 Nach Merten führe die Anwendung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen regelmäßig dazu, dass damit über einen längeren Zeitraum eine Bedarfsunterdeckung bestehe, die verfassungsrechtlich nicht unproblematisch sei.39 Auch Weth vertritt die Auffassung, dass durch die zwangsweise Reduzierung des Regelbedarfs über jahrelange Zeiträume der mit dem Rechtsstaatssystem verbundene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt werde.40 Zwar ließen sich „unzumutbare Härten durch eine großzügige Auslegung von § 22 Abs. 6 S. 3 SGB II vermeiden, weil in atypischen Fällen eine Mietkaution als Zuschuss zu erbringen ist. Damit werde freilich diese Ausnahmevorschrift zum Regelfall.“41 Dies hält Weth rechtsdogmatisch zumindest für problematisch.42 3.2. Befürworter Es gibt im Fachschrifttum aber auch viele Autoren, die die vorgetragenen Argumente gegen eine Anwendung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen nicht für stichhaltig erachten. Putz geht mit der überwiegenden Kommentarliteratur43 davon aus, dass die Tilgungsregel des § 42a Abs. 2 SGB II anders als die Vorgängerregelung nach ihrem Wortlaut auch für Mietkautionsdarlehen gelte. Dies entspreche dem Willen des Gesetzgebers, da die Fälligkeitsregelung des § 42a Abs. 3 S. 1 SGB II für den „noch nicht getilgten“ Darlehensbetrag eindeutig auf § 42a Abs. 3 SGB II Bezug nehme.44 37 Nguyen (Fn. 1.), S. 205 f. 38 Weth (Fn. 34) S. 177. 39 Merten in Beck Online-Kommentar zum Sozialrecht, § 42a SGB II, Rn. 8. 40 Weth (Fn. 34) S. 177. 41 Merten (Fn. 39), Rn. 8. 42 Weth (Fn. 34), S. 177. 43 Vgl. Nguyen (Fn. 1.), S. 202, Fn. 1. 44 Putz, Friedrich (2012), Bei Darlehen für eine Mietkaution an Hartz-IV-Empfänger: Ist die gesetzlich vorgesehene Tilgung durch Aufrechnung verfassungswidrig?, in: Soziale Sicherheit 5/2012, S. 194-197 (194). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/17 Seite 12 Verfassungsrechtliche Bedenken wegen der Gefahr der Unterschreitung des Existenzminimums werden unter Berufung auf die oben bereits zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 45 (siehe oben 3.1) nicht gesehen. Etwas anderes könne sich aber - unabhängig von der Art des Darlehens - bei mehreren Aufrechnungen ergeben.46 Dabei wird allerdings auch auf die Möglichkeit des Erlasses nach § 44 SGB II zur Abwendung drohender Unterdeckung hingewiesen.47 Soweit zu bedenken gegeben wird, dass das durch Einführung des § 42a SGB II entfallene Entschließungs - und Auswahlermessen bezüglich der Aufrechnung eine verfassungskonforme Auslegung der Norm einer normativen Grundlage entziehe, weist Bender auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hin, „der auf eine bestimmte Methode der Darlehenstilgung nicht festgelegt [sei] und dem es von Verfassungs wegen nicht versagt werden [könne], die ursprünglich für einmalige, unabweisbare Bedarfe vorgesehenen Tilgungsmodalitäten im Interesse einer Vereinheitlichung auf andere Darlehenstatbestände zu übertragen, soweit die jeweils Leistungsberechtigten im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts stehen.“ 48 Eine Ungleichbehandlung hinsichtlich des Ermessens sei demnach nicht zu beanstanden. 4. Fazit Aus den Ausführungen wird ersichtlich, dass in Rechtsprechung und Fachschrifttum eine rege Diskussion darüber entbrannt ist, ob die mit Wirkung vom 1. April 2011 eingeführten Tilgungsregel des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II auf Mietkautionsdarlehen im Sinne des § 22 Abs. 6 SGB II anwendbar ist. Von den Landessozialgerichten werden die in der Literatur vorgetragenen Argumente der Gegner und Befürworter stets sorgsam gegeneinander abgewogen, aber bisher uneinheitlich bewertet. Es bleibt abzuwarten, wie der mit der Fragestellung nun befasste 14. Senat des Bundessozialgerichtes entscheidet. Im Hinblick auf die beschriebene kontroverse Diskussion soll der zu erwartenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes hier nicht vorgegriffen werden. *** 45 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09. 46 Bender, Wolfgang in Gagel, Kommentar SGB II/SGB III, § 42a SGB II, Rn. 24. 47 Vgl. z.B. Bender, Wolfgang in Gagel, Kommentar SGB II/SGB III, § 42a SGB II, Rn. 25, Kemper, David in Eicher /Luik, Kommentar zum SGB II, § 42a, Rn. 17 mit weiteren Nachweisen. 48 Bender, Wolfgang in Gagel, Kommentar SGB II/SGB III, § 42a SGB II, Rn. 23.