© 2015 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 076/15 Streik und Koalitionsfreiheit als soziale Menschenrechte UN-Sozialpakt und Europäische Sozialcharta vor deutschen Gerichten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 2 Streik und Koalitionsfreiheit als soziale Menschenrechte UN-Sozialpakt und Europäische Sozialcharta vor deutschen Gerichten Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 076/15 Abschluss der Arbeit: 5. Juni 2015 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Streikrecht und Koalitionsfreiheit in der Europäischen Sozialcharta und im UN-Sozialpakt 4 2.1. Europäische Sozialcharta 4 2.2. UN-Sozialpakt 6 3. Europäische Sozialcharta und UN-Sozialpakt in der deutschen Rechtsordnung 7 3.1. Rechte aus der der Europäischen Sozialcharta 7 3.2. Rechte aus dem UN-Sozialpakt 8 4. Europäische Sozialcharta und UN-Sozialpakt in der Rechtsprechung 9 4.1. Europäische Sozialcharta 9 4.1.1. Zulässigkeit nach dem Wortlaut der ESC 10 4.1.2. Unmöglichkeit der Zweckerreichung 10 4.1.3. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 11 4.2. UN-Sozialpakt 13 5. Der Grundsatz der Tarifeinheit 13 5.1. BAG-Rechtsprechung 13 5.2. Gesetz zur Tarifeinheit 14 5.3. Einfluss der Debatte auf die Rechtsprechung 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 4 1. Einleitung Art. 9 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) gewährt jedermann und allen Berufen das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Nach heute einhelliger Auffassung und wie auch mehrfach vom Bundesverfassungsgericht bekräftigt , ergibt sich aus Art. 9 Abs. 3 GG die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen.1 Die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen folgt aber nicht nur aus dem Grundgesetz. Auch die Europäische Sozialcharta und der UN-Sozialpakt garantieren Streikrecht und Koalitionsfreiheit, in beiden wird das Streikrecht im Gegensatz zu Art. 9 Abs. 3 GG sogar ausdrücklich in Bezug genommen. Ob und in welcher Form dies in der bundesdeutschen Rechtsprechung eine Rolle spielt, ist Gegenstand dieses Sachstands. 2. Streikrecht und Koalitionsfreiheit in der Europäischen Sozialcharta und im UN-Sozialpakt 2.1. Europäische Sozialcharta Die Europäische Sozialcharta (ESC) wurde im Jahr 1961 von 13 Mitgliedstaaten des Europarats, darunter Deutschland, als völkerrechtlich verbindliches Abkommen geschlossen. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte ihrer Bürger zu stärken und dafür Maßnahmen im Bereich des Erwerbslebens und der sozialen Sicherheit zu treffen.2 In ihren Artikeln 5 und 6 gewährleistet die ESC das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen .3 Im Einzelnen heißt es dort: Art. 5 – Das Vereinigungsrecht Um die Freiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gewährleisten oder zu fördern, örtliche , nationale oder internationale Organisationen zum Schutze ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu bilden und diesen Organisationen beizutreten, verpflichten sich die Vertragsparteien, diese Freiheit weder durch das innerstaatliche Recht noch durch dessen Anwendung zu beeinträchtigen. (…) Art. 6 – Das Recht auf Kollektivverhandlungen Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: (…) und anerkennen 1 LINSENMAIER in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Auflage 2015, Verlag C.H. Beck: München, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 102 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 2 BERGMANN in Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, 5. Auflage 2015, Eintrag „Sozialcharta, Europäische (des Europarats) (ESC)“. 3 Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 (BGBl. 1964 II S. 1262), zuletzt geändert durch die Bekanntmachung der Änderung der Europäischen Sozialcharta vom 3. September 2001 (BGBl. II S. 970). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 5 4. das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen. Die in Art. 6 ESC garantierte Streikfreiheit ist sehr weitreichend und deckt sich nicht vollständig mit der Arbeitskampffreiheit, wie sie von der Rechtsprechung aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitet wird. So wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass ein pauschales Verbot des Beamtenstreiks und des nicht gewerkschaftlichen Streiks im Lichte von Art. 6 ESC unzulässig sei.4 Der Sachverständigenausschuss der ESC, welcher die Einhaltung der ESC in den Vertragsstaaten kontrolliert , hat in der Vergangenheit wiederholt die Auffassung zu Ausdruck gebracht, dass ein gewerkschaftliches Streikmonopol und die Beschränkung des Streikrechts auf tariflich regelbare Ziele mit den Vorgaben der ESC unvereinbar seien. Denn die ESC räume das Streikrecht den Arbeitnehmern ein und nicht den sie vertretenden Gewerkschaften; tauglicher Zweck der Streikmaßnahme sei alles, was der „wirksame[n] Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen“ diene.5 Das Ministerkomitee des Europarats hat der Bundesrepublik am 3. Februar 1998 die „Empfehlung“ erteilt, dies zu berücksichtigen.6 Diese Empfehlung wurde von der Bundesrepublik nicht umgesetzt, sodass der Sachverständigenausschuss der ESC auch in seinen späteren Stellungnahmen die teilweise Unvereinbarkeit des deutschen Streikrechts mit den Vorgaben der ESC rügte.7 In seiner jüngsten Stellungnahme aus dem Jahr 2014 hat der Sachverständigenausschuss erstmals eingeräumt, dass der deutsche Ansatz der Beschränkung des Streikrechts auf tariflich regelbare Ziele grundsätzlich mit Art. 6 ESC in Einklang zu bringen sei, und seine Rüge insoweit zurückgenommen . Die Einhaltung der ESC setze aber voraus, dass die Arbeitnehmer in allen Konfliktfällen auf gleich effektive Weise wie durch einen Streik für ihre Belange eintreten könnten. Gleichwertig mit Streikmaßnahmen könne grundsätzlich auch eine gerichtliche Befassung sein. Da jedoch auch außerhalb des Tarifrechts Fälle denkbar seien, in denen die Beschreitung des Rechtswegs für die Arbeitnehmer kein gleichwertiges Mittel zum Streik sei, hat sich der Sachverständigenausschuss eine Entscheidung in diesem Punkt nunmehr vorbehalten. Bezüglich des in Deutschland nach wie vor geltenden gewerkschaftlichen Streikmonopols hat der Sachverständigenausschuss an seiner Rüge festgehalten.8 4 HENSCHE in Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Kommentar zum Arbeitsrecht: Individualarbeitsrecht mit kollektivrechtlichen Bezügen, 3. Auflage 2013, Nomos: Baden-Baden, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 109. 5 LINSENMAIER in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Auflage 2015, Verlag C.H. Beck: München, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 105. 6 Recommendation No. R ChS (98) 2, abrufbar unter www.coe.int/socialcharter, zuletzt abgerufen am 3. Juni 2015. 7 Conclusions of the European Committee of Social Rights, cycles XV-1 (2001), XVI-1(2003), XVII-1 (2005), XVIII 1 (2006), XIX-3 (2010), XX-3 (2014), abrufbar unter www.coe.int/socialcharter, zuletzt abgerufen am 3. Juni 2015. 8 Conclusions XX-3 (2014) of the European Committee of Social Rights, abrufbar unter www.coe.int/socialcharter, zuletzt aufgerufen am 3. Juni 2015. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 6 Zur Begrenzung des allgemeinen Streikrechts der ESC dürfen nur nach Art. 31 Abs. 1 ESC zulässige Grundsätze herangezogen werden. Gemäß Art. 31 Abs. 1 ESC sind Begrenzungen dann erlaubt , wenn sie „gesetzlich vorgeschrieben und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer oder zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit und der Sittlichkeit notwendig sind“. Im Anhang zu Art. 6 ESC heißt es, dass jede Vertragspartei für sich die Ausübung des Streikrechts durch Gesetz regeln könne, vorausgesetzt, dass dies den Anforderungen des Art. 31 ESC genüge. 2.2. UN-Sozialpakt Regelungen zu Streikrecht und Koalitionsfreiheit finden sich auch im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (UN-Sozialpakt).9 Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und unter anderem von Deutschland ratifiziert wurde. Aussagen zum Streikrecht trifft der UN-Sozialpakt in seinem Art. 8: Art. 8 (1) Die Vertragsparteien verpflichten sich, folgende Rechte zu gewährleisten a) das Recht eines jeden, zur Förderung und zum Schutz seiner wirtschaftlichen und sozialen Interessen Gewerkschaften zu bilden oder einer Gewerkschaft eigener Wahl allein nach Maßgabe ihrer Vorschriften beizutreten. Die Ausübung dieses Rechts darf nur solchen Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich sind; (…) d) das Streikrecht, soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird. (…) Aus der Formulierung des Art. 8 UN-Sozialpakt ist ersichtlich, dass er ein weniger weitreichendes Streikrecht vermitteln will als die ESC. Denn das Streikreicht wird nur insoweit gewährt, als es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt werden kann. Mithin schafft der UN-Sozialpakt für die Gewährung des Streikrechts keinen eigenen Maßstab. Zur Einhaltung des Art. 8 UN-Sozialpakt dürfte deshalb genügen, dass die innerstaatliche Rechtsordnung überhaupt ein Streikrecht kennt. Auch die Koalitionsfreiheit wird gemäß Art. 8 Abs. 1 lit. a 8 UN- Sozialpakt nicht schrankenlos gewährleistet. 9 Umsetzung im „Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ vom 23. November 1973 (BGBl. II S. 1569). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 7 3. Europäische Sozialcharta und UN-Sozialpakt in der deutschen Rechtsordnung Sowohl die ESC als auch der UN-Sozialpakt sind multilaterale Abkommen, die sich nicht direkt an die Subjekte des Arbeitsrechts in den einzelnen vertragschließenden Staaten wenden. In Deutschland haben beide aufgrund ihrer Umsetzung gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG technisch den Rang eines einfachen Bundesgesetzes erlangt. Ob durch die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge unmittelbar subjektive Rechte begründet werden, ist durch Auslegung im Einzelfall zu ermitteln .10 Dies ist nur ausnahmsweise der Fall und zwar dann, wenn durch den Inhalt des jeweiligen Vertrags erkennbar unmittelbare Rechte Einzelner begründet werden sollen.11 3.1. Rechte aus der der Europäischen Sozialcharta Ob die ESC geltendes Bundesrecht ist, sodass der Einzelne aus ihr unmittelbar Rechte ableiten kann, in Literatur und Rechtsprechung nicht abschließend geklärt, wird aber zumindest in der Literatur überwiegend bejaht.12 Von den meisten Gerichten wurde die Frage offen gelassen und dies in der Regel damit begründet, dass das Ergebnis der Anwendung nationalen Rechts den Bestimmungen der ESC nicht widerspreche – unabhängig davon, ob diese nun unmittelbar anwendbar ist oder nicht.13 Lehnt man die Einordnung der ESC als geltendes Bundesrecht ab, so ist sie als völkervertragliche Verpflichtung jedenfalls von den Gerichten als Auslegungshilfe heranzuziehen.14 Denn an völkerrechtliche Verpflichtungen ist die Rechtsprechung ebenso gebunden wie der Gesetzgeber, dem die Umsetzung der eingegangenen Verbindlichkeit in innerstaatliches Recht obliegt.15 Ein Richter muss sich an die für die Bundesrepublik Deutschland vom Gesetzgeber verbindlich akzeptierten 10 MÜLLER-GLÖGE im Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, Verlag C.H. Beck: München, Kommentierung zu § 611 BGB, Rn. 260. 11 LEINEMANN, SCHÜTZ: „Die Bedeutung internationaler und europäischer Arbeitsrechtsnormen für die Arbeitsgerichtsbarkeit “, BB 1993, 2519. 12 HENSCHE in Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath Kommentar zum Arbeitsrecht: Individualarbeitsrecht mit kollektivrechtlichen Bezügen, 3. Auflage 2013, Nomos: Baden-Baden, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 109. LINSENMAIER in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Auflage 2015, Verlag C.H. Beck: München, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 105. 13 BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 1981, BVerfGE 58, 233, 254; BAG, Urteil vom 12. September 1984, BAGE 46, 322, Rn. 115; LAG Hamm, Urteil vom 31. Mai 2000, Az. 18 Sa 1981/00 a.E.; 14 HENSCHE in Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath Kommentar zum Arbeitsrecht: Individualarbeitsrecht mit kollektivrechtlichen Bezügen, 3. Auflage 2013, Nomos: Baden-Baden, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 109. 15 LINSENMAIER in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Auflage 2015, Verlag C.H. Beck: München, Kommentierung zu Art. 9 GG, Rn. 105 mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 8 Verpflichtungen halten, wenn er bestehende gesetzliche Lücken anhand von Wertentscheidungen des Gesetzgebers ausfüllt.16 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wird der Gesetzgeber, wenn er dies nicht ausdrücklich bekundet, durch die von ihm erlassenen Gesetze nicht von völkervertraglichen Verpflichtungen abweichen oder ihre Verletzung ermöglichen wollen. Dies gilt selbst dann, wenn ein Gesetz zeitlich erst nach dem betreffenden völkerrechtlichen Vertrag erlassen wurde.17 3.2. Rechte aus dem UN-Sozialpakt Ebenso ungeklärt ist, in welcher Form die Vorgaben aus dem UN-Sozialpakt in der deutschen Rechtsprechung heranzuziehen sind. Durch ihre Zustimmung zum UN-Sozialpakt haben sich die einzelnen Vertragsstaaten verpflichtet , „Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen.“ (Art. 2 Abs. 1 UN-Sozialpakt). Zu diesen anerkannten Rechten, auf deren Verwirklichung es hinzuwirken gilt, gehören die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht aus Art. 8. Aus dem UN-Sozialpakt selbst können keine unmittelbar einklagbaren, individuellen Rechtsansprüche abgeleitet werden. Auch der UN-Sozialpakt könnte aber – wie auch im Fall der ESC vertreten – aufgrund seiner Umsetzung durch Bundesgesetz unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit finden. Ob dies der Fall ist, ist von der Rechtsprechung auch für den UN-Sozialpakt nicht entschieden.18 Nach der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) schließt der völkerrechtliche Charakter des UN-Sozialpakts jedenfalls nicht aus, dass eine natürliche Person aus ihm unmittelbare Rechte ableiten kann. Denn die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages führe zur unmittelbaren Anwendung der Vertragsnorm, wenn diese hinreichend bestimmt sei. Ihr muss in zumutbarer Weise entnommen werden können, unter welchen tatsächlichen Voraussetzungen welche Rechtsfolge eintritt, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf.19 Denn im innerstaatlichen Recht werden aus Rechtsstaatsgesichtspunkten an die hinreichende Bestimmtheit einer Norm strenge Anforderungen gestellt. Diese gehen über die für völkerrechtliche Vereinbarungen geltenden Bestimmtheitserfordernisse hinaus.20 Die Frage der innerstaatlichen Geltung 16 BAG, Urteil vom 12. September 1984, BAGE 46, 322, Rn. 115. 17 KEßLER in Hofmann/Hoffmann Kommentar zum Ausländerrecht, 1. Auflage 2008, Nomos: Baden-Baden, Kommentierung zu Anhang 1: Soziale Leistungsrechte von Migranten: I. Internationales und Europäisches Recht: 1. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Rn. 2. 18 VGH München, Beschluss vom 29. Oktober 2008, BeckRS 2009, 32599, Rn. 11; VGH München, Beschluss vom 24. April 2008, BeckRS 2008, 38037, Rn. 16; jeweils mit weiteren Nachweisen. 19 BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 2006, Az. 6 B 33/06, Rn. 4. 20 BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1987, BVerfGE 77 170, 231f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 9 eines Vertrags und die der unmittelbaren Anwendbarkeit einer in ihm enthaltenen Rechtsnorm sind zu unterscheiden.21 Doch selbst wenn man die unmittelbare Anwendbarkeit des UN-Sozialpakts im innerdeutschen Recht mangels hinreichender Bestimmtheit der jeweils maßgeblichen Vorgabe verneint, ist der Sozialpakt von deutschen Gerichten in ihrer Entscheidungsfindung heranzuziehen. Denn es handelt sich auch bei ihm jedenfalls um eine völkervertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland. Als solche ist er von den Gerichten zu berücksichtigen und sind innerstaatliche Gesetze im Einklang mit seinen Regelungen auszulegen. 22 Insoweit gilt das oben zur ESC Gesagte. 4. Europäische Sozialcharta und UN-Sozialpakt in der Rechtsprechung 4.1. Europäische Sozialcharta Die Europäische Sozialcharta wird in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zu Streik- und Koalitionsrecht in Deutschland zwar zuweilen als Maßstab und Auslegungshilfe herangezogen.23 In der Regel gelangen die Gerichte zu dem Ergebnis, eine im konkreten Fall unter Zugrundelegung des nationalen Rechts gefundene Entscheidung auch den Vorgaben der ESC entspreche. Tragenden Erwägungen für die Entscheidung werden daraus zumeist nicht abgeleitet. Im Wesentlichen werden dabei drei Begründungsmuster bemüht: Manche Beschränkungen der durch die ESC vermittelten Rechte seien schon ihrem Wortlaut nach zulässig, ohne dass dies einer besonderen Rechtfertigung bedürfe. Andere Streikmaßnahmen seien nicht geeignet, einen durch die ESC geschützten Zweck zu erreichen und genössen darum nicht ihren Schutz. Und schließlich seien Beschränkungen zulässig, wenn die Gewährleistungen der ESC aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zurückzustehen hätten. 21 OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 9. Oktober 2007, Az. 15 A 1596/07, Rn. 41 - 48. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 13 Abs. 2 lit. c UN-Sozialpakt hat das OVG Nordrhein-Westfalen in diesem Urteil mangels hinreichender Bestimmtheit verneint. Gemäß Art. 13 Abs. 2 lit. c UN-Sozialpakt „erkennen [die Vertragsstaaten an], dass im Hinblick auf die volle Verwirklichung dieses Rechts [auf Bildung] der Hochschulunterricht auf jede erdenkbare Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss“. 22 KEßLER in Hofmann/Hoffmann Kommentar zum Ausländerrecht, 1. Auflage 2008, Nomos: Baden-Baden, Kommentierung zu Anhang 1: Soziale Leistungsrechte von Migranten: I. Internationales und Europäisches Recht: 1. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Rn. 1. 23 Die Ausführungen beruhen auf einer bei juris und beck-online durchgeführten Recherche, wobei die Darstellung der Urteile keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 10 4.1.1. Zulässigkeit nach dem Wortlaut der ESC In einem Urteil vom 10. Dezember 2002 befasste sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit der tarifvertraglichen Friedenspflicht und stellte fest, dass die ESC einer Beschränkung des Streikrechts durch die Friedenspflicht nicht entgegenstehe. Denn zwar seien die Regeln der ESC von den Gerichten im Rahmen der Auslegung lückenhaften Gesetzesrechts zu beachten, bei der tarifvertraglichen Friedenspflicht handele es sich aber um eine Verpflichtung aus einem Gesamtarbeitsvertrag im Sinne von Art. 6 Nr. 4 ESC, sodass im Hinblick auf die ESC keine Bedenken bestünden .24 Dass die Friedenspflicht nicht im Widerspruch zu Art. 6 Nr. 4 ESC stehe, wiederholte das BAG mit Urteil vom 19. Juni 2007. 25 4.1.2. Unmöglichkeit der Zweckerreichung Auch wenn eine Maßnahme erkennbar nicht geeignet ist, der „wirksame[n] Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen“ (vgl. eingangs Art. 6 ESC) zu dienen, soll nach der Rechtsprechung die Berufung auf Art. 6 Nr. 4 ESC ausscheiden. Ein BAG-Urteil vom 5. März 1985 betraf die Zulässigkeit von Sympathiestreiks. Das BAG erklärte diese für in der Regel rechtswidrig. Denn Art. 9 Abs. 3 GG räume den Gewerkschaften keinen inhaltlich unbegrenzten und unbegrenzbaren Handlungsspielraum ein. Das Betätigungsrecht der Koalitionen dürfe jenen Schranken unterworfen werden, die zum Schutze anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten seien. Der Sympathiestreik sei danach in der Regel unzulässig, da er sich nicht gegen den Tarifpartner richte, mit dem ein Tarifvertrag abgeschlossen werden solle. Der betroffene Unternehmer könne die erhobenen Forderungen nicht erfüllen und sei deshalb besonders schutzbedürftig. Das rechtfertige es, das Streikrecht der Gewerkschaften im Regelfall auf einen Streik gegen den unmittelbaren Tarifpartner zu beschränken. Diese Auffassung verstoße nicht gegen Art. 6 Nr. 4 ESC, da die ESC den Arbeitskampf als im Dienste der Tarifautonomie stehend sehe. Dies ergebe sich aus der im Wortlaut des Art. 6 ESC ersichtlichen engen Zuordnung des Arbeitskampfes zu Kollektivverhandlungen.26 Mit Urteil vom 7. Juni 1988 entschied das BAG, dass ein Streik, durch den der Arbeitgeber veranlasst werden soll, einen Antrag beim Arbeitsgericht auf Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung eines Betriebsratsmitglieds zurückzunehmen, rechtswidrig sei. Dass diese Sichtweise keinen Verstoß gegen Art. 6 Nr. 4 ESC darstelle, begründete das BAG abermals damit, dass eine enge Zuordnung des Arbeitskampfes zu Kollektivverhandlungen bestehe. Um Kollek- 24 BAG, Urteil vom 10. Dezember 2002, BAGE 104, 155-174, Rn. 38. 25 BAG, Urteil vom 19. Juni 2007, BAGE 123, 134-152, Rn. 18. 26 BAG, Urteil vom 5. März 1985, BAGE 48, 160-172, Rn. 46 – 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 11 tivverhandlungen gehe es der beklagten Gewerkschaft aber nicht. Sie wolle keine kollektive Regelung mit dem Arbeitgeber herbeiführen sondern ihn vielmehr dazu veranlassen, das vor dem Arbeitsgericht eingeleitete Verfahren unter dem Druck des Streiks zurückzunehmen.27 4.1.3. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Dass die Inanspruchnahme von Rechten nach Art. 6 Nr. 4 ESC stets unter den Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit zu stellen ist, machte das BAG schon im Jahr 1980 deutlich. In einem Urteil vom 10. Juni 1980 entschied es, dass Abwehraussperrungen des Arbeitgebers in Fällen gerechtfertigt seien, in denen die angreifende Gewerkschaft durch besondere Kampftaktiken ein Verhandlungsübergewicht zu erzielen drohe. Der zulässige Umfang von Abwehraussperrungen richte sich nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot), dies ergebe sich auf dem geltenden Tarif- und Arbeitskampfrecht. Nach Auffassung des Gerichts begründet Art. 6 Nr. 4 ESC keine über das geltende Tarif- und Arbeitskampfrecht hinausgehenden Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Dass die Aussperrung aus sozialen Gründen an strengere Voraussetzungen gebunden sei als der Streik, stelle aber schon deshalb keinen Verstoß gegen Art. 6 Nr. 4 ESC dar, weil dieser die völlige Gleichstellung von Streik und Aussperrung als kollektive Maßnahme nicht fordere.28 1985 entschied das BAG, dass die bundesweite und unbefristete Abwehraussperrung in der Druckindustrie vom 14. bis 20. März 1978 unverhältnismäßig und deshalb rechtswidrig gewesen sei. Dem Art. 6 Nr. 4 ESC lasse sich zwar die grundsätzliche Anerkennung von Abwehrkampfmitteln entnehmen, es fehle der Bestimmung aber eine Regelung darüber, unter welchen Voraussetzungen die Arbeitgeberseite von den Kampfmitteln der Abwehraussperrung Gebrauch machen dürfe.29 In einer Entscheidung vom 12. September 1984 leitete das BAG die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unmittelbar aus der ESC her. Das Streikrecht dürfe nur unter Beachtung des Art. 31 Abs. 1 ESC begrenzt werden. Dadurch werde auch das Verhältnismäßigkeitserfordernis in Bezug genommen. In dem Urteil hob das BAG das Ultima-Ratio-Prinzip hervor, wodurch das Streikrecht in zeitlicher Hinsicht beschränkt werde. Es dürften Arbeitskämpfe von Gewerkschaften nur eingeleitet und durchgeführt werden, wenn alle Verständigungsmöglichkeiten erschöpft seien. Das Ultima-Ratio-Prinzip verbiete aber nicht kurze und zeitlich befristete Streiks während laufender Tarifverhandlungen, sogenannte Warnstreiks. Die Einschränkung des Streikrechts durch das Ultima-Ratio-Prinzip sei mit Art. 31 Abs. 1 ESC vereinbar. Denn dieser setze voraus, dass Kampfmaßnahmen geeignet, erforderlich und proportional zur Erreichung ihres Zwecks seien.30 Dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit selbst eine nach 27 BAG, Urteil vom 7. Juni 1998, BAGE 58, 343-358, Rn. 34. 28 BAG, Urteil vom 10. Juni 1980, BAGE 33, 185-195, Rn. 38 – 41. 29 BAG, Urteil vom 12. März 1985, BAGE 48, 195-215, Rn. 40. 30 BAG, Urteil vom 12. September 1984, BAGE 46, 322-358, Rn. 115 – 117. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 12 Art. 31 Abs. 1 ESC mögliche Beschränkung der Streikfreiheit darstelle, hat das BAG im Jahr 2007 noch einmal ausdrücklich herausgearbeitet. In dem Urteil behandelt das Gericht die Frage der Rechtmäßigkeit von Unterstützerstreiks.31 Unter Berufung auf die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats vom 3. Februar 199832 äußerte das Arbeitsgericht (ArbG) Gelsenkirchen in einem Urteil aus dem Jahr 1998 Zweifel daran , dass im Lichte des Art. 6 Nr. 4 ESC Aktivitäten von Arbeitnehmern im Rahmen eines nicht von einer Gewerkschaft getragenen und nicht auf tariflich regelbare Ziele ausgerichteten Streiks aus eben diesem Grund für rechtswidrig erklärt werden könnten, wie es der ständigen Rechtsprechung entsprach. Die auf dieser Annahme beruhende außerordentliche Kündigung des Beklagten erklärte das Arbeitsgericht Gelsenkirchen für unwirksam.33 Demgegenüber erklärte sich das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm in einem Urteil vom 31. Mai 2000 nicht dazu, ob die Beschränkung des Streikrechts auf tarifvertraglich regelbare Ziele angesichts der ESC Bestand habe. Den von ihm zu prüfenden Streik zur Verhinderung einer Produktionsverlagerung, also eines tariflich nicht regelbaren Ziels, erklärte es wegen fehlender Verhältnismäßigkeit für rechtswidrig. Denn dieser Streik stelle einen unzulässigen Eingriff in den durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Bereich der Unternehmensautonomie des betroffenen Arbeitgebers dar. Im zu entscheidenden Fall seien jedenfalls die aus Art. 31 Abs. 1 ESC folgenden Grenzen der Beschränkungsmöglichkeit eingehalten, da die Untersagung des Streiks erforderlich zum Schutze der Rechte und Freiheiten des klagenden Arbeitgebers sei.34 In zwei von der Literatur mit Spannung erwarteten35 Entscheidungen vom 20. November 2013 zur Zulässigkeit von Arbeitskämpfen in kirchlichen Einrichtungen. äußerte sich schließlich im Jahr 2012 das BAG zu den aufgeworfenen Fragen. Wie das LAG Hamm löste es die Fälle auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit. Darin bestätigte das BAG an der bisherigen Rechtsprechung festhaltend , dass der Arbeitskampf funktional auf die Tarifautonomie bezogen und deshalb nur insoweit über Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützt sei. Dem Art. 9 Abs. 3 GG lasse sich kein losgelöstes Grundrecht auf Streik entnehmen.36 Etwas anderes folge auch nicht aus Art. 6 Nr. 4 ESC. Denn dieser könne unter Heranziehung des Art. 31 Abs. 1 ESC eingeschränkt werden. Als gesetzlich vorgeschriebene und in einer demokratischen Gesellschaft „zum Schutze der Rechte und 31 BAG, Urteil vom 19. Juni 2007, BAGE 123, 134-152, Rn. 24. 32 Recommendation No. R ChS (98) 2, abrufbar unter www.coe.int/socialcharter, zuletzt abgerufen am 3. Juni 2015. 33 ArbG Gelsenkirchen, Urteil vom 13. März 1998, Az. 3 Ca 3173/97, Rn. 40 – 42. 34 LAG Hamm, Urteil vom 31. Mai 2000, Az. 18 Sa 858/00, Entscheidungsgründe unter III. 4. 35 MELOT DE BEAUREGARD: “Die Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht in den Jahren 2010 bis 2012”, NZA RR 2013, 617, 618. 36 BAG, Urteil vom 20. November 2012, BAGE 144, 1-35, Rn. 49f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 13 Freiheiten anderer“ notwendige Beschränkung sei in dem konkret vorliegenden Fall die verfassungsrechtlich und völkerrechtlich anerkannte Religionsfreiheit anzusehen. Streikrecht und Religionsfreiheit seien nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit gegeneinander abzuwägen.37 4.2. UN-Sozialpakt Art. 8 UN-Sozialpakt spielt in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung soweit ersichtlich keine Rolle.38 Dies ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass die Vorgaben zu Koalitionsfreiheit und Streikrecht in Art. 8 UN-Sozialpakt weniger weitreichend sind als die der ESC (siehe oben 3.2), sodass eine Berufung darauf für den Kläger keinen zusätzlichen Nutzen darstellen würde. 5. Der Grundsatz der Tarifeinheit 5.1. BAG-Rechtsprechung Das BAG ging bis zum Jahr 2010 in ständiger Rechtsprechung vom Grundsatz der Tarifeinheit aus, die als Kollisionsregel für den Fall des Aufeinandertreffens mehrerer Tarifverträge entwickelt wurde und nicht nur im Fall der Tarifkonkurrenz, wenn also ein Arbeitsverhältnis von mehreren Tarifverträgen erfasst wird, Anwendung fand, sondern auch im Fall der Tarifpluralität, wenn also im Betrieb des Arbeitgebers unterschiedliche Arbeitsverhältnisse derselben Art vom Geltungsbereich mehrerer Tarifverträge erfasst werden.39 Nach dem Grundsatz der Spezialität verdrängte der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehende und deshalb den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebs und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung tragende Tarifvertrag andere Tarifverträge . Der richterrechtliche Grundsatz der Tarifeinheit stellte damit eine Ausnahme von dem Gebot der unmittelbaren und zwingenden Geltung von Tarifverträgen nach § 4 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 TVG dar. 37 BAG, Urteil vom 20. November 2012, BAGE 144, 1-35, Rn. 74f.; BAG, Urteil vom 20. November 2012, BAGE 143, 354-406, Rn. 131f. 38 Die Ausführungen beruhen auf einer bei juris und beck-online durchgeführten Recherche, wobei die Darstellung der Urteile keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 39 ZWANZIGER, Bertram, in: Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012, § 4 TVG, Rn. 940; BAG, Urteil vom 24. Januar 1990, Az.: 4 AZR 561/89. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 076/15 Seite 14 Das BAG begründete diese Rechtsprechung mit den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.40 Weil das Tarifvertragsgesetz keine Regelungen für den Fall der Tarifpluralität enthalte, bestehe eine Regelungslücke, die mit dem Prinzip der Tarifeinheit gefüllt werde. Mit Urteil vom 7. Juli 201041 hat das BAG seine ständige Rechtsprechung bezüglich der Tarifeinheit für die Fälle der Tarifpluralität aufgegeben. Als wesentliches Argument hierfür führte es an, der Grundsatz der Tarifeinheit sei mit der im Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Koalitionsfreiheit nicht vereinbar, weil es in Fällen der Tarifpluralität dazu führe, dass in einem Betrieb der weniger spezielle Tarifvertrag seiner Wirkung beraubt werde. Dies könne aber weder auf eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage noch auf übergeordnete Prinzipien der Rechtssicherheit oder der Rechtsklarheit gestützt werden. 5.2. Gesetz zur Tarifeinheit Das am 22. Mai 2015 vom Deutschen Bundestag in dritter Lesung verabschiedete Gesetz zur Tarifeinheit 42, durch das der Grundsatz der Tarifeinheit auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips nun gesetzlich verankert wird, wurde in der Diskussion im Vorfeld vielfach als Versuch gewertet, die gewerkschaftliche Betätigung insbesondere von Spartengewerkschaften einzuschränken. Die kontroversen Rechtsstandpunkte der im Rahmen der Beratungen als Sachverständige angehörten politischen Akteure und Vertreter der Wissenschaft sind den Ausschussmaterialien zu entnehmen .43 5.3. Einfluss der Debatte auf die Rechtsprechung In der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung fand die gesetzgeberische Debatte naturgemäß keinen Niederschlag. 40 Vgl. statt vieler BAG, Urteil vom 20. März 1991, Az.: 4 AZR 455/90, Rn. 23 ff. 41 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08. 42 Plenarprotokoll 18/107, S. 10245 (C,D); Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 18/4062. 43 Ausschussdrucksache 18(11)357 (Zusammenfassung der schriftlichen Stellungnahmen der im Ausschuss angehörten Sachverständigen).