© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 072/16 Einzelfragen zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes Von der Wesentlichkeit der Behinderung zur Einschränkung der Teilhabefähigkeit in erheblichem Maße Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Seelisch wesentliche Behinderungen 11 1.3. Ermessensspielraum nach § 53 Absatz 1 Satz 2 SGB XII 12 2. Künftige Rechtslage 13 2.1. Neuregelung des leistungsberechtigten Personenkreises durch das Bundesteilhabegesetz 14 2.2. Möglicher Ausschluss bisher leistungsberechtigter Personen 15 2.2.1. Befürchtungen der Fachverbände nach Referentenentwurf zum BTHG 15 2.2.2. Situation nach dem Kabinettsbeschluss 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 4 1. Heutige Rechtslage Bislang ist die Eingliederungshilfe im sechsten Kapitel des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) - Sozialhilfe - geregelt. Die im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - verankerten Grundsätze für Leistungen an behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen sind ergänzend heranzuziehen. Über die Eingliederungshilfe wird die grundsätzlich subsidiär angelegte Sozialhilfe zu einem nicht mehr nachrangigen , sondern gleichberechtigten Rehabilitationsträger nach dem SGB IX.1 1.1. „Wesentliche Behinderung“ als Anknüpfungspunkt für die Leistungsberechtigung nach § 53 SGB XII Eine Leistungsberechtigung innerhalb der Eingliederungshilfe setzt als Anknüpfungspunkt nach § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII eine Behinderung oder die Bedrohung durch eine Behinderung voraus , durch welche die Fähigkeit an der Gesellschaft teilzuhaben „wesentlich“ eingeschränkt ist. Mithin muss demnach eine „wesentliche Behinderung“ vorliegen oder drohen. 1.1.1. Behinderung Menschen sind nach der Legaldefinition in § 2 Absatz 1 Satz 1 SGB XII behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Diese einheitliche Definition des Behindertenbegriffs für das gesamte Rehabilitations- und Teilhaberecht folgt der dreigliedrigen Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die im Wesentlichen darauf abstellt, ob alternativ die körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten beeinträchtig sind (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF),2 wobei aber die Wechselwirkung von Gesundheitsstörung und Gesellschaft in § 2 SGB IX nicht mit aufgenommen wurde.3 Erfasst sind grundsätzlich alle Personen, die körperlich behindert sind, alle Personen, bei denen eine geistige Behinderung vorliegt, und auch alle Personen mit einer seelischen Behinderung.4 1 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Übersicht über das Sozialrecht 2015/2016, Kapitel 12, S. 819. 2 Kreikebohm, in: Knickrehm / Kreikebohm / Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, SGB IX § 2 Rn. 2, beckonline .de [11. August 2016]. 3 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 2, beck-online.de [28.7.2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 13, beck-online.de [28. Juli 2016]. 4 Scheider, in: Schellhorn / Hohm / Scheider, SGB XII, 19. Auflage, § 53 Rn. 14 - 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 5 Auf die Ursache der Behinderung kommt es nicht an.5 So ist es beispielsweise unschädlich, dass Verhaltensstörungen durch familiäre Konfliktsituationen oder Unzulänglichkeiten mitbedingt sind.6 Hinsichtlich der hinzugenommenen zeitlichen Komponente, die sich nicht unmittelbar aus der Definition der WHO ergibt, wird eine hohe prognostische Wahrscheinlichkeit für das Überschreiten der Sechsmonatsfrist verlangt, wobei die bisherige Dauer der Beeinträchtigung unbeachtlich ist.7 Diese Prognoseentscheidung wird vom Sozialhilfeträger vorgenommen, der sich dazu in der Regel des medizinischen Sachverstandes bedienen muss.8 Die Bezugnahme auf den „für das Lebensalter typischen Zustand“ soll bezwecken, dass typische Alterserscheinungen, also körperliche, geistige und seelische Einschränkungen, die bei Kleinkindern , Kindern und Jugendliche vorhanden sind oder sich im Alter physiologisch entwickeln (altersbedingte Sehschwäche, eingeschränkte Leistungsbreite von Herz und Lungen oder Beweglichkeit von Gliedmaßen), als Behinderungen ausscheiden.9 Pflegebedürftigkeit darf aber keinesfalls generell für Menschen im fortgeschrittenen Alter als typischer Zustand angenommen werden.10 Im Rahmen der Eingliederungshilfe stehen nach § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII behinderten Menschen auch solche Menschen gleich, die von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind. Eine Bedrohung durch Behinderung liegt gemäß § 53 Absatz 2 Satz 1 SGB XII dann vor, wenn nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Eintritt einer Behinderung zu rechnen ist. Für eine hohe Wahrscheinlichkeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 Prozent erforderlich.11 Fachliche Kenntnisse haben Ärzte, aber auch Personen, die aufgrund ihrer Ausbildung zur Betreuung des Betroffenen eingesetzt sind.12 5 Kreikebohm, in: Knickrehm / Kreikebohm / Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, SGB IX § 2 Rn. 2, beckonline .de [11. August 2016]; Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 23, juris.de [11. August 2016]. 6 Scheider, in: Schellhorn / Hohm / Scheider, SGB XII, 19. Auflage, § 53 Rn. 13. 7 Kreikebohm, in: Knickrehm / Kreikebohm / Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, SGB IX § 2 Rn. 2, beckonline .de [11. August 2016]. 8 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 2, beck-online.de [28.7.2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 15, beck-online.de [28. Juli 2016]. 9 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 16, beck-online.de [28. Juli 2016]. 10 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 7; Urteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein vom 11. April 2003 – 2 MB 47/03. 11 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 6, beck-online.de [28. Juli 2016]; Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 37, juris.de [11. August 2016]; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. November 1998 - 5 C 38.97. 12 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 33, beck-online.de [28. Juli 2016]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 6 1.1.2. Wesentlichkeitserfordernis Das zusätzliche Tatbestandsmerkmal der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung liegt vor, wenn die Behinderung die Gefahr in sich birgt, dass der behinderte Mensch durch sie aus der Gesellschaft ausgegliedert wird oder durch sie bereits ausgegliedert ist.13 Sie muss vorliegen, um einen gebundenen Rechtsanspruch im Sinne von § 40 Absatz 1 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) auf Leistungen der Eingliederungshilfe zu haben, andernfalls besteht nur ein Anspruch auf eine Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers über die Gewährung (§ 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII).14 Durch das Erfordernis der Wesentlichkeit wird im SGB XII eine Einschränkung gegenüber den anderen Bereichen des Rehabilitationsrechts vorgenommen .15 Über dieses Merkmal werden leichtere Fälle von der Eingliederungshilfe ausgenommen.16 1.2. Konkretisierung dieser Leistungsvoraussetzung durch Literatur und Rechtsprechung Die Behinderung muss für eine Wesentlichkeit einen gewissen Schweregrad überschreiten und deshalb die Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigen.17 Nach einer Ansicht in der Literatur ist nach dem Wortlaut der Regelung eine wesentliche Behinderung mit einer wesentlichen Fähigkeitsbeeinträchtigung gleichzusetzen und daher führe nur eine wesentliche Fähigkeitsbeeinträchtigung dazu, dass ein Mensch in seiner Teilhabe wesentlich beeinträchtigt werde.18 Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung wertend an deren Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten.19 Entscheidend sei nicht, wie stark die Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit konkret auswirkt.20 Das Bundessozialgericht hat hierzu beispielsweise entschieden, dass allein fehlende Sprachkenntnisse keine wesentliche Behinderung darstellen.21 13 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 2, beck-online.de [28.7.2016]; Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 5. August 2010, L 8 SO 143/10 B ER. 14 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 22, juris.de [11. August 2016]. 15 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 17, beck-online.de [28. Juli 2016]. 16 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 22, juris.de [11. August 2016]. 17 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 26, juris.de [11. August 2016]. 18 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 17, beck-online.de [28.Juli 2016]. 19 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 5, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 2 Rn. 5, juris.de [17. August 2016]; Urteil des Bundessozialgerichts vom 22. März 2012, B 8 SO 30/10 R. 20 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 5, beck-online.de [28.7.2016]; Urteil des Bundessozialgerichts vom 22. März 2012, B 8 SO 30/10 R. 21 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, SGB XII § 53 Rn. 18, juris.de [11. August 2016]; Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. März 2015, B 8 SO 22/13 R. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 7 Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Einzelfallentscheidung beispielsweise festgehalten, dass eine zur Annahme einer wesentlichen Behinderung führende Beeinträchtigung noch nicht alleine deshalb vorliege, weil nicht der optimale Platz im Arbeitsleben oder ein optimaler Schulabschluss erreicht werde, da sich auch mit einem Haupt- oder Realschulabschluss ein angemessener Platz im Arbeitsleben finden lasse.22 Für eine weitere Konkretisierung von Fällen einer wesentlichen Behinderung sind zwingend die §§ 1-3 der Eingliederungshilfeverordnung (EinglVO)23 heranzuziehen.24 Dort wird „zur rechtlichen Typisierung von Behinderung sowohl auf die körperliche Regelwidrigkeit als auch auf die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft abgestellt“ und damit auch der „negative[n] Wechselwirkung zwischen dem gesundheitlichen und funktionalen Zustand einer Person zur gesellschaftlichen Umwelt“ Rechnung getragen.25 Die EinglVO unterscheidet nach einem starren System zwischen körperlich (§ 1), geistig (§ 2) und seelisch (§ 3) wesentlich behinderten Menschen.26 Nach teilweise vertretener Ansicht in der Literatur sei es unzutreffend, bei sogenannten Mehrfachbehinderungen für die Abgrenzung der Wesentlichkeit der Behinderungen einer Person ausnahmslos auf die einzelne Behinderung abzustellen .27 1.2.1. Körperlich wesentliche Behinderungen In § 1 EinglVO ist festgelegt, welche körperlichen Gebrechen die Teilhabefähigkeit wesentlich beeinträchtigen. Danach zählen zu den körperlich wesentlich behinderten Personen, alle Personen , die in ihrer Bewegungsfähigkeit durch Beeinträchtigung ihres Stütz- oder Bewegungssystems beeinträchtigt sind (Nr. 1), Personen bei denen Spaltbildungen des Gesichtes oder des Rumpfes bestehen (Nr. 2), Personen mit sonstigen erheblichen körperlichen Behinderungen aufgrund von Erkrankungen der inneren Organe oder der Haut (Nr. 3), die Personengruppen der blinden und wesentlich sehbehinderten Menschen (Nr. 4), ferner die in ihrer Hörfähigkeit beeinträchtigten Personen (Nr. 5) und Personen, die in ihrer Sprachfähigkeit behindert sind.28 Diese 22 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 26, juris.de [11.8.2016]; BVerWG Buchholz 436.0. 23 Eingliederungshilfe - Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Februar 1975 (BGBL. I S. 433), die zuletzt durch Artikel 13 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022) geändert worden ist. 24 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 5, beck-online.de [28.7.2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 18, beck-online.de [28. Juli 2016]. 25 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 13, beck-online.de [28. Juli 2016]. 26 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 27, juris.de [11.8.2016]. 27 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 27, juris.de [11.8.2016], Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, SGB XII § 53 Rn. 22, juris.de [11. August 2016]. 28 Scheider, in: Schellhorn / Hohm / Scheider, SGB XII, 19.Auflage, § 53 Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 8 Aufzählung ist nach allgemeiner Ansicht abschließend, sodass bei körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen , die nicht von den Fallgruppen des § 1 EinglVO erfasst sind, kein gebundener Rechtsanspruch entstehen kann.29 Zum Teil wird angenommen, dass bei Vorliegen der Gebrechen, die in § 1 Nr. 1 bis 6 EinglVO genannt sind, zugunsten der Betroffenen eine gesetzliche unwiderlegbare Vermutung greife, dass stets eine wesentliche Behinderung anzunehmen sei.30 Dies ist umstritten. Der Gegenansicht nach bestehe keine solche zwingende gesetzliche Vermutung mit dem Argument, dass sonst die Systematik des § 53 Abs. 1 SGB XII nicht berücksichtigt werden würde, die zwischen wesentlichen Behinderungen mit Leistungsanspruch (Satzt 1) und sonstigen Behinderungen mit Ermessensentscheidung (Satz 2) unterscheidet.31 Wäre zudem immer von einer wesentlichen Behinderung auszugehen , würde die Entscheidung über die Wesentlichkeit letztlich auf den Sachverständigen verschoben werden, weil in fast allen Tatbeständen des § 1 EinglVO noch ein zusätzliches wertendes Merkmal vorhanden sei, wonach festzustellen sei, ob es sich um eine „erhebliche“ oder „starke“ Ausprägung handle.32 Nur die Tatbestände des § 1 Nr. 4, 5 und teilweise auch von Nr. 6 EinglVO würden kein solches weiteres wertendes Merkmal fordern, sodass hinsichtlich der dort genannten Personen, die nicht sprechen können, „seelentaub“ und „hörstumm“ sind, kraft Gesetzes aber stets von einer wesentlichen Behinderung auszugehen sei.33 Unter § 1 Nr. 1 EinglVO fallen alle Beeinträchtigung des Stütz- und Bewegungssystems, die durch Gesundheitsstörungen ausgelöst werden, die sich auf die Beweglichkeit und Fortbewegungsfähigkeit des Menschen beziehen. Die Ursache für die Beeinträchtigung ist dabei ohne Bedeutung . Hierzu zählen neurologische Erkrankungen wie Lähmungen und Multiple Sklerose, andere Muskelerkrankungen, Folgen rheumatischer Erkrankungen und orthopädische Knochenerkrankungen , insbesondere der Wirbelsäule, und Fehlbildungen der Gliedmaßen.34 Die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit muss medizinisch festgestellt sein und sich konkret auf die Teilhabe auswirken.35 Die Wesentlichkeit ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen. 29 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, SGB XII § 53 Rn. 25, juris.de [11. August 2016]; Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 6, juris.de [17. August 2016]. 30 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 6, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 18, beck-online.de [28. Juli 2016]. 31 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, SGB XII § 53 Rn. 25, juris.de [11. August 2016]. 32 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 6, juris.de [17. August 2016]. 33 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 6, juris.de [17. August 2016]. 34 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 8, juris.de [17. August 2016]. 35 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 13, beck-online.de [28.Juli 2016]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 9 Den Hauptanwendungsfall von § 1 Nr. 2 EinglVO bilden Kiefer- und Gaumenspalten oder angeborene Spaltbildungen der Wirbelsäule.36 Durch diese Fehlbildungen müssen einstellungsbezogene beziehungsweise mentale Barrieren bestehen, die die Teilhabe der Person beeinträchtigen.37 Neurodermitis soll nach der Rechtsprechung keine Entstellung in diesem Sinne sein.38 Unter § 1 Nr. 3 EinglVO fallen Personen mit Organ- und Hautschäden.39 Erfasst sind schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und schwere Erkrankungen der Blutgefäße, der Lunge, der Nieren, der Leber, des Darms und Folgen von Krebserkrankungen oder chronischen Krankheiten wie Diabetes , Epilepsie und AIDS.40 Personen mit Anfallsleiden sind auch umfasst.41 Neurodermitis stellt auch keine körperliche Behinderung in Bezug auf die Haut dar.42 Die Fallgruppe des § 1 Nr. 4 EinglVO betrifft die Sehfähigkeit. Hiervon umfasst sind blinde Menschen und Menschen, deren Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 beträgt, sowie andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad, dass sie dieser Beeinträchtigung der Seeschärfe gleichzustellen sind, beispielsweise extreme Einschränkungen des Gesichtsfelds.43 Störungen des Lichtsinns, wie Nachtblindheit, sind nicht umfasst.44 Für § 1 Nr. 5 EinglVO ist allein eine Herabsetzung des Sprachgehörs maßgeblich, so dass unerheblich ist, ob dieser Zustand bereits von Geburt an besteht oder erst später eingetreten ist.45 Unter diese Fallgruppe fallen auch „taubstumme“ Menschen, da die Ursache ihrer sprachlichen Defizite eine Folge der Gehörlosigkeit ist.46 36 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 9, juris.de [17. August 2016]. 37 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 14; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 20, beck-online.de [28. Juli 2016]. 38 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 9, juris.de [17. August 2016]; Urteil des Verwaltungsgerichts Dessau vom 27. Februar 2004 – 4 A 305/03. 39 Mayer, in Oestreicher, SGB XII § 53 Rn. 17, Stand: 77. EL, 1. März 2016. 40 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 21, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 10, juris.de [17. August 2016]. 41 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 21, beck-online.de [28. Juli 2016]. 42 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 10, juris.de [17. August 2016]. 43 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 12, juris.de [17. August 2016]. 44 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 22, beck-online.de [28. Juli 2016]. 45 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 23, beck-online.de [28. Juli 2016]. 46 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 13, juris.de [17. August 2016]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 10 Von § 1 Nr. 6 EinglVO sind alle Sprachstörungen umfasst. Der Zeitpunkt des Eintritts der Störung ist auch hier unerheblich.47 Sprachbehindert im Sinne von § 1 Nr. 6 EinglVO sind Personen mit schweren Sprachfunktions- und anderen Kommunikationsstörungen.48 Eine Sprachbehinderung ist „stark“, wenn eine Verständigung mit nicht vertrauten Personen kaum möglich ist.49 Diese Art von Behinderung ist nur bei Personen, die nicht sprechen können, „Seelentauben“(Sie können Klänge und Geräusche zwar akustisch vernehmen, aber damit keine begreifliche Vorstellung verbinden.) und „Hörstummen“ (Sie können die Lautsprache zwar hören und verstehen, aber selbst nicht sprechen.) ohne weitere Prüfung wesentlich.50 In den anderen Fällen der Nr. 6 muss eine Einzelfallprüfung hinsichtlich der Stärke beziehungsweise der Erheblichkeit stattfinden .51 1.2.2. Geistig wesentliche Behinderungen Nach § 2 EinglVO sind Personen geistig wesentlich behindert, die in Folge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Dabei sind Ursache und Zeitpunkt des Eintritts der Einschränkung (vor beziehungsweise bei Geburt durch Wasserkopf, Down-Syndrom, Sauerstoffmangel, oder erst im Alter durch hirnorganischen Abbauprozess) unbeachtlich.52 Für die Frage, ob eine Person geistig wesentlich behindert ist, kommt es nach einer Ansicht in der Literatur „auf das Ausmaß der geistigen Leistungsschwäche an“, soweit diese in verschiedenen wesentlichen Lebensbereichen, wie Selbstversorgung, Mobilität, Haushaltsführung, Orientierung und Kommunikation, Beeinträchtigungen der Teilhabemöglichkeit herbeiführt.53 Schwierigkeiten bereitet hier die Einordnung von intellektuellen Schwächen und Lernbehinderungen , wie Lese- und Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie. Allein ein niedriger Intelligenzquotient soll noch zu keiner wesentlichen Behinderung führen, allerdings soll ein Intelligenzquotient , der weit unterhalb einer Grenze von 70 liegt, nach der Rechtsprechung als geistig wesentliche Behinderung behandelt werden.54 Da es sich bei Lese- und Rechtschreibschwächen, 47 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 24, beck-online.de [28. Juli 2016]. 48 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 13. 49 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 14, juris.de [17. August 2016]. 50 Mayer, in Oestreicher, SGB XII § 53 Rn. 20, Stand: 77. EL, 1. März 2016; Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 14, juris.de [17. August 2016]. 51 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 14, juris.de [17. August 2016]. 52 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 7, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 25, beck-online.de [28. Juli 2016]. 53 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 30, juris.de [11.8.2016]. 54 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 7, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 25, 25 b, beck-online.de [28. Juli 2016]; Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 2013, L 20 SO 170/11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 11 wie Legasthenie, um eine geistige Teilleistungsschwäche bei sonst regelrechtem neurologischem Befund handelt, sollen sie grundsätzlich der geistigen Behinderung zugerechnet werden.55 Gleiches muss daher für andere geistige Teilleistungsschwächen, wie Dyskalkulie, gelten.56 Allerdings liegt Wesentlichkeit nur dann vor, wenn keine Möglichkeit besteht diese Teilstörung durch andere Fähigkeiten auszugleichen.57 Schwerwiegende Cerebralparesen oder geistige Schwäche durch altersbedingte Demenz können ebenfalls umfasst sein.58 Letztendlich ist auch hier immer maßbeglich, wie erheblich die Fähigkeit der Teilhabe am Leben der Gesellschaft durch diese Schwäche eingeschränkt ist.59 1.2.3. Seelisch wesentliche Behinderungen In § 3 EinglVO werden alle Störungen abschließend genannt, die zu einer seelisch wesentlichen Behinderung führen können.60 Zu deren Feststellung muss ein Arzt oder Psychotherapeut herangezogen werden. Hier wird durch die Formulierung „können“ deutlich, dass bei Vorliegen der genannten Störungen die wesentliche Teilhabefähigkeitsbeeinträchtigung nicht automatisch vermutet werden darf.61 Ob eine erhebliche Fähigkeitsbeeinträchtigung vorliegt, muss daher in jedem Einzelfall gesondert geprüft werden.62 Unter körperlich nicht begründbaren Psychosen im Sinne von § 3 Nr. 1 EinglVO fallen beispielsweise Schizophrenie und manisch depressive Erkrankungen, aber auch alle Erscheinungsformen des Autismus (atypischer Autismus, frühkindlicher Autismus, Rett-Syndrom, Asperger-Syndrom ).63 Seelische Störungen im Sinne von § 3 Nr. 2 EinglVO können Folgen einer Hirnhautentzündung oder Epilepsie sein.64 Seelische Störungen umfassen auch das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS beziehungsweise ADS).65 Der Begriff „Suchtkrankheiten“ gemäß § 3 Nr. 3 55 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 7, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 26, beck-online.de [28. Juli 2016]. 56 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 2 Rn. 6, juris.de [17. August 2016]. 57 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 7, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 26, beck-online.de [28. Juli 2016]. 58 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 2 Rn. 7, juris.de [17. August 2016]. 59 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 7, beck-online.de [28. Juli 2016]. 60 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 16. 61 Kaiser, in: Beck Online Kommentar Sozialrecht, SGB XII § 53 Rn. 8, beck-online.de [28. Juli 2016]. 62 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 16; Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Februar 2002 – 12 A 5322/00. 63 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 28, beck-online.de [28. Juli 2016]; Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 3 Rn. 6, juris.de [17. August 2016]. 64 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 29, beck-online.de [28. Juli 2016]. 65 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 3 Rn. 6, juris.de [17. August 2016]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 12 EinglVO meint Alkohol- und Drogensuchten, wobei nicht erforderlich ist, dass die Rauschmittel bereits über einen längeren Zeitraum konsumiert wurden.66 Entscheidend ist zudem auch hier, ob die seelischen Störungen und damit die Fähigkeitsbeeinträchtigung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft wesentlich beeinträchtigen.67 1.3. Ermessensspielraum nach § 53 Absatz 1 Satz 2 SGB XII Der Ermessensspielraum nach § 53 Absatz 1 Satz 2 SGB XII kommt nur zum Tragen, wenn Behinderungen vorliegen, die nur vorrübergehend bestehen und nicht wesentlich im Sinne von § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII sind. Für eine richtige Ausübung der Ermessensentscheidung muss der Sozialhilfeträger daher immer zunächst ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII, insbesondere die Wesentlichkeit, verneinen und dann über „das Ob, die Art und die Form“ der Hilfe nach § 53 Absatz 1 Satz 1 SGB XII entscheiden.68 Nach allgemeiner Ansicht in der Literatur ist dieser Ermessensspielraum aufgrund verfassungsrechtlicher Überlegungen grundsätzlich als eng anzusehen.69 Hintergrund dafür ist, dass die Unterscheidung zwischen Personen mit einer wesentlichen und einer nicht wesentlichen Behinderung hinsichtlich des Rechtscharakters der Leistungen verfassungsrechtlich problematisch sei, da bei Zuständigkeit anderer Rehabilitationsträger auch Personen mit einer nicht wesentlichen Behinderung Eingliederungshilfeleistungen als Pflichtleistungen erhalten.70 Die Regelung tangiere deshalb den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Absatz 1 Grundgesetz (GG), weil sie behinderte Menschen ohne wesentliche Behinderung im Sinne der sozialhilferechtlichen Vorschriften auf Ermessensleistungen verweist und für diese Personen insoweit eine Schlechterstellung gegenüber den Teilhabeleistungen anderer Sozialleistungsträger vornimmt.71. Eine solche Ungleichbehandlung sei in jenen Fällen anzunehmen, in denen in vergleichbaren Fällen in anderen Sozialleistungssystemen, wie der Krankenversicherung und dem SGB II, Rehabilitationsleistungen erbracht würden, sofern allein die verfassungsrechtlichen oder sonstigen besonderen leistungsrechtlichen Voraussetzungen dieser Gesetzbücher erfüllt sind.72 66 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 29, beck-online.de [28. Juli 2016]. 67 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 16; Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 32, juris.de [11.8.2016]. 68 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 32, beck-online.de [28. Juli 2016]. 69 Wahrendorf, in: Grube / Wahrendorf, SGB XII § 53 Rn. 28, beck-online.de [28. Juli 2016]. 70 Scheider, in: Schellhorn / Hohm / Scheider, SGB XII, 19. Auflage, § 53 Rn. 40.2. 71 Voelzke, in: Hauck / Noftz, SGB XII § 53 Rn. 33, juris.de [11.8.2016]. 72 Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 7, juris.de [11. August 2016]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 13 Da dies im Hinblick auf das übergreifende Ziel des § 1 SGB IX zu einem Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 GG sowie gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „zur Gleichbehandlung im Normengeflecht“73 führen würde, gebiete eine verfassungskonforme Auslegung in diesen Fällen regelmäßig eine Ermessensreduzierung „auf Null“.74 Allerdings nur, wenn eine Gesundheits - oder Funktionsstörung vorliegt, die eine erhebliche Teilhabebeeinträchtigung zur Folge hat oder eine solche droht und nicht schon ein Anspruch auf Leistung nach § 53 Absatz 1 Satz 1 besteht . Das sind all jene Fälle, in denen Menschen in ihrer Teilhabefähigkeit zwar wesentlich beeinträchtigt sind, deren Gesundheitsstörungen aber nicht von der EinglVO erfasst sind. Liegt hingegen eine Gesundheits- oder Funktionsstörung vor, die zwar in der EinglVO genannt ist, die Teilhabe aber nur unwesentlich beeinträchtigt, bleibt es bei der gewöhnlichen Ermessensentscheidung .75 2. Künftige Rechtslage Im Rahmen der Novellierung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) durch das vom Bundeskabinett am 28. Juni 2016 beschlossene Bundesteilhabegesetz (BTHG)76 wird die Eingliederungshilfe aus dem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe herausgenommen und in das SGB IX integriert .77 Sie wird künftig in reformierter Form im SGB IX, Teil 2, unter dem Titel „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen“ geregelt sein.78 Die Leistungen zur Teilhabe werden weiterhin durch die verschiedenen Träger des gegliederten Sozialleistungssystems übernommen.79 73 Bieritz-Harder, in: Bieritz-Harder / Conradis / Thie, SGB XII, 10. Auflage, § 53 Rn. 21. 74 Mayer, in Oestreicher, SGB XII § 53 Rn. 32, Stand: 77. EL, 1. März 2016; Wehrhahn, in: Schlegel / Voelzke, juris Praxiskommentar, EinglHV § 1 Rn. 7, juris.de [11. August 2016]. 75 Mayer, in Oestreicher, SGB XII § 53 Rn. 32, Stand: 77. EL, 1. März 2016. 76 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, beschlossen am 28. Juni 2016 durch das Bundeskabinett, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gemeinsam-einfach-machen.de [23. August 2016]. 77 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 2 und 4, Stand: 4 Juli 2016; Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, S. 198, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gemeinsam-einfach-machen.de [23. August 2016]. 78 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 4, Stand: 4. Juli 2016. 79 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 15, Stand: 4. Juli 2016. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 14 2.1. Neuregelung des leistungsberechtigten Personenkreises durch das Bundesteilhabegesetz Der leistungsberechtigte Personenkreis für die Eingliederungshilfe wird durch das BTHG im neuen zweiten Teil des SGB IX in § 99 neu geregelt. Die Eingliederungshilfe ist weiterhin nicht für alle Menschen mit Behinderungen vorgesehen, sondern soll künftig nur denjenigen mit (drohenden ) erheblichen Teilhabeeinschränkungen gewährt werden.80 Das eingrenzende Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Behinderung wird damit künftig durch das Merkmal einer „Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße“ ersetzt.81 Dadurch erfolgt laut Gesetzesentwurf eine „fachlich notwendige Weiterentwicklung“ dieses Merkmals, da das „leistungsauslösende Moment“ nicht mehr an der Person selbst beziehungsweise an Persönlichkeitsmerkmalen festgemacht werde, sondern an der „Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt“.82 Eine Neuregelung des leistungsberechtigten Personenkreises wurde laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund der Neufassung der UN-Behindertenrechtskonvention und deren neuen Behindertenbegriff notwendig. Ziel dieser Neuregelung sei es aber den Kreis der Leistungsberechtigung weder einzuengen noch auszuweiten.83 Der Zugang soll künftig an die Aktivitäts- und Teilbereiche der „ICF“ der WHO angelehnt sein.84 Sie wurden als „Lebensbereiche“ vollständig übernommen. Leistungsberechtigt sind nach dem BTHG künftig nur Menschen, die in mindestens fünf der genannten neun Leistungsbereiche ohne personelle oder technische Unterstützung nicht teilhaben können oder in drei Lebensbereichen auch mit personeller oder technischer Unterstützung nicht teilhaben können. Die Lebensbereiche sind: Lernen und Wissensanwendung, allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation , Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen , bedeutende Lebensbereiche, Gemeinschaftsleben sowie soziales und staatsbürgerliches Leben . Unter personeller Unterstützung ist nach § 99 Absatz 3 SGB IX (neu) „die regelmäßig wiederkehrende und über einen längeren Zeitraum andauernde Unterstützung durch eine anwesende Person“ zu verstehen. 80 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 4, Stand: 4. Juli 2016. 81 Stellungnahme der Fachverbände zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (BTHG) vom 18.Mai 2016, S. 63. 82 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, S. 201, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gemeinsam-einfach-machen.de [23. August 2016]. 83 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 15, Stand: 4. Juli 2016. 84 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 15, Stand: 4. Juli 2016. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 15 2.2. Möglicher Ausschluss bisher leistungsberechtigter Personen 2.2.1. Befürchtungen der Fachverbände nach Referentenentwurf zum BTHG Aufgrund dieser neuen Regelung zur Leistungsberechtigung in § 99 Absatz 1 SGB IX (neu) steht nach Ansicht der Fachverbände zu befürchten, dass der jetzt leistungsberechtigte Personenkreis künftig verkleinert wird.85 Die neue Regelung stellt ihrer Meinung nach zu hohe Anforderungen in der Praxis. Dies kritisierten die Fachverbände in ihren Stellungnahmen zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum BTHG vom 26. April 2016 und nannten dabei folgende Gruppen, die betroffen sein könnten: So könnten behinderte Menschen, die Hilfe beziehungsweise Unterstützung nur in einzelnen Teilbereichen ihres Lebens, wie beispielsweise im Bereich Mobilität, Bildung oder bei der Haushaltsführung , brauchen, künftig aus dem leistungsberechtigten Personenkreis fallen oder schlechter gestellt werden.86 Ihnen könnte ein Nachweis über die erforderliche Betroffenheit in drei beziehungsweise fünf Lebensbereichen unmöglich sein. Hiervon könnten vor allem sinnesbehinderte Menschen mit Hör- oder Sehschädigungen betroffen sein. Zwar können Hör- und Sehschädigungen grundsätzlich nicht nur in einem Lebensbereich einschränken, sondern auch in zahlreiche andere Lebensbereiche ausstrahlen. Hör- oder sehgeschädigte Personen, die aber beispielsweise nur im Studium einen Gebärdensprach- oder Schriftsprachdolmetscher oder eine Vorlesehilfe benötigen, könnten künftig keinen entsprechenden Anspruch mehr haben, da Bildung nur einen der neun Lebensbereiche darstelle und fraglich sei, wie sie eine erhebliche Teilhabebeeinträchtigung in Form des künftigen komplexen Unterstützungsbedarfs in fünf Lebensbereichen nachweisen sollen.87 Gleiches gelte für Menschen, die bisher Hilfe nur in Form des ambulant unterstützten Wohnens erhalten haben und ohne diese Unterstützung nicht in der Lage sind ihr Leben selbstständig zu führen. Auch sie könnten nach Meinung der Fachverbände durch den neuen hohen Unterstützungsbedarf zukünftig von einem Wegfall der Leistung betroffen sein.88 Durch das in Absatz 3 konkretisierte Erfordernis einer „regelmäßig wiederkehrenden und über einen längeren Zeitraum andauernden Unterstützung“ als Merkmal der Erheblichkeit könnten 85 Stellungnahme der Fachverbände zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (BTHG) vom 18. Mai 2016, S. 64. 86 Deutscher Behindertenrat: Verbändebündnis fordert dringend Nachbesserungen beim Bundesteilhabegesetz, 27. Juni 2016. 87 Deutsches Studentenwerk: Stellungnahme zum Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes vom 26. April 2016, S. 1; Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten: Stellungnahme zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes vom 18. Mai.2016, S. 64. 88 Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.: Stellungnahme zum Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 16 zudem künftig auch alle Menschen mit einem stark schwankenden Unterstützungsbedarf ausgeschlossen sein, wie beispielsweise psychisch kranke Personen oder auch onkologisch und chronisch erkrankte Patienten. Die Verbände wiesen darauf hin, dass gerade psychische Beeinträchtigungen oft schubweise verliefen. Insbesondere suchtkranke Personen, die bis jetzt als seelisch wesentlich behindert im Sinne von § 3 Nr. 3 EinglVO in der Regel leistungsberechtigt waren, könnten an dem neuen Erfordernis der Erheblichkeit scheitern, da ein Merkmal einer chronischen Suchterkrankung ein stark schwankender Unterstützungsbedarf sei.89 Ein durchgehender Unterstützungsbedarf, vor allem in der geforderten Vielzahl von Lebensbereichen, könnte ihrer Meinung nach auch hier schwierig nachweisbar sein. Insgesamt erscheine das Erfordernis der Betroffenheit in solch einer hohen Anzahl von Lebensbereichen für seelisch Behinderte nicht sinnvoll , da auch schon Einschränkungen der Fähigkeiten in einzelnen der genannten Bereiche in Wechselwirkung mit Barrieren zu ernsten Teilhabeproblemen führen könnten.90 2.2.2. Situation nach dem Kabinettsbeschluss In dem vom Bundeskabinett am 28. Juni 2016 beschlossenen Gesetzentwurf, der inzwischen dem Bundesrat zugeleitet wurde,91 wird auf diese Kritik reagiert: Es kam zwar zu keiner Verringerung der geforderten Anzahl von Lebensbereichen, in denen eine Person in ihrer Teilhabefähigkeit betroffen sein muss, aber es wurde in § 99 Absatz 1 SGB IX (neu) wieder ein Ermessensspielraum - ähnlich dem des § 53 Absatz 1 Satz 2 SGB XII – eingeräumt . Dieser könnte die befürchtete Verkleinerung des Kreises der Leistungsberechtigten in der Praxis verhindern. Danach können Leistungen der Eingliederungshilfe auch an Personen erbracht werden, die die Betroffenheit in fünf beziehungsweise drei Lebensbereichen nicht erfüllen, aber trotzdem einen wesentlichen und ersichtlichen Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe haben .92 Die betroffenen Personengruppen könnten mit Hilfe dieser Regelung weiterhin unter den Kreis der Leistungsberechtigten fallen. Allerdings handelt es sich hierbei wieder nur um einen Ermessensanspruch. Eine Gewissheit wie bei einem gebunden Rechtsanspruch haben die betroffenen Personengruppen daher künftig nicht mehr. Auch hier könnte der Ermessensspielraum aber durch Literatur und Rechtsprechung wieder hinsichtlich bestimmter Fälle aus den gleichen Gründen wie bei § 53 Absatz 1 Satz 2 BGB XII durch 89 Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.: Stellungnahme der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. zum Referentenentwurf des Bundesteilhabegesetzes vom 17. Mai 2016, S. 2. 90 Stellungnahme Aktion psychisch Kranke e.V., Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gemeinsam-einfachmachen .de [23. August 2016]. 91 Bundesratsdrucksache 428/16 vom 12. August 2016. 92 Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 22. Juni 2016, Bundesministerium für Arbeit und Soziales , gemeinsam-einfach-machen.de [23. August 2016]; Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG), S. 15, Stand: 4 Juli 2016. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 072/16 Seite 17 verfassungskonforme Auslegung auf „Null“ reduziert werden, sodass auf diese Weise wieder sichergestellt wäre, dass die betroffenen Personen auch in Zukunft tatsächlich weiterhin leistungsberechtigt sind. Dies bleibt abzuwarten. Zudem soll die Umstellung, die erst für das Jahr 2020 geplant ist, einer genauen Beobachtung im Rahmen einer Wirkungsforschung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unterzogen werden. Die Implementierung der neuen Regelungen soll beispielsweise durch Erfahrungsaustausche eng begleitet werden. Ergänzend soll es noch zu eine Evidenzbeobachtung zur Evaluierung der Regeln durch die Länder geben.93 Ende der Bearbeitung 93 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Das BTHG in der Diskussion, S. 6, Stand: 28.06.2016.