© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 071/19 Fragen zur Einführung einer steuerfinanzierten Sockelrente zuzüglich einer aus den individuellen Beitragszahlungen folgenden Rente Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 2 Fragen zur Einführung einer steuerfinanzierten Sockelrente zuzüglich einer aus den individuellen Beitragszahlungen folgenden Rente Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 071/19 Abschluss der Arbeit: 25. Juli 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Modelle zur Einführung eines zweistufigen Systems staatlicher Renten 4 2. Grundprinzipien der Rentenversicherung 4 3. Beteiligung des Bundes an der gesetzlichen Rentenversicherung 5 4. Grenzen der Einführung eines zweistufigen Systems staatlicher Renten 6 5. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 7 6. Auswirkungen auf die Finanzierung der staatlichen Alterssicherung und verschiedene Gruppen von Erwerbspersonen 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 4 1. Modelle zur Einführung eines zweistufigen Systems staatlicher Renten Im Folgenden wird der Vorschlag behandelt, die Bundeszuschüsse zur allgemeinen Rentenversicherung abzuschaffen und gleichzeitig eine steuerfinanzierte Grundrente einzuführen, die etwa der Höhe der Grundsicherung im Alter, also dem Regelsatz und Bedarfen für Unterkunft und Heizung von etwa 900 Euro im Monat entspricht. Neben dem einheitlichen Sockelbetrag der Grundrente bestünde Anspruch auf die individuellen aus den Beitragszahlungen folgenden Renten, die jedoch um den auf den steuerfinanzierten Bundeszuschüssen beruhenden Anteil zu verringern wären. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es hinsichtlich eines Sockelrentenmodells aktuell keine thematische Auseinandersetzung. Die sogenannte Sockelrente innerhalb eines zweistufigen Systems staatlicher Renten geht auf das in den Jahren 2002 bis 2004 von den katholischen Verbänden entwickelte Reformmodell zurück, das wiederum Elemente aus den Alterssicherungssystemen in den Niederlanden und Schweden übernommen hat.1 Im Reformmodell der katholischen Verbände erfolgt die Finanzierung der Sockelrente durch Beiträge auf die Summe aller positiven Einkünfte und Steuermittel oder allein aus Steuermitteln. Bereits zuvor hatte der Deutsche Juristinnenbund mit dem Rentenmodell für eine geschlechtergerechte Rentenreform eine zweistufige Rente aus Sockelrente und Steigerungsbetrag aus den individuellen Beitragszahlungen vorgeschlagen, die Finanzierung dabei aber weiterhin aus Beiträgen der Versicherten und Bundesmittel belassen.2 2. Grundprinzipien der Rentenversicherung Die deutsche Sozialversicherung hatte bei ihrer Entstehung im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits vorhandene privatrechtliche Versicherungseinrichtungen zum Vorbild. Eine Versicherung liegt unter anderem vor, wenn durch einen Zusammenschlusses von Personen, die von gleichartigen Gefahren bedroht sind, für den Fall eines ungewissen Ereignisses bestimmte Leistungen bereitgestellt werden. Das Versicherungsprinzip in der Sozialversicherung ist durch die enge Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung gekennzeichnet, welche beispielsweise im Steuersystem nicht besteht. In der gesetzlichen Rentenversicherung stehen nach dem Versicherungsprinzip insoweit einer vorherigen Beitragsleistung bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen Rentenleistungen gegenüber. Seit 1957 gilt der Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rente. Die Beiträge werden nach einem bestimmten Prozentsatz vom Erwerbseinkommen der Versicherten erhoben. Die Höhe einer Rente richtet sich wiederum vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Erwerbseinkommen. Durch den für alle Versicherten in der allgemeinen Rentenversicherung geltenden Beitragssatz hängt die Rentenhöhe zwar von der Höhe der gezahlten Beiträge ab, dennoch besteht zwischen der Summe der im gesamten Erwerbsleben gezahlten Beiträge und der insgesamt im Ruhestand bezogenen Leistungen keine direkte Äquivalenz. Hintergrund hierfür ist, dass der Beitragssatz nicht als statische Größe feststeht, sondern je nach wirtschaftlichen Gegebenheiten und den Anforderungen des umlagefinanzierten 1 Das Rentenmodell der katholischen Verbände, Informationen abrufbar im Internet unter https://www.buendnissockelrente .de/, zuletzt abgerufen am 25. Juni 2019. 2 Rust, Ursula: Das Rentenmodell des DJB für eine geschlechtergerechte Rentenreform, in: ZSR 2000, S. 696 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 5 Rentenversicherungssystems variiert. Eine exakte Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung besteht daher lediglich innerhalb einer Jahrgangskohorte, also für Gruppen von Versicherten, die zur selben Zeit durchgehend Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt haben. Die gesetzliche Rentenversicherung beruht insoweit neben dem Versicherungsprinzip auch auf dem Prinzip der so genannten Teilhabeäquivalenz, nach dem die Rentenhöhe auf das Verhältnis des durch Beiträge versicherten individuellen Erwerbseinkommens zum durchschnittlichen Verdienst aller Versicherten zurückgeht.3 Dabei werden relative Einkommenspositionen aus der Erwerbsphase in die Ruhestandsphase übertragen, so dass bei lückenloser Erwerbsbiographie Versicherte mit einem höheren Einkommen im Verhältnis zum Durchschnittsverdiener überdurchschnittliche Renten erhalten, während die Rente für Versicherte mit geringeren Einkommen oder diskontinuierlicher Erwerbsbiographie unter dem Durchschnitt liegt. Dem Versicherungsprinzip steht in der gesetzlichen Rentenversicherung ein sozialer Ausgleich in beträchtlichem Umfang gegenüber. Zu diesem Solidarprinzip gehören sämtliche Rentenleistungen , die nicht als Äquivalent zum gezahlten Beitrag erbracht werden und insoweit nicht beitragsgedeckt , also versicherungsfremd sind. Die Finanzierung der nicht beitragsgedeckten Leistungen erfolgt systemgerecht aus Bundesmitteln. Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherung ist somit ein auf Leistung und Gegenleistung beruhender versicherungsmathematischer Risikoausgleich , der nach dem Solidarprinzip durch einen sozialen Ausgleich aufgrund sozialpolitischer Erwägungen ergänzt wird. 3. Beteiligung des Bundes an der gesetzlichen Rentenversicherung Der Leistungskatalog der gesetzlichen Rentenversicherung beinhaltet sowohl beitragsgedeckte als auch nicht beitragsgedeckte Leistungen, die meist als versicherungsfremde Leistungen bezeichnet werden. Neben den Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber wurde die Rentenversicherung bereits seit ihrer Gründung im Jahre 1891 durch einen staatlichen Zuschuss finanziert, da in der Alters- und Invalidenversicherung ein allgemeines und nationales Bedürfnis gesehen wurde, das zumindest zum Teil aus dem Nationaleinkommen befriedigt werden sollte.4 Die Zuschüsse des Bundes zu den Ausgaben der allgemeinen Rentenversicherung sind heute vor allem in § 213 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelt. Auf die Zuschüsse des Bundes in Höhe von 67,792 Mrd. Euro entfielen im Jahr 2017 insgesamt rund 23 Prozent der Einnahmen der Allgemeinen Rentenversicherung.5 Ferner übernimmt der Bund die Beitragszahlungen für besondere Sachverhalte , erstattet der Rentenversicherung bestimmte Leistungen und beteiligt sich an der knappschaftlichen Rentenversicherung in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen den Einnahmen und den Ausgaben. 3 Rürup. Die Bedeutung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Gesetzliche Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung, 4-5/2006, S. 240. 4 Haerendel. Die gesetzliche Rentenversicherung von den Anfängen bis zum wiedervereinigten Deutschland, in: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand , 2. Auflage 2011, Kapitel 1 Rn. 7 u. 29. 5 Rentenversicherung in Zeitreihen, Broschüre der Deutschen Rentenversicherung Bund, Oktober 2018, S. 248. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 6 Neben der Entlastungs- und Ausgleichsfunktion für Leistungen, die dem sozialen Ausgleich zuzuordnen sind, kommt den Bundeszuschüssen auch eine allgemeine Sicherungsfunktion zu, welche die Pflicht des Bundes zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Systems der Rentenversicherung und damit die Haftung für die Einrichtung und Wirksamkeit der Rentenversicherung als solche betrifft.6 Die Zuschüsse des Bundes zur allgemeinen Rentenversicherung setzen sich aus dem originären Bundeszuschuss und dem zusätzlichen Bundeszuschuss zusammen. Die Höhe des originären Bundeszuschusses orientiert sich an der Lohnentwicklung und der Veränderung des Beitragssatzes . Der zusätzliche Bundeszuschuss wird zur pauschalen Abgeltung der nicht beitragsgedeckten Leistungen seit 1998 geleistet und entsprach seinerzeit dem Aufkommen eines Prozentpunkts der Mehrwertsteuer. Er erhöht sich seit dem Jahr 2000 um die Einnahmen des Bundes aus der Fortführung der ökologischen Steuerreform. Mitunter werden durch gesetzliche Neuregelungen verursachte Mehr- oder Minderausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung mit Pauschalbeträgen bei den Zuschüssen des Bundes berücksichtigt. Eine gesetzliche Festlegung, wofür der originäre Bundeszuschuss zu verwenden sei, erfolgte bisher nicht. Nach Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung Bund bestehe derzeit eine Unterdeckung der nicht beitragsgedeckten Leistungen in Höhe von 30 Mrd. Euro.7 Der originäre Bundeszuschuss wird überdies nicht nur für die Rentenzahlungen, sondern auch für andere Ausgaben verwandt, beispielsweise für die Beitragszahlung der gesetzlichen Rentenversicherung zur Krankenversicherung der Rentner und für Leistungen zur Prävention, zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben. Gleiches gilt für die Verwendung der Beitragszahlungen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. Insofern stellt sich auch die Frage, wie der auf Beiträgen beruhende Anteil einer individuellen Rente bei Einführung einer Sockelrente zu bemessen sein dürfte. 4. Grenzen der Einführung eines zweistufigen Systems staatlicher Renten Inwieweit der vorliegende Vorschlag der Sockelrente zuzüglich einer individuellen aus den Beitragszahlungen folgende Rente mit dem Versicherungs- und Äquivalenzprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung zu vereinbaren wäre, kann ohne detaillierte Festlegungen, beispielsweise den Anspruchsvoraussetzungen für die Sockelrente, nicht beurteilt werden. Überdies stellt sich die Frage der Erwerbsminderung vor Eintritt der Altersgrenzen für eine Altersrente, für die diverse aus dem Solidarprinzip folgende Regelungen zum Ausgleich geringer Rentenhöhen allein aus den Beitragszeiten vorgesehen sind. Auch ist hier nicht klar, ob und wenn ja, welche weiteren Elemente des Solidarprinzips weiterhin Bestandteil der individuellen aus den Beitragszahlungen folgenden Rente sein sollen. Mit der Einführung einer steuerfinanzierten Sockelrente zuzüglich einer aus den individuellen Beitragszahlungen folgenden Rente wäre zumindest ein teilweiser Systemwechsel verbunden, 6 Hüfken. Die Finanzierung und Finanzbeziehungen der Rentenversicherung, in: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand, 2. Auflage 2011, Kapitel 23 Rn. 35. 7 Pressemitteilung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 27. Juni 2019. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 7 der sich unabhängig von den Grundprinzipien der Rentenversicherung vor allem an verfassungsrechtliche Vorgaben zu richten hätte. Insbesondere der Eigentumsschutz aus Art. 14 GG und die Vereinbarung mit dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG sind hinsichtlich der gesetzlichen Rentenversicherung von Bedeutung . Versichertenrenten und Rentenanwartschaften unterliegen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Eigentumsschutz. Dies bedeutet jedoch keine statische Garantie bestimmter rentenversicherungsrechtlicher Positionen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber letztlich immer wieder einen weiten Gestaltungsspielraum für Neuregelungen in der gesetzlichen Rentenversicherung zugestanden.8 Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Ein Verstoß gegen das Grundrecht liegt jedoch nur vor, wenn die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bzw. die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. An die Stelle des früher vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Willkürverbots ist die sogenannte Neue Formel getreten, nach der das bloße Vorliegen eines sachlichen Grundes nicht zur Rechtfertigung genügt, sondern „Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht [verlangt werden], dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen “.9 Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich damit je nach Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung reichen.10 Die Prüfung, ob ein zweistufiges Rentensystem aus einer steuerfinanzierten Sockelrente und einer aus den individuellen Beitragszahlungen folgenden Rente sowohl dem grundgesetzlichen Eigentumsschutz , als auch der Wahrung des Gleichheitssatzes genügt, setzt genauere Vorgaben voraus , wie ein solcher Systemwechsel erfolgen soll. So müssten beispielsweise Festlegungen über die anderen in der Rentenversicherung versicherten Risiken der Erwerbsminderung und die Hinterbliebenensicherung erfolgen. Insbesondere ist für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Änderungen im Rentenrecht erforderlich, welche Übergangsregelungen vorgesehen sind. 5. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Es stellt sich zuvörderst die Frage, ob die Regelung einer steuerfinanzierten Sockelrente unter die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG genannte Sozialversicherung fällt. Der Begriff der Sozialversicherung meint zunächst die vier klassischen Bereiche der gesetzlichen Versicherung gegen Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall. Nach heute allgemein anerkannter 8 Vgl. Papier. Die gesetzliche Rentenversicherung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand , 2. Auflage 2011, Kapitel 30 Rn. 1 ff., S. 739 ff. 9 BVerfGE 55, 72/88, 105, 73/110; 107, 205/214. 10 BVerfGE 129, 49 = NVwZ 2011, 1316. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 8 Auffassung wird der Begriff Sozialversicherung darüber hinaus als verfassungsrechtlicher Gattungsbegriff verstanden, der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt .11 Deshalb eröffnet die Kompetenz nach Nr. 12 dem Gesetzgeber grundsätzlich auch die Möglichkeit, das Sozialversicherungsrecht fortzuentwickeln und zu ändern.12 Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ermöglicht die Kompetenznorm die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem Sozialversicherung, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Bewältigung ihrer Durchführung dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist.13 Das Bundesverfassungsgericht setzt damit der Fortentwicklung im Rahmen des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zwei Grenzen:14 Es muss zunächst um die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit gehen.15 Weiterhin ist für die Sozialversicherung die Art und Weise, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird, kennzeichnend. Träger der Sozialversicherung sind selbständige Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts. Diese bringen ihre Mittel durch Beiträge vor allem von den Beteiligten im Rahmen der Solidargemeinschaft auf.16 Von einer Überschreitung der Grenze der Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in dem Sinne, dass von einer Bedarfsdeckung durch eine organisierte Vielheit nicht mehr die Rede sein kann, wird auszugehen sein, wenn eine Aufgabe der sozialen Sicherheit ausschließlich aus Mitteln der Allgemeinheit finanziert wird.17 Zwar ist für eine Einordnung als Sozialversicherung nicht erforderlich, dass der gesamte Bedarf aus Beiträgen gedeckt wird - in der Rentenversicherung gibt es, wie bereits dargestellt, Zuschüsse aus Bundesmitteln.18 Die Beurteilung verändert sich aber, wenn der Staat nicht nur Zuschüsse zu den Versicherungsaufwendungen aus Bundesmitteln bezahlt, sondern von der Teilfinanzierung zur Vollfinanzierung wechselt, da dann das Versicherungselement verloren geht.19 11 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 170. 12 Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, GG Art. 74 Rn. 105. 13 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 10. Mai 1960 – 1 BvR 190/58 –, BVerfGE 11, 105-126, Rn. 20; Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck/Oeter, 7. Aufl. 2018, GG Art. 74 Rn. 105. 14 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 171. 15 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 10. Mai 1960 – 1 BvR 190/58 –, BVerfGE 11, 105-126, Rn. 21; vergleiche auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 20. Dezember 1957 – 7 RKg 4/56 –, BSGE 6, 213-238, Rn. 68. 16 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 171. 17 Vgl. Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 173. 18 Degenhart in Sachs, 8. Aufl. 2018, GG Art. 74 Rn. 57; Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 173. 19 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 173; Degenhart in Sachs, 8. Aufl. 2018, GG Art. 74 Rn. 57. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 9 Der im vorliegenden Modell als steuerfinanzierte Grundrente auszuzahlende Sockelbetrag basiert nicht auf einer Beitragszahlung, sondern soll aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden. Nach den aufgezeigten Kriterien der Rechtsprechung dürfte die Einordnung einer solchen Regelung als Sozialversicherung im Sinne der Kompetenznorm damit nicht möglich sein.20 Eine Einordnung als Sozialversicherung kann auch nicht allein dadurch erreicht werden, dass die Leistungen formal über die sozialversicherungsrechtlichen Selbstverwaltungsträger abgewickelt werden, da die organisatorische Bewältigung der Aufgabe nur eines der begriffsbestimmenden Merkmale ist.21 Nach der überwiegenden Auffassung entspricht der Begriff des sozialen Versicherungsträgers in Art. 87 Abs. 2 GG sachlich dem in der Gesetzgebungskompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verwendeten Begriffs der (Träger der) Sozialversicherung.22 Die Aufgabenwahrnehmung durch die Rentenversicherungsträger würde daher nicht aufgrund von Art. 87 Abs. 2 GG möglich sein. Sollen die Rentenversicherungsträger dennoch Aufgaben im Rahmen einer steuerfinanzierten Sockelrente übernehmen, wäre dies - vorausgesetzt es finde sich eine andere Kompetenznorm als Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG - ohnehin lediglich gegebenenfalls im Wege der Organleihe oder eines gesetzlich begründeten öffentlich-rechtlichen Auftragsverhältnisses möglich.23 Es könnte sich die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ergeben , wenn die Regelung zur Sockelrente der öffentlichen Fürsorge unterfällt. Zunächst wird unter dem Begriff öffentliche Fürsorge die Hilfe durch öffentlich-rechtliche oder öffentlich-rechtlich beliehene Rechtsträger mit öffentlichen Mitteln an Personen, die sich weder selbst helfen können noch die erforderliche Hilfe von anderen erhalten, verstanden. Die Rechtsprechung, insbesondere auch die des Bundesverfassungsgerichts, ist bei der Auslegung des Begriffs aber weit über diese Definition hinausgegangen.24 Es können auch Zwangsmaßnahmen gegen Hilfsbedürftige25 - wie die zwangsweise Unterbringung in Anstalten - oder Zwangsmaßnahmen gegen andere - wie etwa 20 Dagegen für eine weitreichendere Auslegung des Begriffs „Sozialversicherung“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG: Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck Art. 74 Rn. 105: Der Ausschluss von rein steuerfinanzierten Systemen verkenne den Charakter der Sozialversicherung. Die Konstruktion als System der sozialen Umverteilung sei prägend für das System der Sozialversicherung. Der Versicherungscharakter und die Beitragsäquivalenz seien heute schon weitgehend Fiktionen und könnten damit schwerlich noch typusprägend sein. 21 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 173; so auch Merten, Die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht und die Grenzen der Verfassung, NZS 1998, S. 545, 546. 22 Burgi in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, GG Art. 87 Rn. 59; Hermes in Dreier GG, 3. Aufl. 2018, GG Art. 87 Rn. 56; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvL 23/81 –, BVerfGE 63, 1-44, Rn. 114. 23 So zum Kindererziehungsleistungsgesetz: von Einem, Das Kindererziehungsleistungsgesetz, NJW 1987, S. 3100, 3101. Zur Organleihe im Anwendungsbereich des Art. 87 Abs. 2 GG: Ibler in: Maunz/Dürig, 86. EL Januar 2019, GG Art. 87 Rn. 197. 24 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 106. 25 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 07. Oktober 1981 – 2 BvR 1194/80 –, BVerfGE 58, 208-233, Rn. 46. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 10 die Festlegung von Pflichtplatzquoten für die Beschäftigung Schwerbehinderter - unter den Begriff fallen.26 Der Kompetenztitel wurde weiterhin dahingehend erweiternd ausgelegt, dass auch vorbeugende Maßnahmen, die künftigen Fürsorgemaßnahmen vorgreifen sollen, darunter fallen können. 27 Eine Ausweitung hat der Begriff zusätzlich dadurch erfahren, dass es nicht mehr ausschließlich auf die Hilfsbedürftigkeit aufgrund einer wirtschaftlichen Notlage ankommen soll, sondern auch Ausgleichsmaßnahmen für andere Notlagen oder allgemein für besondere Belastungen gewährt werden können: 28 Das Bundesverfassungsgericht setzt für den Anwendungsbereich der öffentlichen Fürsorge voraus, dass eine besondere Situation zumindest potenzieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute (…) – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen (…) einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt.29 Allein das Erreichen einer Altersgrenze ist für die Annahme einer Bedarfslage für den Anspruch auf Gewährung einer sonst unabhängig von der finanziellen Situation zu leistenden Sockelrente jedoch nicht ausreichend. Insoweit fehlt dem Bund für eine solche bedarfsunabhängige Sockelrente die Gesetzgebungskompetenz, soweit sie sich ausschließlich aus Steuermitteln und nicht auch aus Sozialversicherungsbeiträgen finanziert.30 6. Auswirkungen auf die Finanzierung der staatlichen Alterssicherung und verschiedene Gruppen von Erwerbspersonen Im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen , der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands und des Familienbundes der Katholiken hat das ifo Institut für Wirtschaftsforschung in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in einer Studie das eingangs angesprochene Reformmodell der katholischen Verbände untersucht.31 Die zentralen Schlussfolgerungen der Studie können im Wesentlichen auf das nunmehr vorgeschlagene Modell der Einführung eines zweistufigen Systems staatlicher Renten aus Sockelrente zuzüglich einer aus den individuellen Beitragszahlungen folgenden Rente übertragen werden, auch wenn Details hierzu nicht bekannt sind. 26 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 106. 27 Degenhart in: Sachs, 8. Aufl. 2018, GG Art. 74 Rn. 36; Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 106. 28 Maunz in: Maunz/Dürig, 85. EL November 2018, GG Art. 74 Rn. 106 u. 112. 29 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 21.7.2015 – 1 BvF 2/13, BVerfGE 140, 65-99, Rn. 29 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 30 So auch Papier. Mindestsicherungselemente im System der Alterssicherung: Spielräume und Grenzen aus verfassungsrechtlicher Sicht. Deutsche Rentenversicherung, 1/2019, S. 3. 31 Werding, Hofmann, Reinhard. Das Rentenmodell der katholischen Verbände: ifo Forschungsberichte 34, ifo Institut für Wirtschaftsforschung, 2007. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 071/19 Seite 11 In der Studie sind Projektionen zur langfristigen finanziellen Entwicklung der staatlichen Alterssicherung nach einer Umsetzung des Sockelrentenmodells sowie Modellrechnungen zu den Verteilungseffekten angestellt worden. Dabei wurde im Wesentlichen festgestellt, dass zum einen die Auswirkungen auf die Alterssicherungssysteme begrenzt und zum anderen verschiedene Gruppen von Erwerbspersonen in anderer Weise betroffen seien, als nach dem geltenden System: So müssten Versicherte mit überdurchschnittlichen Einkommen in der Summe der Ansprüche auf Sockelrente und Leistungen der Arbeitnehmerpflichtversicherung Einbußen hinnehmen, während Versicherte mit unterdurchschnittlichen Einkommen entsprechend bevorzugt würden. Geringfügig beschäftigte verheiratete Frauen im rentennahen Alter hätten deutlich höhere Bezüge zu erwarten. Die Umverteilung würde besonders Arbeitnehmer mit mittleren bis etwas überdurchschnittlichen Einkommen belasten. Durch die Beitragsbemessungsgrenze hätten diese im Vergleich zum geltenden Recht bei höherer Abgabenbelastung im Alter geringere Leistungen zu erwarten, während Bezieher besonders hoher Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze verschont blieben. ***