© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 070/20 Zur Arbeitsfreistellung von Gewerkschaftsmitgliedern Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 070/20 Seite 2 Zur Arbeitsfreistellung von Gewerkschaftsmitgliedern Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 070/20 Abschluss der Arbeit: 11. August 2020 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 070/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Individualvertragliche Regelungen 4 3. Gesetzliche Regelungen 4 4. Tarifvertragliche Regelungen 5 5. Beamtenrechtliche Regelungen 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 070/20 Seite 4 1. Einführung Gewerkschaften kommt eine zentrale Rolle dabei zu, im Prozess freiheitlicher Interessenauseinandersetzung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern das Arbeitsleben zu ordnen und zu gestalten. Grundgesetzlich verankert ist die Betätigung von Gewerkschaften durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG). Die Koalitionsfreiheit gewährleistet das individuelle Freiheitsrecht des Einzelnen, sich mit anderen zu einer Koalition zusammenzuschließen, einem solchen Verband beizutreten, in ihm zu verbleiben sowie sich in ihm zu betätigen.1 Gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG besitzt die Koalitionsfreiheit eine unmittelbare Drittwirkung. Es sind also nicht nur Träger öffentlicher Gewalt sondern auch alle Privatrechtssubjekte an das Grundrecht gebunden.2 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rechte Mitglieder von Gewerkschaften auf Freistellung gegenüber dem Arbeitgeber haben, falls die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Aufgaben in die Arbeitszeit der Gewerkschaftsvertreter fällt. 2. Individualvertragliche Regelungen Durch den Arbeitsvertrag verpflichtet sich der Arbeitnehmer gemäß § 611a Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Grundsätzlich sind somit auch Gewerkschaftsvertreter verpflichtet, während der mit dem Arbeitgeber vereinbarten Arbeitszeit ihre Arbeitsleistung zu erbringen. Nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit kann von dieser Pflicht individualvertraglich abgewichen werden, indem im Arbeitsvertrag Vereinbarungen getroffen werden, die eine Arbeitsbefreiung für gewerkschaftliche Zwecke ermöglichen. 3. Gesetzliche Regelungen Daneben kann sich auch aus gesetzlichen Regelungen oder dem Grundrecht selbst ergeben, dass der Arbeitnehmer an der Arbeitsleistung verhindert ist. Zu der Frage, ob gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer nach Art. 9 Abs. 3 GG oder § 275 Abs. 3 BGB gesetzlich berechtigt sein können , von der Arbeit fernzubleiben, um gewerkschaftliche Ämter wahrzunehmen, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 Stellung bezogen und dies im Ergebnis verneint:3 Aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebe sich kein Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht . Mit Abschluss des Arbeitsvertrages verfüge der Arbeitnehmer in zulässiger Weise auch über Grundrechtspositionen und sage zu, im Rahmen der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit seine Arbeitskraft zu Verfügung zu stellen. Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit sei für sich betrachtet keine Abrede, welche die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsbetätigungsfreiheit unzulässig einschränkt oder behindert. Allerdings würden durch den Arbeitsvertrag auch vertragliche Rücksichtnahmepflichten gemäß § 241 Abs. 2 BGB begründet, die im Einzelfall vom 1 Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 90. Ergänzungslieferung 2/2020, Art. 9, Rn. 169. 2 Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 90. Ergänzungslieferung 2/2020, Art. 9, Rn. 171, 333. 3 BAG Beschluss vom 13. August 2010 - 1 AZR 173/09 - NZA-RR 2010, S. 640. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 070/20 Seite 5 Arbeitgeber eine Abwägung der wechselseitigen Interessen unter Einbeziehung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen - wie der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsbetätigungsfreiheit des Arbeitnehmers - verlange. Dies ist nach den Feststellungen des BAG etwa im Rahmen der Aufstellung von Schichtplänen der Fall. Auch ergebe sich für die Wahrnehmung von Gewerkschaftsämtern kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 3 BGB. Hiernach wird dem Schuldner einer persönlich zu erbringenden Leistung das Recht der Leistungsverweigerung eingeräumt, wenn ihm die Leistung unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Schuldners nicht zugemutet werden kann.4 Im Hinblick auf den Hinderungsgrund muss die Arbeitsleistung für den Arbeitnehmer nach Treu und Glauben unzumutbar sein. Aus § 616 Satz 1 BGB kann sich in solchen Fällen ein Entgeltfortzahlungsanspruch ergeben. Als persönlicher Hinderungsgrund dürfte die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Ämter jedoch nur in Betracht kommen , wenn dies ausdrücklich tarifvertraglich geregelt ist.5 4. Tarifvertragliche Regelungen In einem Tarifvertrag kann bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Freistellung von der Arbeit für gewerkschaftliche Zwecke möglich ist und somit der Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung über die Fälle des § 616 BGB hinaus erweitert wird. Bespielhaft können hierfür die tarifvertraglichen Regelungen des öffentlichen Dienstes herangezogen werden. So regeln sowohl der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst des Bundes (TVöD Bund) als auch der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) in § 29 Abs. 4 abschließend die bezahlte Freistellung von der Arbeit für gewerkschaftliche Zwecke. Nach § 29 Abs. 4 Satz 1 TVöD kann für die Teilnahme an einer Tagung der entsprechenden Gewerkschaftsgremien eine auf acht Werktage im Kalenderjahr begrenzte Arbeitsbefreiung gewährt werden. Unter Tagungen sind nur solche Zusammenkünfte zu verstehen, die der Erledigung satzungsgemäß vorgesehener Handlungen - insbesondere Beschlussfassungen - dienen.6 Die Arbeitsbefreiung richtet sich an gewählte Funktionsträger, nicht an einfache Mitglieder. Die Freistellung liegt im gebundenen Ermessen des Arbeitgebers. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 4 Satz 1 TVöD vor, kann eine Versagung der Freistellung daher nur erfolgen, wenn der Freistellung dringende dienstliche oder betriebliche Interessen entgegenstehen.7 § 29 Abs. 4 Satz 2 TVöD ermöglicht die Freistellung unter Fortzahlung des Entgelts für die Teilnahme an Tarifverhandlungen mit dem Bund oder den kommunalen Arbeitgeberverbänden. Für eine Arbeitsfreistellung zur 4 Ernst in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 2, 9. Auflage 2019, § 275, Rn. 112. 5 Link in: Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Auflage 2019, § 97 Rn. 4. 6 Hock, Arbeitsbefreiung bei Fortzahlung des Entgelts, Beitrag aus Haufe TVöD Office Professional, abrufbar im Internetauftritt von Haufe: https://www.haufe.de/oeffentlicher-dienst/tvoed-office-professional/arbeitsbefreiung -bei-fortzahlung-desentgelts-7-arbeitsbefreiung-fuer-gewerkschaftliche-zwecke-29abs4-tvoed_idesk _PI13994_HI710619.html (zuletzt abgerufen am 28. Juli 2020). 7 Nollert-Borasio in: Burger, Handkommentar TVöD – TV-L, 4. Auflage 2020, § 29 Rn. 26. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 070/20 Seite 6 Wahrnehmung anderer Termine für gewerkschaftliche Zwecke bietet § 29 Abs. 4 TVöD somit keine taugliche Grundlage. 5. Beamtenrechtliche Regelungen Für Bundesbeamte regelt § 15 der Sonderurlaubsverordnung (SUrlV) die Möglichkeit des Sonderurlaubs für gewerkschaftliche Zwecke unter Fortzahlung der Besoldung. Demnach besteht ein Anspruch auf Freistellung für jeweils bis zu fünf Arbeitstage im Kalenderjahr zur Teilnahme an einem überörtlichen Gewerkschaftsvorstand oder an Tagungen von Gewerkschaften. Die Wahrnehmung darüber hinausgehender Termine mit gewerkschaftlichem Bezug ist hiervon nicht umfasst . Auf Länderebene ist die Möglichkeit des Sonderurlaubs für gewerkschaftliche Zwecke in den entsprechenden Verordnungen der Länder geregelt.8 *** 8 Eine Übersicht hierzu ist abrufbar im Internetauftritt des DBB Beamtenbund und Tarifunion: https://www.dbb.de/fileadmin/pdfs/themen/sonderurlaub_gewerkschaft.pdf (zuletzt abgerufen am 4. August 2020).