Deutscher Bundestag Rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto während des Zweiten Weltkriegs Zwischen Entschädigung für erlittenes Unrecht und Anerkennung geleisteter Arbeit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2012 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-069/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 2 Rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto während des Zweiten Weltkriegs Zwischen Entschädigung für erlittenes Unrecht und Anerkennung geleisteter Arbeit Aktenzeichen: WD 6 – 3000-069/12 Abschluss der Arbeit: 30. April 2012 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 3 1. Zusammenfassung 4 2. Rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung 4 3. Einstufung der Beschäftigungen im Ghetto als nicht versicherte Zwangsarbeit 4 4. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997 zur Anerkennung von Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung für eine Beschäftigung im Ghetto Łódź 5 5. Erweiterung des berechtigten Personenkreises durch das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) 6 6. Richtlinie der Bundesregierung vom 1. Oktober 2007 über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für freiwillige Arbeit in einem Ghetto, die bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist 7 7. Abkehr von der restriktiven Anwendung des ZRBG durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 2. und 3. Juni 2009 und Überprüfung bestandskräftiger Ablehnungsbescheide 8 8. Die Rolle des Richters Dr. Jan-Robert von Renesse am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen 9 9. Neufassung der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie) vom 20. Dezember 2011. 10 10. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 7. und 8. Februar 2012 zur rückwirkenden Leistungsgewährung im Zusammenhang mit dem ZRBG 10 11. Kein längerer Nachzahlungszeitraum für Berechtigte nach dem ZRBG durch die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs 11 12. Möglichkeiten eines Ausgleichs für Berechtigte nach dem ZRBG, für die eine rückwirkende Rentenzahlung erst ab 2005 erfolgt ist. 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 4 1. Zusammenfassung Durch das erst im Jahre 2002 verabschiedete Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) ist die Anerkennung der von den Opfern nationalsozialistischer Zwangsherrschaft in den Ghettos erbrachten Arbeitsleistung nicht im Rahmen einer Entschädigungsleistung , sondern als von der Solidargemeinschaft der Rentenversicherung zu erbringende Leistung geregelt worden. Hintergrund ist die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1997, nach der für eine Beschäftigung im Ghetto Łódź unter bestimmten Voraussetzungen Beitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung vorliegen. Dies sollte nach dem Willen des Gesetzgebers für alle in den Ghettos Beschäftigten gelten und eine Rentenzahlung ab Juli 1997 ermöglichen. Bei der Umsetzung des ZRBG ist es zu verschiedenen Auslegungen der von der Gesetzgebung verabschiedeten Regelungen seitens der Rentenversicherungsträger und der Sozialgerichtsbarkeit gekommen, die erst im Jahre 2009 endgültig geklärt werden konnten. Die Rentenversicherungsträger haben sich bei der Prüfung der Anträge davon leiten lassen, dieselben Maßstäbe an die Glaubhaftmachung von Tatsachen und die Anforderungen an eine Beschäftigung zu setzen, die für die Anerkennung von Beitragszeiten nach den übrigen rentenrechtlichen Regelungen gelten. Dabei haben sie die tatsächlichen Lebensumstände in den Ghettos nicht hinreichend gewürdigt. Letztlich ist der Umstand, dass die meisten nach dem ZRBG Berechtigten erst ab 2005 eine Rentenleistung erhalten können, auf die zunächst unterschiedliche Rechtsauslegung zurückzuführen. Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung haben nach der vom Grundgesetz vorgegebenen Ordnung gehandelt. Eine von der heutigen Rechtslage abweichende rentenrechtliche Anerkennung der Beschäftigung in einem Ghetto könnte nur durch eine erneute gesetzliche Regelung erfolgen. 2. Rentenrechtliche Berücksichtigung von Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung Für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) war im Rentenrecht zunächst die Anrechnung von Ersatzzeiten vorgesehen. Ersatzzeiten sind beitragsfreie Zeiten, in denen eine Beitragszahlung aus von den Versicherten nicht zu vertretenden Gründen ausblieb, die aber dennoch anspruchsbegründend und rentensteigernd zu berücksichtigen sind. Die Anerkennung von Ersatzzeiten wegen nationalsozialistischer Verfolgung nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) setzt unter anderem voraus , dass Versicherungspflicht nicht bestanden hat, das 14. Lebensjahr vollendet war und die Versicherteneigenschaft vorliegt. Hierfür muss mindestens ein Beitrag zur deutschen Rentenversicherung gezahlt worden sein. Weitere Regelungen zur rentenrechtlichen Berücksichtigung von Verfolgungszeiten sind mit dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 eingeführt worden, das vor allem die Möglichkeit der Nachzahlung von Beiträgen für Verfolgungszeiten vorsah. 3. Einstufung der Beschäftigungen im Ghetto als nicht versicherte Zwangsarbeit Nach dem deutschen Überfall auf Polen sind in den annektierten, dem Deutschen Reich angegliederten Gebieten wie um Łódź und dem als Generalgouvernement bezeichneten übrigen von Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 5 deutschen Truppen besetzten polnischem Territorium bereits Ende 1939 so genannte jüdische Wohnbezirke als Ghettos eingerichtet worden. Nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion geschah dies auch in Osteuropa, dem Baltikum und auf dem Balkan. Dabei gab es keine generelle Gemeinsamkeit über Größe und Zusammensetzung der Ghettos und die gegenüber ihren Bewohnern ausgeübte Willkür und Gewalt. So waren nicht alle Ghettos hermetisch von angrenzenden Gebieten abgeriegelt. Nach der politischen Wende in Osteuropa in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahm die Erforschung der näheren Umstände über das Leben und die in den Ghettos verrichtete Arbeit einen ungeahnten Aufschwung.1 Von den Rentenversicherungsträgern sind Anträge Betroffener, die Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen, zuvor gewöhnlich abgelehnt worden, weil nicht von einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgegangen wurde. Diese hätte eine auf einem Beschäftigungsverhältnis beruhende Beschäftigung gegen Entgelt vorausgesetzt. Die Beschäftigung in einem Ghetto wurde regelmäßig als Zwangsarbeit charakterisiert, die nicht der Rentenversicherungspflicht gemäß §§ 1226, 1227 der Reichsversicherungsordnung (RVO a.F.) unterlag und für die mangels gesetzlicher Grundlage keine Beitragszeiten anerkannt werden konnten. Für die Entschädigung geleisteter Zwangsarbeit waren Regelungen außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung, unter anderem das Stiftungsgesetz "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ", getroffen worden. So entschied auch das Bundessozialgericht am 4. Oktober 19792: „Zwangsarbeiten ohne Entgelt, zu denen ein in einem Ghetto festgehaltener rassisch Verfolgter herangezogen worden ist, stellen keine Beschäftigung … dar. Ein Beschäftigungsverhältnis entsteht regelmäßig auf freiwilliger Basis; außerdem wird dem Beschäftigten eine Entlohnung gewährt . Das ist bei Zwangsarbeitern nicht der Fall.“ Auch eine Anerkennung als Beitrags- oder Beschäftigungszeit nach dem Fremdrentengesetz (FRG) kam aufgrund der nicht gegebenen Versicherungspflicht nicht in Betracht. Aufgrund der Zugehörigkeit zum Personenkreis des BEG lag lediglich ein Tatbestand für die Anerkennung als Ersatzzeit vor, der sich nur auswirken konnte, wenn durch eine sonstige Beitragszahlung zur deutschen Rentenversicherung ein Versicherungsverhältnis bestand. 4. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997 zur Anerkennung von Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung für eine Beschäftigung im Ghetto Łódź In der nachfolgenden Zeit änderte sich die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Mit den Urteilen vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 und 5 RJ 68/95 – wurde entschieden, dass Zeiten einer entgeltlichen Beschäftigung im ehemaligen Ghetto Łódź als Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen sind. In Łódź galt das deutsche Rentenrecht erst ab 1942. Bis 1941 erfolgte die Anerkennung deshalb nach dem FRG. 1 Zum Stand der historischen Forschung vgl. Pohl, Dieter: „Ghettos im Holocaust“ in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik , Rechtsprechung und historische Forschung, hrsg. von Zarusky, Jürgen, München 2010, Oldenbourg, S. 39 ff. 2 Az. 1 RA 95/78. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 6 Obwohl es sich um Einzelfallentscheidungen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände handelte,3 wurden die vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätze in der darauffolgenden Zeit generell angewandt und auf entsprechende Arbeitseinsätze in anderen Ghettos geprüft. Die Berücksichtigung von Beitragszeiten für eine Beschäftigung in einem Ghetto war allerdings nur möglich, soweit es sich um reichsgesetzliche Beitragszeiten handelte oder eine Anerkennung nach dem FRG in Betracht kam. Die meisten Ghettos lagen außerhalb des Deutschen Reichs einschließlich der annektierten Gebiete, so dass die besonderen Voraussetzungen für eine Anrechnung nach dem FRG zu prüfen waren. Hierzu gehörte unter anderem nach §§ 1, 17a FRG die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Für etwa 95 Prozent der Ghettoinsassen konnten daher auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keine Zeiten nach dem FRG angerechnet werden.4 Die Rentenzahlung aus den Beitragszeiten aus einer Beschäftigung in einem Ghetto war darüber hinaus nur sehr eingeschränkt ins Ausland möglich, insbesondere wenn – wie in den meisten Fällen - keine oder nur wenige Beitragszeiten nach Bundesrecht vorliegen.5 5. Erweiterung des berechtigten Personenkreises durch das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) Das im Juni 2002 vom deutschen Bundestag verabschiedete ZRBG sah in erster Linie Erleichterungen für die Zahlung von Renten ins Ausland, die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997 auf Beitragszeiten aufgrund einer Beschäftigung in einem Ghetto beruhen , vor. Die Antragstellung auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wurde fiktiv auf den Tag der Entscheidung des Bundessozialgerichts festgesetzt und damit eine rückwirkende Gewährung ab Juni 1997 ermöglicht. Die mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorgegebenen Voraussetzungen für die Anerkennung von Beitragszeiten zur Rentenversicherung für eine Beschäftigung in einem Ghetto wurden in das ZRBG übernommen. Danach liegen Beitragszeiten weiterhin nur vor, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist und gegen Entgelt ausgeübt wurde. Dagegen kam es für Insassen außerhalb des Geltungsbereichs der reichsgesetzlichen Regelungen liegender Ghettos nicht mehr auf Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis der Beschäftigten an. Die Beiträge sind für die Rentenberechnung denen nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets gezahlten Beiträgen aufgrund einer Fiktion gleichgestellt. Die Leistungserbringung ins Ausland wird durch die Geltung der Beiträge, als wären sie für eine Beschäftigung im Bundesgebiet gezahlt worden, ermöglicht. Aufgrund des ZRBG sind bei den Rentenversicherungsträgern rund 70.000 Anträge, überwiegend von Antragstellern mit Wohnsitz in Israel und den USA eingegangen. Hiervon wurden rund 95 3 Strassfeld, Elisabeth „Anspruch auf Rente aufgrund Ghettoarbeit“ in: Die Sozialgerichtsbarkeit, 2007, S. 598. 4 U. a. Lehnstaedt, Stephan: Geschichte und Gesetzesauslegung – Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Fibre, Osnabrück 2011, S. 13. 5 Vgl. §§ 113, 272 SGB VI. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 7 Prozent meist mit der Begründung abgelehnt, die Angaben der Antragsteller seien nicht glaubhaft , widersprüchlich in Bezug auf die alten Entschädigungsakten der 1950er und 1960er Jahre oder unzureichend.6 Weiterhin gingen die Rentenversicherungsträger regelmäßig davon aus, dass es sich bei den Beschäftigungen in den Ghettos um nicht versicherte Zwangsarbeit handele, also diese nicht aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen und nicht gegen Entgelt ausgeübt worden sei. In der nachfolgenden Zeit kam es zu einer Vielzahl sozialgerichtlicher Verfahren, in denen die Ablehnungsbescheide der Rentenversicherungsträger in erstinstanzlichen Urteilen zu über 90 Prozent bestätigt wurden.7 Eine historische Aufarbeitung der Lebens- und Arbeitsumstände in den Ghettos durch Sachverständige und persönliche Anhörungen folgte erst in den anschließenden Berufungs- und Revisionsverfahren und dauert noch an.8 Zunächst war die höchstrichterliche Rechtsprechung der einzelnen Senate des Bundessozialgerichts nicht einheitlich. Während der 13. Senat im ZRBG eine Ergänzung der rentenrechtlichen Regelungen gesehen und damit die restriktive Anwendung bejaht hatte, kam der 4. Senat zu einer für die Betroffenen günstigeren Auslegung des ZRBG, das eine selbständige vom sonstigen Rentenrecht losgelöste Entschädigungsregelung darstelle.9 6. Richtlinie der Bundesregierung vom 1. Oktober 2007 über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für freiwillige Arbeit in einem Ghetto, die bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist Vor dem Hintergrund der sehr hohen Ablehnungsquote der Anträge nach dem ZRBG hat die Bundesregierung die Richtlinie vom 1. Oktober 2007 erlassen. Als humanitäre Geste sah die Richtlinie Einmalzahlungen in Höhe von 2.000 EUR für frühere Beschäftigte in einem Ghetto vor. Die Einmalzahlung tritt neben die Leistungen aus dem Stiftungsgesetz "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" über die Entschädigung von Zwangsarbeit. Sie richtet sich an jene Verfolgte, deren Tätigkeit in einem Ghetto nicht alle Merkmale eines rentenrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses erfüllt. Bis zum Jahre 2010 sind beim für die Auszahlung der Anerkennungsleistung zuständigen Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen 55.335 Anträge eingegangen.10 In etwa drei Viertel der Anträge waren die Voraussetzungen für die Zahlung der Anerkennungsleistung erfüllt, so dass entsprechende Bewilligungsbescheide erteilt werden konnten. 6 von Renesse, Jan-Robert „Wiedergutmachung fünf vor zwölf“ in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hrsg. von Zarusky, Jürgen, München 2010, Oldenbourg, S. 15. 7 Lehnstaedt, a. a. O. S. 65. 8 Platt, Kristin: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit – Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten -Verfahren, München 2012, Fink, S. 35 ff. 9 BSG Urteile Az. B 13 RJ 59/03 R, B 4 R 29/06 R; Platt, S. 74 ff. 10 Geschäftsbericht des Bundesamtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen 2010, S. 28. Abrufbar im Internet unter http://www.badv.bund.de/003_menue_links/a1_ueber_uns/p0_geschaeftsberichte/BADV_ Geschaeftsbericht_2010.pdf (zuletzt abgerufen am 30. April 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 8 Aufgrund der Richtlinie der Bundesregierung hat der Deutsche Bundestag am 5. März 2009 beschlossen , eine Petition, mit der die restriktive Auslegung des ZRBG kritisiert und und eine Ergänzung des Gesetzes gefordert wird, abzuschließen, weil dem Anliegen zumindest teilweise entsprochen wurde. 7. Abkehr von der restriktiven Anwendung des ZRBG durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 2. und 3. Juni 2009 und Überprüfung bestandskräftiger Ablehnungsbescheide In fünf Revisionsentscheidungen hat das Bundessozialgericht zugunsten der Betroffenen entschieden und insbesondere die Anforderungen an den Entgeltbegriff und die Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme den im Laufe der Zeit deutlich hervorgetretenen historischen Realitäten in den Ghettos angepasst.11 So ist als Entgelt im Sinne des ZRBG nunmehr jegliche Entlohnung in jeder Form und Höhe heranzuziehen. Die Kriterien der Reichsversicherungsordnung für die Annahme einer Versicherungspflicht sind nicht mehr zu beachten. Eine einen eigenen Willensentschluss im Sinne des ZRBG ausschließende Zwangsarbeit liegt nur noch vor, „wenn ein Betroffener von hoher Hand zu einer spezifischen Arbeit gezwungen wurde und weder das Ob noch das Wie der Arbeit beeinflussen kann.“12 Nicht bestandskräftige Ablehnungsbescheide sind aufgrund der neuen Rechtsprechung darauf zu überprüfen, ob nunmehr doch Zeiten nach dem ZRBG vorliegen. Gegebenenfalls kommt eine rückwirkende Rentengewährung in Betracht, die bis zum 1. Juni 1997 zurückreichen kann. Problematisch stellt sich die Situation dar, wenn die Ablehnungsbescheide bestandskräftig geworden sind, weil gegen den Ablehnungsbescheid kein Widerspruch eingelegt wurde oder nach abschlägiger erstinstanzlicher sozialgerichtlicher Entscheidung keine Berufung- oder Revision eingelegt wurde. Sind die Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto nach der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu berücksichtigen, ist ein zuvor erteilter bestandskräftiger unanfechtbarer Ablehnungsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 44 Abs. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen. Für die Rentenversicherung schränkt § 100 Abs. 4 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) die Rücknahme für die Vergangenheit jedoch ein: So ist ein Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, grundsätzlich nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Beginn des Kalendermonats nach Wirksamwerden der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Die aufgrund von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto zu zahlenden Renten könnten danach frühestens im Juli 2009 beginnen. Die Deutsche Rentenversicherung hat jedoch vor dem Hintergrund des Verfolgungsschicksals der Betroffenen nicht die besondere rentenrechtliche Regelung des § 100 Abs. 4 SGB VI, sondern die im allgemeinen Sozialrecht geltende rückwirkende Leistungserbringung von vier Kalenderjahren nach § 44 Absatz 4 SGB X anwendet. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dürfe 11 Entscheidungen des BSG vom 2. und 3. Juni 2009, Az.: B 13 R 81/08, B 13 R 85/08 R, B 13 R 139/08 R, B 5 R 26/08 R und B 5 R 66/08 R. 12 Röhl, Matthias „Die Kehrtwende von Kassel: Das Bundesozialgericht erfindet das Ghettobeschäftigungsverhältnis neu“ in: Die Sozialgerichtsbarkeit 2009. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 9 im Geltungsbereich des ZRBG nicht allein auf Wortlaut beziehungsweise Sinn und Zweck einer rentenrechtlichen Regelung abgestellt werden. Die jeweilige Rechtsnorm sei in einem rechtlichen Gesamtzusammenhang mit dem ZRBG zu betrachten und ihre Anwendung im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte sowie den Sinn und Zweck des ZRBG besonders kritisch zu prüfen.13 Dies führt bei den ab Mitte 2009 vorgenommenen Überprüfungen nach § 44 SGB X zu einer rückwirkenden Zahlung der Renten für vier Jahre ab Januar 2005. Die Nachzahlung der Rentenbeträge bis 2004 ist materiell-rechtlich ausgeschlossen und gilt unabhängig davon, ob den Rentenversicherungsträger ein Verschulden trifft. 8. Die Rolle des Richters Dr. Jan-Robert von Renesse am Landessozialgericht Nordrhein- Westfalen Die sozialgerichtliche Überprüfung der restriktiven Umsetzung des ZRBG, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, wurde mehrfach von den Medien thematisiert.14 Erwähnung fand dabei Dr. Jan-Robert von Renesse, der als Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen von 2006 bis zum Frühjahr 2010 für die Berufungsverfahren zuständig war, und andere Wege zur Klärung der Anerkennung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto in der gesetzlichen Rentenversicherung beschritt. So ermittelte er im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit zur Aufklärung der Sachverhalte über das von anderen Richtern veranlasste Maß hinaus und entschied über die Klagen der Antragsteller nicht anhand der in den Akten vorliegenden Fragebögen, sondern traf Überlebende in Israel und gab zahlreiche wissenschaftliche Gutachten über das Leben in den Ghettos in Auftrag. Damit stieß er auf Unverständnis und Ablehnung seiner Kollegen, die ihrerseits ihre richterliche Unabhängigkeit berührt sahen.15 Die acht von ihm unternommenen Dienstreisen rechtfertigte er damit, dass viele Überlebende in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen lebten und sich einen Flug nach Deutschland nicht leisten konnten. Außerdem wäre es für sie unzumutbar gewesen, das Land der Täter wieder zu betreten , so dass so gut wie nie eine direkte Kommunikation zwischen dem Gericht und den Überlebenden stattgefunden hätte. Die persönlichen Anhörungen von Überlebenden in Israel haben ihm international hohes Ansehen gebracht und führten zu einer Einladung der Knesseth in Jerusalem. In etwa 60 Prozent der Fälle kam es in den von Richter Renesse durchgeführten Berufungsverfahren zur Anerkennung der Beschäftigungszeiten. Letztlich bestätigte das Bundessozialgericht die Abkehr von der restriktiven Anwendung des ZRBG nicht zuletzt aufgrund der auf seine Veranlassung in den Berufungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse. 13 Bundestags-Drucksache 17/6648. 14 Z. B.: Der Spiegel, 5/2011 „Rüge aus Jerusalem“, abrufbar im Internet unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-76659494.html (zuletzt abgerufen am 3. Mai 2012), Tageschau am 16. November 2011 „In Israel gefeiert, in Deutschland nicht befördert“, abrufbar im Internet unter http://www.tagesschau.de/inland/renesse100.html (zuletzt abgerufen am 3. Mai 2012), Westfälischer Anzeiger vom 22. November 2011 „Untreuevorwürfe gegen Richter“, abrufbar im Internet unter http://www.wa.de/nachrichten/nordrhein-westfalen/untreuevorwuerfe-gegen-richter-1501304.html (zuletzt abgerufen am 3. Mai 2012). 15 Lehnstaedt, a. a. O. S. 100. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 10 9. Neufassung der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie) vom 20. Dezember 2011. Die Richtlinie der Bundesregierung vom 1. Oktober 2007 über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für freiwillige Arbeit in einem Ghetto, die bisher ohne sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung geblieben ist, war vor dem Hintergrund der sehr hohen Ablehnungsquote der Anträge nach dem ZRBG 2002 erlassen worden und beinhaltete für den Erhalt der Anerkennungsleistung im Vergleich zum ZRBG wesentlich leichtere Voraussetzungen. Die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts durch die Urteile vom 2. und 3. Juni 2009 führte zu einer Anpassung der Anspruchsvoraussetzungen des ZRBG auf das Niveau der Richtlinie und einer Überprüfung der zuvor abgelehnten Anträge durch die Deutsche Rentenversicherung. Dies wirkte sich auf die weitere Durchführung der Richtlinie vom 1. Oktober 2007 aus, da die Anerkennungsleistung zurückzuzahlen war, wenn für identische Zeiträume und Beschäftigungen eine Rente aufgrund des ZRBG bewilligt wurde. Die Rückzahlung hatte auch dann zu erfolgen, wenn die bewilligte Rente weit unter der Anerkennungsleistung von 2.000 Euro blieb. Die Richtlinie ist aus diesem Grunde neu gefasst worden, so dass eine rentenrechtliche Berücksichtigung der Beschäftigung im Ghetto der Zahlung der Anerkennungsleistung nicht mehr entgegensteht.17 Mit der Neufassung der Richtlinie wurde auch die ursprünglich festgelegte Frist für die Antragstellung aufgehoben. Damit können Anträge auf Gewährung der Anerkennungsleistung auch über den 31. Dezember 2011 hinaus weiterhin gestellt werden. 10. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 7. und 8. Februar 2012 zur rückwirkenden Leistungsgewährung im Zusammenhang mit dem ZRBG Wurde ein fristgerecht bis zum 30. Juni 2003 gestellter Antrag zunächst bestandskräftig abgelehnt und aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 2. und 3. Juni 2009 überprüft, haben die Rentenversicherungsträger gegebenenfalls nachträglich zu bewilligende Renten in Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X längstens für vier Jahre rückwirkend gezahlt. 17 Neufassung der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie)", abrufbar im Internet unter http://www. badv.bund.de/003_menue_links/f0_ghetto/BAnz_Anerkennungsrichtlinie.pdf, (zuletzt abgerufen am 30. April 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 11 Die Anwendung der Vierjahresfrist hat das Bundessozialgericht als mit dem geltenden Recht übereinstimmend bestätigt und keinen Verstoß gegen das Grundgesetz gesehen.18 Der Gesetzgeber habe mit dem ZRBG zur Wiedergutmachung erlittenen Unrechts Rentenzeiten, die mit in einem Ghetto verrichteter Arbeit erworben wurden, unabhängig von weiteren Voraussetzungen (insbesondere nach dem FRG) als Regelaltersrente zahlbar gemacht. Anders als etwa bei der Zuerkennung eines festen Entschädigungsbetrags handele es sich damit bei den auf der Grundlage des ZRBG gezahlten Leistungen um Renten, die dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem SGB VI folgen. Die aus dieser Konzeption folgenden Konsequenzen, wie etwa im vorliegenden Fall aus der Bestandskraft eines ablehnenden Bescheids, träten bei allen Renten ein. Ein über vier Jahre hinausgehender Nachzahlungszeitraum kommt somit nur in Betracht, wenn über einen vorher gestellten Antrag nach dem ZRBG noch nicht bestandskräftig entschieden wurde, also das Rentenverfahren oder ein daran anschließendes sozialgerichtliches Verfahren noch nicht abgeschlossen war. 11. Kein längerer Nachzahlungszeitraum für Berechtigte nach dem ZRBG durch die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch besteht, wenn eine dem Sozialleistungsträger zuzurechnende Verletzung einer Nebenpflicht ursächlich zu einem rechtlichen Nachteil oder Schaden beim Leistungsberechtigten geführt hat und die Herstellung des Zustands, der ohne die Pflichtverletzung eingetreten wäre, rechtlich möglich ist.19 Beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch handelt es sich um eine vom Bundessozialgericht im Wege der Rechtsfortbildung entwickelte besondere Haftung für die Folgen pflichtwidrig unterlassener oder mangelhafter Beratung durch einen Sozialleistungsträger und füllt die Lücke zwischen der verfahrensrechtlichen Korrekturvorschrift des § 44 SGB X und dem Amtshaftungsanspruch aus Art 34 GG i. V. m. § 839 BGB. Gegebenenfalls besteht ein Anspruch auf Herstellung des Zustands, der bestehen würde, wenn die Beratungs- oder Aufklärung fehlerfrei erfolgt wäre. Dabei kommt es im Gegensatz zum sonstigen Staatshaftungsrecht nicht darauf an, ob die Pflichtverletzung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde. Die Erbringung der zutreffenden Sozialleistungen gehört zu den Hauptpflichten der Sozialleistungsträger , die als vollziehende Gewalt nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind. Stellt sich nachträglich - beispielsweise durch höchstrichterliche Rechtsprechung - heraus, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, ist ein aus diesem Grunde rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt nach § 44 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dabei können Sozialleistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X längstens für einen Zeitraum von vier Jahren rückwirkend erbracht werden. Besteht ein Anspruch auf Rücknahme 18 BSG Az. B 13 R 40/11 R und B 13 R 72/11 R. 19 Krumnack, Heinz (2011): Auskunft und Beratung. In: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand, Kapitel 22, Rd. 29 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 12 eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes kommt ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht in Betracht.20 Die rechtswidrige Ablehnung der Beschäftigungszeiten in einem Ghetto nach dem ZRBG in der gesetzlichen Rentenversicherung stellt keine Verletzung einer Nebenpflicht, sondern vielmehr die Verletzung einer Hauptpflicht dar. Die nachträgliche Anerkennung der Ghetto-Beitragszeiten ist deshalb im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 2. und 3. Juni 2009 erfolgt.21 Insoweit besteht für die Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kein Raum. Im Übrigen ist die Begrenzung rückwirkender Leistungsgewährung auf vier Jahre bei einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch analog anzuwenden.22 Die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers würde ansonsten weiter reichen als die Folgen der Verletzung einer Hauptpflicht , nämlich im Überprüfungsfall des § 44 SGB X eine rückwirkenden Leistungsgewährung von höchstens vier Jahren. Sowohl bei der nachträglichen Korrektur eines bindenden belastenden Verwaltungsakts als auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch besteht eine vergleichbare Interessenlage. In beiden Fällen wird vom Leistungsträger das Recht unrichtig angewandt , und in beiden Fällen hat dies zur Folge, dass der Leistungsberechtigte nicht die ihm zustehende Leistung erlangt und der Leistungsträger gleichermaßen zur Korrektur verpflichtet ist. Auf ein Verschulden des Leistungsträgers kommt es hier wie dort nicht an; auch der Umfang seiner Verpflichtung ist grundsätzlich der gleiche. Aus diesen Gründen kann es für den zeitlichen Umfang der rückwirkenden Leistung nicht wesentlich sein, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt oder er aus anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss hat kommen lassen; der Berechtigte ist im letzteren Fall keinesfalls schutzwürdiger als im ersten. Die Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen erfordert daher die Gleichbehandlung.23 Auch bei Annahme eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergäbe sich für die Berechtigten nach dem ZRBG kein längerer Nachzahlungszeitraum. 12. Möglichkeiten eines Ausgleichs für Berechtigte nach dem ZRBG, für die eine rückwirkende Rentenzahlung erst ab 2005 erfolgt ist. Anlässlich der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom Juni 2009 erfolgten Überprüfung und inzwischen erfolgten Rücknahme zuvor erteilter bestandskräftiger Ablehnungsbe- 20 Steinwedel, Ulrich: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht. 72. Auflage 2011. Kommentierung zu § 44 SGB X. Rn 16. 21 Vgl. Ziff. 6. 22 Heidemann, Jörg „Zur Anwendbarkeit der Vierjahresfrist des § 44 Absatz 4 SGB X auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch“ in: Deutsche Rentenversicherung 9/2004, S 532 ff. 23 BSG Az. B 13 R 34/06 R u. a. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 13 scheide ist die Anwendung der auf vier Jahre begrenzten Nachzahlung nach § 44 Abs. 4 SGB X zwingend und im Februar 2012 in letzter Instanz bestätigt worden.24 Eine über das ZRBG in Verbindung mit den rentenrechtlichen Vorschriften hinausgehende finanzielle Anerkennungsleistung für die Beschäftigung in einem Ghetto ist außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung bereits mit den Richtlinien der Bundesregierung vom 1. Oktober 2007 und 20. Dezember 2011 als Einmalzahlung geregelt worden. Durch eine Ausweitung dieser Anerkennungsleistung für diejenigen, die erst ab dem Jahr 2005 eine Rentenleistung mit Zeiten nach dem ZRBG erhalten und deshalb aufgrund der langen rechtlichen Klärung Nachteile erlitten haben, wäre ein Ausgleich denkbar. Für einen solchen Ausgleich innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung bedarf es der Änderung bzw. Ergänzung der gesetzlichen Regelungen, die für alle Berechtigten eine Rentenzahlung unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto nach dem ZRBG rückwirkend ab 1997 ausdrücklich vorsieht. Ein darauf abzielender Antrag befindet sich derzeit in der parlamentarischen Prüfung25. Das Rentenrecht kennt mehrere Ausnahmen von der Anwendung der Vierjahresfrist aus § 44 Abs. 4 SGB X. Eine Rentennachzahlung über den Zeitraum von vier Jahren hinaus ist in bestimmten jeweils im Gesetz ausdrücklich genannten Fällen, in denen eine Neufeststellung von Renten aufgrund nachträglicher Rechtsänderungen durchzuführen war, vorgesehen .26 Dies wäre somit auch für die Berechtigten nach dem ZRBG grundsätzlich nicht ausgeschlossen . Gegen eine Neuregelung spricht jedoch, dass sich aufgrund des späteren Rentenbeginns zum Teil erhebliche Rentenbeträge durch einen erhöhten Zugangsfaktor nach § 77 SGB VI ergeben. Der Zugangsfaktor richtet sich nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn und bewirkt eine Erhöhung der monatlichen Rente für jedes Jahr, in dem eine Altersrente trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch genommenen wurde, um sechs Prozent. Ergibt sich rechnerisch für einen vor 1932 geborenen Berechtigten aus den rentenrechtlichen Zeiten inklusive der Beschäftigungszeiten in einem Ghetto eine monatliche Rente von 100 Euro, erhöht sich dieser Betrag, wenn die Regelaltersrente erst ab 2005 zu zahlen ist, um (8 x 6 =) 48 Prozent auf 148 Euro im Monat. Die zwischenzeitlichen Rentenanpassungen sind für diese Beispielrechnung aus Vereinfachungsgründen nicht berücksichtigt. Sollte es nachträglich zu einer Rentengewährung ab 1997 kommen, würde sich die monatliche Rente auf 100 Euro verringern. Insoweit käme der Berechtigte zwar in den Genuss einer Nachzahlung für die Zeit von 1997 bis 2004 von (8 x 12 x 100 =) 9.600 Euro, müsste aber hinnehmen, dass sich seine Rente ab 2005 fortlaufend um 48 Euro im Monat mindert. Aufgrund des nicht mehr erhöhten Zugangsfaktors wäre die bereits erfolgte Rentenzahlung durch die erneute Rentenbewilligung zum 1. Juli 1997 ab 2005 überzahlt. Die Überzahlung wäre mit der Nachzahlung zu verrechnen. Inwieweit ein geringerer Zugangsfaktor die Höhe der laufenden monatlichen Rente mindert und welcher Nachzahlungsbetrag den Berechtigten durch die Verrechnung letztlich verbleibt, hängt 24 Vgl. Fußnote 18. 25 Vgl. Bundestags-Drucksache 17/7985. 26 Vgl. § 307b Abs. 2 SGB VI, § 309 Abs. 1 und 1a SGB VI und Art. 16 Abs. 6 Rü-ErgG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 14 vom Alter sowie von den individuellen Versicherungsverläufen ab und kann nicht generell bestimmt werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-069/12 Seite 15 Literaturverzeichnis: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, Luchterhand 2011 Glatzel, Brigitte „Voraussetzungen für Rentenzahlungen an Ghettoarbeiter – Klärung durch die Entscheidungen des BSG vom 2./3.6.2009“ in: NJW 2010, 1178 Heidemann, Jörg „Zur Anwendbarkeit der Vierjahresfrist des § 44 Absatz 4 SGB X auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch “ in: Deutsche Rentenversicherung 9/2004, S 532 Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 72. Auflage 2011. Lehnstaedt, Stephan: Geschichte und Gesetzesauslegung – Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Fibre, Osnabrück 2011 Platt, Kristin: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit – Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten -Verfahren, Fink, München 2012 von Renesse, Jan-Robert „Wiedergutmachung fünf vor zwölf- Die Sozialgerichtsbarkeit und die Rentenansprüche jüdischer Ghettoüberlebender“ in: NJW, 2008, 2037 und „(Zu) späte Gerechtigkeit für Ghettoarbeiter?“in: ZRP 2008,18 Röhl, Matthias „Die Kehrtwende von Kassel: Das Bundesozialgericht erfindet das Ghettobeschäftigungsverhältnis neu“ in: Die Sozialgerichtsbarkeit 2009, 464 Strassfeld, Elisabeth „Anspruch auf Rente aufgrund Ghettoarbeit“ in: Die Sozialgerichtsbarkeit, 2007, 598 Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, Oldenbourg, München, 2010