© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 068/18 Leistungsausschluss von der Grundsicherung nach SGB II für Personen unter 50 Jahren Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Diese reichen von Einführung eines bedingungslosen bzw. solidarischen Grundeinkommens bis hin zu strengeren Leistungskürzungen für Hartz-IV Empfänger, wenn Auflagen nicht erfüllt werden, z. B. bei der Nichteinhaltung von Terminen .1 Gegenstand dieses Sachstandes ist der Vorschlag, dass arbeitsfähige Personen unter 50 Jahren keine grundsichernden Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II – Grundsicherung für Arbeitssuchende) erhalten sollen. Es wird erläutert, ob eine Regelung, die nur Personen über 50 Jahren Leistungen nach dem SGB II gewährt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. 2. Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Februar 2010 hat jeder Mensch einen Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dies beinhaltet, dass jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zuzusichern sind, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.2 Das BVerfG stellt an den Gesetzgeber die Anforderung, zur Konkretisierung dieses subjektiven Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums alle notwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf zu bemessen. Zwar hat der Gesetzgeber einen Spielraum, wie er die Anforderungen an ein Existenzminimum einhält, jedoch ist durch das BVerfG kontrollierbar, ob die gesetzlich gewählte Methode hinter dem Existenzminimum zurückbleibt. Das BVerfG kann dann überprüfen, ob die Leistung evident unzureichend ist. 3 1 Auswahl an Presseartikeln unter den folgenden Links: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/hartz-iv-ideen-derspd -verschrecken-die-wirtschaft-15517590.html; https://www.morgenpost.de/berlin/article214136677/Muellerlehnt -schaerfere-Sanktionen-fuer-Hartz-IV-Empfaenger-ab.html, http://www.deutschlandfunk.de/cdu-politikerzu -hartz-iv-aenderungen-ja-abschaffung-nein.694.de.html?dram:article_id=414172 (letzter Abruf jeweils: 22.06.2018). 2 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 3/09, 4/09, Rn. 133ff. 3 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 3/09, 4/09, Rn. 139ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 068/18 Seite 5 Da jeder Mensch gegenüber dem deutschen Staat einen Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums hat, wäre eine Regelung, die arbeitslosen Personen unter 50 Jahren keine Leistungen zum Erhalt des Existenzminimums gewährt, mit Art. 1 Abs.1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Weiterhin ist eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG darin zu sehen, dass eine Altersgruppe Leistungen zur Grundsicherung erhalten soll, während die andere jüngere Altersgruppe diese nicht erhalten soll. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG muss eine solche Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wobei es maßgeblich darauf ankommt, dass zwischen den zu vergleichenden Gruppen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht gegeben sind, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.4 Vorliegend ist keine Rechtfertigung dafür ersichtlich, warum die Altersgruppe der unter 50-Jährigen von Leistungen zur Sicherung ihres Existenzminimums ausgeschlossen werden sollte. 3. Derzeitige Rechtslage Nach den Vorgaben des BVerfG hat der Gesetzgeber im Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz festgesetzt , wie das Existenzminimum zu ermitteln ist. Im SGB II finden sich demgegenüber Regelungen dazu, in welchen Fällen der Regelbedarf gekürzt werden kann. Dem SGB II liegt der Grundsatz des Forderns und Förderns zugrunde (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II). Vor diesem Hintergrund können erwerbsfähigen leistungsberechtigten Personen nach § 31a Abs. 1 SGB II grundsichernde Leistungen nach einem Stufensystem gekürzt werden, wenn sie eine Pflichtverletzung gem. § 31 SGB II oder ein Meldeversäumnis gem. § 32 SGB II begehen. Auf der ersten Stufe erfolgt eine Kürzung von 30 Prozent des Regelbedarfs, die auf einer zweiten Stufe auf 60 Prozent und schließlich auf der dritten und letzten Stufe auf 100 Prozent gesteigert werden kann. Die Kürzung von 100 Prozent, die einer vollständigen Streichung aller Leistungen entspricht, kann für eine Dauer von drei Monaten angeordnet werden, wenn wiederholte Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres begangen worden sind (vgl. § 31a Abs. 1 S. 3, § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II). Bei einer Kürzung von mehr als 30 Prozent kann die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person beantragen, in angemessen Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erhalten (vgl. § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II). Personen, die von einer Sanktion betroffen sind, leben während der Sanktionsdauer unterhalb des Existenzminimums. Neben der vollständigen Kürzung der Leistungen zur Grundsicherung werden zudem keine Krankenversicherungsbeiträge und keine Kosten für Unterkunft und Heizung gezahlt. Dennoch ist dies nach Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) mit dem Grundgesetz vereinbar. Das BSG hat in seinem Urteil vom 29. April 2015 vertreten, dass der Gesetzgeber die Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem SGB II an (Mitwirkungs-)Obliegenheiten knüpfen und bei deren Verletzung leistungsrechtliche Minderungen vorsehen darf. 4 BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2011 − 1 BvR 2035/07, Rn. 64. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 068/18 Seite 6 Solange im Fall der Kürzung von mehr als 30 Prozent ein Ausgleich durch Sachleistungen möglich sei, genüge dies den verfassungsrechtlichen Anforderungen grundsätzlich.5 Das BVerfG hat zu einer Vereinbarkeit von §§ 31 ff. SGB II mit Art. 1 Abs.1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 GG bisher noch nicht entschieden. 4. Fazit Für Personen unter 50 Jahren Leistungen der Grundsicherung vollständig zu streichen, ist weder von der derzeitige Gesetzeslage vorgesehen noch wäre eine solche Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar. Dieser Vorschlag würde einen Verstoß gegen Art. 1 Abs.1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstellen. Nach der derzeitigen Rechtslage ist eine vollständige Leistungskürzung für eine Dauer von drei Monaten zwar möglich, diese Sanktion unterliegt jedoch speziellen Voraussetzungen, deren Vorliegen im Einzelfall geprüft werden müssen. Eine abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer konkreten gesetzlichen Regelung bleibt dessen ungeachtet dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. *** 5 BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14, Rn. 52- 56.