© 2017 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 056/17 Rückzahlung von Mietkautionsdarlehen im Rahmen des SGB II Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – 32. Senat 7 3.2.5. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – 7. Senat 7 4. Kurzdarstellung ausgewählter Fachmeinungen 7 4.1. Verfassungsrechtliche Bedenken 7 4.2. Verfassungsmäßigkeit der Regelung 9 5. Fazit 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 4 1. Einleitung Für Personen, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beziehen, werden Aufwendungen für eine Mietkaution und den Erwerb von Genossenschaftsanteilen gemäß § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II vom Leistungsträger als Darlehen erbracht. Solange die Darlehensnehmer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen, werden gemäß § 42a Abs. 2 SGB II die Rückzahlungsansprüche des Leistungsträgers ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs getilgt. Dem Leistungsträger stehen hinsichtlich der Aufrechnung weder ein Auswahl- noch ein Entschließungsermessen zu. Die Vorschrift § 42a SGB II wurde mit Wirkung zum 1. April 2011 eingefügt durch Art. 2 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011.1 Die Regelung ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Die Bundesregierung hat im September 2017 im Rahmen einer Antwort auf eine Kleine Anfrage betont, dass sie keine rechtlichen Zweifel an der Zulässigkeit dieser Aufrechnung habe.2 Der Sachstand stellt ausgewählte Rechtsprechung und Fachmeinungen dar, kann jedoch einer höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vorgreifen. 2. Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Grundsatzentscheidung zum menschenwürdigen Existenzminimum Ausführungen zur Gewährung eines Darlehens bei einem einmaligen, unabweisbaren Bedarf gemacht: „[…] Hilfebedürftige [können] ein Darlehen erhalten, wenn ein unvermutet auftretender und unabweisbarer einmaliger Bedarf durch angesparte Mittel nicht gedeckt werden kann. Das Darlehen wird zwar in den nachfolgenden Monaten dadurch getilgt, dass der Grundsicherungsträger 10 % von der Regelleistung einbehält. In Anbetracht der Ansparkonzeption des Gesetzgebers ist diese vorübergehende monatliche Kürzung der Regelleistung jedoch im Grundsatz nicht zu beanstanden.“3 In einem späteren Beschluss zum menschenwürdiges Existenzminimum hat das Gericht hinsichtlich von Darlehen ausgeführt: „Auf die Gefahr einer Unterdeckung kann der Gesetzgeber durch zusätzliche Ansprüche (…) auf Zuschüsse zur Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs reagieren . Auf ein nach § 24 Abs. 1 SGB II mögliches Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine Reduzierung der Fürsorgeleistung um 10 % durch Aufrechnung nach § 42a Abs. 2 Satz 1 in Ver- 1 BGBl I S. 453. 2 BT-Drs. 18/13570 vom 13. September 2017, S. 5. 3 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, Rn. 150. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 5 bindung mit § 24 Abs. 1 SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden ist, kann nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen ist, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen.“4 3. Fachgerichtliche Rechtsprechung 3.1. Urteil des Bundessozialgerichts zur Rechtslage vor April 2011 Zur Aufrechnungsermächtigung des § 23 SGB II a.F. hatte der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG)5 bereits deren analoge Anwendung auf Mietkautionsdarlehen verneint. Nach Auffassung des Gerichts könne der Grundsicherungsträger eine Berechtigung zur Tilgung eines Mietkautionsdarlehens aus der laufenden Regelleistung weder unter dem Gesichtspunkt der Aufrechnung noch aus einer von ihm vorformulierten und erwirkten (Verzichts-)Erklärung des Leistungsberechtigten ableiten. Zudem sei die Regelung des § 23 Abs. 3 SGB II a.F. eng auszulegen, weil das verfassungsrechtliche Existenzminimum nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG betroffen sei. Eine analoge Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II a.F. auf andere Darlehen als solche nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. beinhalte die Gefahr einer Bedarfsunterdeckung bei den laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die zumindest einer gesetzlichen Regelung bedürfe. „Die mit Wirkung zum 1.4.2011 eingefügte Neuregelung des § 42a Abs 2 SGB II, wonach Rückzahlungsansprüche aus Darlehen (ua für Mietkautionen) ab dem Monat, der auf die Auszahlung folgt, durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs getilgt werden, stellt vor diesem Hintergrund eine echte Rechtsänderung dar (ungenau ist die Gesetzesbegründung in BT-Drucks 17/3404 S 51, 116, wenn dort - für die auch erfasste Tilgung von Mietkautionsdarlehen , also für sämtliche Darlehensarten - darauf abgestellt wird, dass - bisher nur für einmalige Bedarfe des Lebensunterhalts - geschütztes Vermögen dem Hilfebedürftigen ja gerade belassen werde, um besondere Bedarfe zu decken und notwendige Anschaffungen zu tätigen ).“ (Rn. 16) 3.2. Urteile von Landessozialgerichten zur aktuellen Rechtslage Da noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung zur aktuellen Rechtslage hinsichtlich von Mietkautionen vorliegt, können hier nur ausgewählte Urteile von Landessozialgerichten (LSG) vorgestellt werden.6 4 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12, Rn. 116. 5 BSG, Urteil vom 22. März 2012 – B 4 AS 26/10 R. 6 Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) äußerte sich bedingt durch den vorzeitigen Tod des Klägers lediglich im Rahmen eines Beschlusses vom 29. Juni 2015 zur Prozesskostenhilfe (Az. B 4 AS 11/14 R). Es hat darin ausgeführt, dass „der Senat Zweifel hat, ob Mietkautionsdarlehen – jedenfalls bedingungslos – der Regelung des § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II unterfallen, (…).“ (Rn. 12); offen gelassen bei BSG Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 28/14 R. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 6 3.2.1. Landessozialgericht Hamburg – 4. Senat Nach Auffassung des 4. Senats des LSG Hamburg7 müsse der Leistungsträger in atypischen Fällen ein Ermessen hinsichtlich der Form der Gewährung der Kaution ausüben. Laut Gericht liegt ein atypischer Fall vor, wenn die Lebenssituation des Betroffenen in körperlicher , seelischer und sozialer Hinsicht von besonderen Schwierigkeiten geprägt ist. Der Leistungsträger müsse dann ein Ermessen hinsichtlich der Form der Gewährung der Kaution ausüben. Enthalte der Darlehensbescheid keinerlei Ermessenserwägung, so wäre er rechtswidrig ergangen und aufzuheben. Das Gericht ist ferner der Meinung, dass eine Kürzung der laufenden Leistung zwar im Regelfall hinzunehmen sei, doch müsse geprüft werden, ob sie aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls unzumutbar sein könnte. Durch die Prüfung des atypischen Falls könne zugleich den Bedenken hinsichtlich der Verfassungskonformität des § 42a SGB II in Hinblick auf Mietkautionen Rechnung getragen werden. 3.2.2. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – 2. Senat Der 2. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen8 hat im Jahr 2014 vergleichbar geurteilt. Sehe das Gesetz die Darlehensgewährung für eine Mietkaution als Regelfall vor, so müsse die Gewährung eines nicht rückzahlbaren Zuschusses auf atypische Sonderfälle beschränkt bleiben. Ein solcher liege unter anderem vor, wenn der Betroffene in seiner Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt oder aufgrund seines Alters schwer vermittelbar ist. „Begründete Zweifel an der Verfassungskonformität der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen, (…) hat der Senat nicht. Unbillige Verhältnisse, die Zweifel an der Verfassungskonformität begründen könnten, können nach den Regelungen des Gesetzes dadurch vermieden werden, dass in atypischen Fällen (…) statt eine Darlehensgewährung ein nicht rückzahlbarer Zuschuss bewilligt wird. (…) Darüber hinaus sieht § 44 SGB II auch einen Erlass von Ansprüchen vor, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. Auch durch Beachtung dieser Vorschrift können im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände möglicherweise denkbare verfassungswidrige Benachteiligungen vermieden werden.“ (Rn. 7) 3.2.3. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – 20. Senat Der 20. Senat des LSG Berlin-Brandenburg9 hatte im März 2015 keine verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf eine verfügte Rückzahlung eines Mietkautionsdarlehens durch monatliche Aufrechnung in Höhe von 10 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs. Der Senat ist der Auffassung , dass über § 24 Abs.1 SGB II sichergestellt sei, dass unabweisbare Bedarfe gedeckt werden könnten. Selbst wenn Hilfeempfänger „einen ‚besonderen Bedarf‘ nicht aus Ansparmitteln decken können, worauf sie zunächst verwiesen werden können (siehe hierzu BVerfG v. 9.02.2010 7 LSG Hamburg, Urteil vom 23. Februar 2017 – L 4 AS 135/15. 8 LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. Februar 2014 – L 2 AS 2280/13 B. 9 LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. März 2015 – L 20 AS 261/13. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 7 - 1 BvL 1/09 u.a. - juris, Rn. 205), ist damit eine Bedarfsdeckung nach dem Gesetz nicht ausgeschlossen .“ (Rn. 20) 3.2.4. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – 32. Senat Der 32. Senat des LSG Berlin-Brandenburg10 beanstandete im Februar 2016 eine durch die Darlehensrückzahlung ausgelöste vorübergehende monatliche Kürzung der Regelleistung nicht grundsätzlich . Eine Unterdeckung des Bedarfs über einen Zeitraum von 21 Monaten könnte nach Auffassung des Gerichts unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bedenklich sein. (Rn. 37, 38) 3.2.5. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen – 7. Senat Das LSG Nordrhein-Westfalen11 hält die Tilgung eines Mietkautionsdarlehens gemäß § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II durch monatliche Aufrechnung in Höhe von zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfs für rechtswidrig. Die Bestimmung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II sei nicht bezogen auf Mietkautionsdarlehen. Der Wortlaut von § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II sei offen und zwinge nicht zu einer Anwendung der Aufrechnung auf Mietkautionsdarlehen. „Vor Inkrafttreten der Regelung des § 42a SGB II war einhellig anerkannt, dass Kautionsdarlehen nicht mit der laufenden Regelleistung getilgt werden dürfen (BSG Urteile vom 22.03.2012 - B 4 AS 26/10 R und vom 18.11.2014 - B 4 AS 3/14 R (…), da die Mietkaution dem Unterkunftsbedarf zuzurechnen ist und die Aufrechnungsbefugnis nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II aF sich nur auf Sonderbedarfe bezog, die der Regelleistung zuzurechnen waren.“ (Rn. 30) 4. Kurzdarstellung ausgewählter Fachmeinungen 4.1. Verfassungsrechtliche Bedenken Schon hinsichtlich der alten Darlehensregelung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II a.F.12 gab es verfassungsrechtliche Bedenken. DÄUBLER sah durch die Aufrechnung die „verfassungsrechtlich gebotene Mindestsicherung nur dann nicht [tangiert], wenn in der fraglichen Zeit von in der Regel einem Monat voraussichtlich kein oder ein unterdurchschnittlich geringer Einmalbedarf auftritt . Soweit ein mindestens durchschnittlicher Anfall absehbar ist, muss die Aufrechnung unterbleiben . (…) Insoweit ist die Aufrechnung auf Fälle zu beschränken, in denen voraussichtlich der von der Verfassung anerkannte Grundbedarf erhalten bleibt.“ Diese Vorschrift des § 23 SGB II a.F. stehe nach DÄUBLER auch im Gegensatz zu der Regelung im Rahmen der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII). § 37 Abs. 2 SGB XII sieht bei vergleichbarer Darlehensgewährung zur Ergänzung der Hilfe zum Lebensunterhalt lediglich eine Verrechnung in Höhe von bis zu fünf Prozent vor. DÄUBLER warf die Frage auf, ob es einen sachlichen Grund gebe, ALG- 10 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2016 – L 32 AS 516/15 B PKH. 11 LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. Juni 2017 – L 7 AS 607/17; anhängig BSG, B 14 AS 31/17 R. 12 § 23 Abs.1 Satz 3 SGB II: „Das Darlehen wird durch monatliche Aufrechnung in Höhe von bis zu 10 Prozent vom Hundert der an den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Angehörigen jeweils zu zahlenden Regelleistung getilgt.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 8 II-Bezieher, also erwerbsfähige Personen, gegenüber nicht erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern zu benachteiligen. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Zehn-Prozent-Klausel des § 23 SGB II a.F. gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Allerdings könne seinen Ausführungen zufolge im Einzelfall ein Gleichheitsverstoß vermieden werden, wenn unter den gegebenen Umständen eine Aufrechnung nur in Höhe von bis zu fünf Prozent der Regelleistung erfolge.13 WETH ist der Auffassung, dass die Regelung den wohnungssuchenden ALG-II Empfänger in eine Zwangslage bringe, in der er sein Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum in Gestalt einer angemessenen Wohnung nur bei Strafe der Kürzung des sonstigen existenznotwendigen Lebensbedarfs umsetzen könne. Die Leistungsempfänger hätten dabei keine eigene Steuerungsmöglichkeit und keine Möglichkeit, durch ihr eigenes Verhalten Einfluss auf die Gestaltung ihrer Bedarfssituation zu nehmen. Damit würden sie zu Objekten staatlichen Handelns, ihre Subjektqualität werde prinzipiell in Frage gestellt. Das sei mit dem aus der Menschenwürde herzuleitenden sozialen Wert- und Achtungsanpruch nicht zu vereinbaren (vgl. etwa BVerfGE 87, 209 [218]).14 Nach Auffassung von BENDER und GREISER ist durch die zwingende Anordnung der Aufrechnung in Höhe von zehn Prozent ohne jedes Auswahl- und Entschließungsermessen des Trägers den Versuchen der verfassungskonformen Auslegung jegliche normative Grundlage entzogen. Laut BENDER habe hieran auch der Beschluss des BVerfG15 zum menschenwürdigen Existenzminimum aus dem Jahr 2014 nichts geändert.16 CONRADIS kritisiert, dass den Betroffenen für eine teilweise sehr lange Dauer nur Leistungen unterhalb des Existenzminimums zustehen würden. Das Recht auf existenzsichernde Leistungen stütze sich auch auf Art. 1 GG und bei dieser Vorschrift dürfte eine Einschränkung nur aus besonderen Gründen zulässig sein.17 Nach GEIGER liege ein Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum durch die Unterschreitung des Regelbedarfs vor. Zudem werde das Ansparprinzip ausgehebelt, da der Leistungsbezieher wegen der Kautionstilgung keinerlei Puffer mehr für Ansparungen habe. Des 13 Däubler, Wolfgang, NJW 2005, 1545, beck-online. 14 Weth, Hans-Ulrich (2011), Anmerkung zum Beschluss: Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 30. September 2011 – S 37 AS 24431/11 ER, Soforttilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung, info also 2011 Heft 6, 275, beck-online. 15 BVerfG. Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 u. a. 16 Bender, Wolfgang (2017) in: Gagel, Kommentar SGB II/SGB III, § 42a SGB II, Rn. 18, beck-online; Greiser, Johannes (2017), in: Eicher/Luik, SGB II, § 42, Rn. 27, beck-online. 17 Conradis, Wolfgang (2011), Änderungen im Verfahrensrecht des SGB II – überwiegend zu Lasten der Leistungsberechtigten , info also Heft 3, S. 115. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 9 Weiteren handle es sich um eine willkürliche Schlechterstellung gegenüber den Leistungsberechtigten der Sozialhilfe nach dem SGB XII, bei denen gemäß § 35 SBG XII die Ausgestaltung der Tilgung im Ermessen des Sozialamtes stehe.18 4.2. Verfassungsmäßigkeit der Regelung KEMPER vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die Regelung verfassungskonform auszulegen sei. Das BVerfG habe dieses Konzept grundsätzlich akzeptiert.19 Unter Berücksichtigung des infolge der Grundsatzentscheidung zum menschenwürdigen Existenzminimum geschaffenen § 21 Abs. 6 SGB II (Mehrbedarf für unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarf) und der „neuen Regelleistung“ (seit 1. Januar 2011) dürfte die Aufrechnung grundsätzlich keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Etwas anderes könne sich bei mehreren Aufrechnungen (mehreren Darlehen) ergeben.20 LENZE/CONRADIS erscheint eine verfassungskonforme Auslegung nur insoweit möglich, als die Leistung nicht zwingend als Darlehen zu gewähren ist, sondern ein Mietkautionsdarlehen nach § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II eine Sollvorschrift sei und somit die verfassungskonforme Auslegung ermögliche. Zudem bestehe die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung im Hinblick auf die Dauer der Aufrechnung eines Darlehens. Hier sei schon in der Vergangenheit darauf verwiesen worden, dass die Darlehensrückzahlung zu langfristig – nämlich zeitlich unbegrenzt – vorgesehen sei.21 5. Fazit Die wichtigste Herausforderung bleibt die Abwendung einer Bedarfsunterdeckung für Folgezeiträume aufgrund einer darlehensweisen Hilfegewährung.22 Die landessozialgerichtliche Rechtsprechung hat trotz der grundsätzlichen Bedenken in der Literatur Lösungsmöglichkeiten entwickelt , um dem Einzelfall gerecht werden zu können. Beim 14. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ist gegenwärtig die Rechtsfrage anhängig, ob die Aufrechnungsregelung des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II auch auf Mietkautionsdarlehen anzuwenden ist (B 14 AS 31/17 R; Vorinstanz: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 7 AS 607/17).23 18 Geiger, Udo (2015), Unterkunfts-und Heizkosten nach dem SGB II, 3. Auflage, Fachhochschulverlag, Frankfurt am Main, S. 300 ff. 19 BVerfG 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 ua, SozR 4-4200 § 20 Nr. 12 Rn. 150 = BeckRS 2010, 109647; vgl. ebenso zu Rückzahlungen und einem internen Ausgleich BVerfG 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 ua, BVerfGE 137, 34 = BeckRS 2014, 55837 Rn. 116 ff. 20 Kemper, David (2017) in: Eicher/Luik, Kommentar SGB II, § 42a, Rn. 17, beck-online. 21 Lenze, Anne/Conradis, Wolfgang (2015), Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts vom 23. Juli 2014 zu den Regelbedarfen und die Folgen für die Praxis, info also Heft 3, S. 99. 22 Bender, Wolfgang (2017) in: Gagel, Kommentar SGB II/SGB III, § 42a SGB II, Rn. 22, beck-online. 23 Anhängige Rechtsfragen, 14. Senat, Stand 16. November 2017. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 056/17 Seite 10 ***