© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 053/188 Zur Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes bei Betriebsübergang Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Juni 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz wurde in das Tarifvertragsgesetz (TVG) der neue § 4a eingefügt, dessen zentrale Regelung in Abs. 2 bestimmt, dass bei Überschneidung mehrerer nicht inhaltsgleicher Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften in demselben Betrieb (Tarifkollision) der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anzuwenden ist, die im Zeitpunkt des zuletzt geschlossenen kollidierenden Tarifvertrages in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Praktische Bedeutung erlangt diese Vorschrift unter anderem in Fällen eines Betriebsübergangs nach § 613a BGB, wenn dabei der übergegangene Betrieb in einen bestehenden Betrieb eingegliedert wird, denn es stellt sich dann die Frage, welche tariflichen Regelungen in dem neu entstehenden Betrieb gelten. 2. Bestandsschutzregelung 2.1. Grundsatz Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Sind diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so sieht § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vor, dass sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer werden und nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden dürfen. Damit soll eine Schlechterstellung der Arbeitnehmer infolge des Betriebsübergangs vermieden werden. Es gelten also für die tarifgebundenen Arbeitnehmer des übergegangenen Betriebs die Regeln des in ihrem früheren Betrieb geltenden Tarifvertrags während der Sperrfrist fort.1 Dabei handelt es sich um eine statische Fortgeltung , nimmt also an etwaigen Anpassungen des Tarifvertrages grundsätzlich nicht teil.2 2.2. Ausnahmen Von dem Bestandsschutz des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bestimmt § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB zwei Ausnahmen. „Die erste betrifft den Fall, dass die Normen eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung die zwingende Wirkung innerhalb der Jahresfrist verlieren und nach § 4 Abs. 5 TVG oder § 77 Abs. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) nur noch nachwirken. Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Firmentarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung bereits vor dem Betriebsübergang vom Veräußerer gekündigt wurde, nach dem Betriebsübergang vom Erwerber gekündigt wird oder durch Fristablauf endet. Die zweite Ausnahme lässt eine Änderung vor Ende 1 Umstritten sind allerdings die Folgen des Betriebsübergangs für die Tarifgeltung im Bereich von Bezugnahmeklauseln , vgl. Müller-Bonanni, Thomas: Zentrale Fragen des Betriebsübergangs im Spiegel der jüngsten Rechtsprechung und Reformen, in: RdA 2016, S. 270-274 (273) mit Nachweisen. 2 Müller-Bonanni (Fn. 1), S. 274 mit Nachweisen aus der Kommentarliteratur. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 053/18 Seite 5 der Jahresfrist zu, wenn der neue Betriebsinhaber und die übernommenen Arbeitnehmer die Anwendung eines anderen Tarifvertrags, der für sie nicht schon auf Grund beiderseitiger Tarifgebundenheit gilt, individualvertraglich vereinbaren.“3 Im Anschluss an die Sperrfrist lässt § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB eine individualvertragliche Änderung der kollektivrechtlich fortgeltenden Rechte und Pflichten zu. Eine weitere Ausnahme sieht § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB für den Fall vor, dass die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Diese kollektivvertragliche Ablösung setzt aber nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und der herrschenden Meinung im Schrifttum voraus, dass sowohl der einzelne Arbeitnehmer als auch der neue Arbeitgeber nach § 3 Abs. 1 TVG oder kraft staatlicher Anordnung nach § 5 TVG an die Bestimmungen dieses Tarifvertrags gebunden sind.4 Liegt die beiderseitige Tarifbindung hinsichtlich des im Erwerberbetrieb geltenden Tarifvertrags nicht vor, werden die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden tariflichen Regelungen nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB abgelöst. 3. Verdrängung durch einen Mehrheitstarifvertrag im aufnehmenden Betrieb In dieser Konstellation bedarf es im Hinblick auf die Situation in dem übernehmenden Betrieb einer Klärung des Verhältnisses zwischen § 613a BGB und § 4a Abs. 2 TVG.5 Höchstrichterliche Rechtsprechung gibt es zu dieser Frage, soweit ersichtlich, bisher nicht. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, ob die Bestandsschutzregelung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB eine Tarifkollision im Sinne des § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG auslöst. 3.1. Tarifkollision Dies setzt nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 1 TVG voraus, dass ein Arbeitgeber „nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden“ ist. Da das BAG in seiner neueren Rechtsprechung davon ausgeht, dass der kollektivrechtliche Charakter der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Regelungen erhalten bleibt und die rechtliche Wirkung der Fortgeltung der in § 3 Abs. 3 TVG Nachwirkung eines Tarifvertrages ausdrücklich gleichstellt,6 dürfte sich die Situation im Ergebnis als Tarifkollision im Sinne des § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG darstellen. 3 Preis, Ulrich in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 18. Auflage 2018 (ErfK), § 613a BGB, Rn. 121 f. 4 Preis in ErfK (Fn. 3), § 613a BGB, Rn. 123 f. 5 Vgl. zum Ganzen ausführlich Gräf, Stephan: Das Zusammenspiel von § 4a TVG und § 613a BGB, in: NZA 2016, S. 327-334. 6 Gräf (Fn. 5), S. 330 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BAG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 053/18 Seite 6 Damit könnte es nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zu einer Verdrängung dieser Regelungen durch den im aufnehmenden Betrieb geltenden Tarifvertrag kommen, wenn dieser der Mehrheitstarifvertrag ist. 3.2. Schutzzweck der Bestandsschutzregelung Dies jedoch würde dem Schutzzweck des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB widersprechen. Unter Berufung auf diese Schutzfunktion hat das BAG in der Vergangenheit die Anwendung des damals richterrechtlich entwickelten Grundsatzes der Tarifeinheit abgelehnt, dabei aber auch den (spezial )gesetzlichen Charakter des § 613a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB (gegenüber dem Richterrecht) hervorgehoben .7 Die neue gesetzliche Bestimmung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG „verfolgt zwar verschiedene tarifund koalitionsspezifische Ziele, nicht jedoch das Ziel, die Bestandsschutzfunktion des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB einzuschränken.“8 Vor dem Hintergrund mehrfacher Bezugnahme der Gesetzesbegründung auf das Tarifeinheitsprinzip nach der früheren Rechtsprechung des BAG kann nach in der Fachliteratur vertretener Auffassung nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber in diesem Punkt weitergehen wollte als die frühere BAG-Rechtsprechung, sodass insoweit eine „teleologische Reduktion“ des Normgehalts oder aber eine Anwendung des sogenannten „lex specialis“-Grundsatzes zugunsten des § 613a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB anzunehmen sei.9 Der Mehrheitstarifvertrag im aufnehmenden Betrieb verdrängt damit nicht die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordnete Fortgeltung der tariflichen Regelungen im übergegangen Betrieb. Dieses Ergebnis sei auch aus EU-rechtlicher Perspektive im Hinblick auf eine richtlinienkonforme Auslegung angemessen.10 4. Verdrängung eines Minderheitstarifvertrags im aufnehmenden Betrieb Für den umgekehrten Fall, dass im aufnehmenden Betrieb ein anderer Tarifvertrag gilt, der Arbeitgeber nicht auch bereits an den nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifvertrag gebunden ist und sich der fortgeltende Tarifvertrag im neuen Betrieb als Mehrheitstarifvertrag im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 2 TVG darstellt, sprechen weder der Schutzzweck des § 613a Abs. 1 7 Gräf (Fn. 5), S. 331 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BAG. 8 Müller-Bonanni (Fn. 1), S. 274 mit weiteren Nachweisen. 9 Gräf (Fn. 5), S. 331 f. 10 Gräf (Fn. 5), S. 332; vgl. dazu die Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie), abrufbar im Internet unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A32001L0023 (letzter Abruf: 25. Mai 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 053/18 Seite 7 Satz 2 BGB noch die Betriebsübergangsrichtlinie gegen eine Anwendung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG. In diesem Fall könnte es allenfalls zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Stammbelegschaft des aufnehmenden Betriebes kommen, die aber nicht unter einem dem § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vergleichbaren Schutz stehen. In dieser Konstellation kommt es daher zur Verdrängung des Minderheitstarifvertrages im aufnehmenden Betrieb durch den für die Arbeitnehmer des übergegangenen Betriebes fortgeltenden Mehrheitstarifvertrag. 5. Tarifeinheit und Koalitionsfreiheit Durch den Ablauf der Bestandsschutzfrist nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, durch Auslaufen oder Kündigung von Tarifverträgen, die in einem Betrieb Geltung beanspruchen, durch Änderung oder Neuabschluss von Tarifverträgen sowie durch Veränderungen in der Gewerkschaftszugehörigkeit von Arbeitnehmern eines Betriebes können sich die Mehrheitsverhältnisse im Zeitverlauf immer wieder ändern. Für die Feststellung, welcher Tarifvertrag der Mehrheitstarifvertrag im Sinne des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist, ist nach dem Wortlaut der Bestimmung jeweils der Zeitpunkt des Eintritts einer Tarifkollision maßgeblich (§ 4a Abs. 2 Satz 2 und 3 TVG). Mit dieser Stichtagslösung wollte der Gesetzgeber für Rechtsfrieden und Rechtssicherheit im Betrieb sorgen .11 Das Tarifeinheitsgesetz soll nach dem Willen des Gesetzgebers nicht in die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit eingreifen, sodass die Sozialpartner auch unter der Geltung des § 4a TVG beim Abschluss kollektivrechtlicher Vereinbarungen frei sind. Keinesfalls steht das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG allein der Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb zu. Nach der Gesetzesbegründung greift der Grundsatz der Tarifeinheit „als Kollisionsregel nur subsidiär ein. Der Gesetzgeber beschränkt sich darauf, Tarifkollisionen nach dem Grundsatz der Tarifeinheit aufzulösen , wenn die Gewerkschaften die zwischen ihnen bestehenden Interessenkonflikte autonom nicht zu einem Ausgleich bringen können.“12 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das das Gesetz für überwiegend verfassungskonform erklärt hat, hebt dazu hervor, es sei ein legitimes Ziel, strukturelle Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.13 *** 11 Vgl. Bundestagsdrucksache 18/4062, S. 13. 12 Bundestagsdrucksache 18/4062, S. 1. 13 BVerfG - Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 155. Abrufbar im Internetauftritt des BVerfG: http://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared- Docs/Entscheidungen/DE/2017/07/rs20170711_1bvr157115.html; vgl. dazu Bug, Arnold: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz, Aktueller Begriff Nr. 24/17 vom 29. September 2018, S. 1, abrufbar im Internetauftritt des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag .de/blob/527534/f5996c27e3b85ebdd2129496171bcaea/das-urteil-des-bundesverfassungsgerichts-zum-tarifeinheitsgesetz -data.pdf (letzter Abruf jeweils: 25. Mai 2018).