© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 051/18 Rentenzahlungen aus der deutschen Rentenversicherung an belgische Kollaborateure und Fragen zu deren Staatsangehörigkeit Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 2 Rentenzahlungen aus der deutschen Rentenversicherung an belgische Kollaborateure und Fragen zu deren Staatsangehörigkeit Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 051/18 Abschluss der Arbeit: 18. Mai 2018 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Die Ausführungen zu den Ziffern 4 und 5 wurden vom Fachbereich WD 1: Geschichte, Zeitgeschichte und Politik verfasst. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Entschließung des belgischen Parlaments zu Rentenzahlungen aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung an belgische Kollaborateure 4 2. Fiktive Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung 5 3. Belgisches Anliegen, Kollaborateure vom Leistungsbezug auszuschließen 6 4. Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit in den belgischen Ostgebieten 1940-1945 7 5. Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit für SS- und Wehrmachtsangehörige 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 4 1. Entschließung des belgischen Parlaments zu Rentenzahlungen aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung an belgische Kollaborateure Der Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung setzt nach näherer Bestimmung des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) voraus, dass zuvor ein Mindestmaß an Beitragszahlungen vorliegt. Die Höhe einer Rente richtet sich vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen. Zeiten einer über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinausgehenden Kriegsgefangenschaft waren darüber hinaus regelmäßig als beitragsfreie Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Voraussetzung hierfür ist, dass mindestens ein wirksamer Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden ist oder als gezahlt gilt. In einer Entschließung vom 22. November 2016 hat die Abgeordnetenkammer des belgischen Parlaments die Zahlung von Rentenleistungen aus Deutschland an in Belgien ansässige Kollaborateure thematisiert.1 Darin soll die deutsche Bundesregierung unter anderem aufgefordert werden, den belgischen Behörden eine Liste über die Rentenberechtigten und die Höhe der Rentenleistungen zu übermitteln sowie die Rentenzahlungen einzustellen. Es sei nicht zu akzeptieren, dass von der belgischen Nachkriegsjustiz wegen der Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht verurteilte ehemalige Angehörige der Waffen-SS aufgrund ihrer aktiven Kriegsteilnahme auf deutscher Seite oder ihre Hinterbliebenen heute in Belgien eine Rentenzahlung aus der deutschen Rentenversicherung erhielten. Die vermeintlich deutschstämmigen Bewohner der nach dem Überfall des Deutschen Reichs annektierten ostbelgischen Gebiete Eupen, Malmedy und Moresnet wurden zu deutschen Staatsangehörigen erklärt. Ferner wurde zum deutschen Staatsangehörigen, wer freiwilligen Dienst in der Wehrmacht, der Waffen-SS oder übrigen Verbänden leistete. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit sind Rentenzahlungen an belgische Kollaborateure aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung außerhalb von Beschäftigungsverhältnissen im Geltungsbereich deutscher Gesetze allenfalls aufgrund einer durchgeführten fiktiven Nachversicherung denkbar. Allerdings dürften sich aus der relativ geringen Dauer der Beitrags- und Ersatzzeiten nur entsprechend niedrige Rentenbeträge ergeben. Bei einer denkbaren anzurechnenden Zeit von etwa zehn Jahren inklusive einer fünfjährigen Kriegsgefangenschaft und der Zugrundelegung eines Durchschnittsverdienstes beträgt die monatliche Rente maximal etwa 300 Euro, wenn der Rentenbeginn vor 1992 liegt. 1 Drucksache DOC 54 2243/001, http://www.dekamer.be/FLWB/PDF/54/2243/54K2243001.pdf, (abgerufen am 15. Mai 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 5 2. Fiktive Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung2 Hintergrund für die Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung sind die verschiedenen Alterssicherungssysteme in Deutschland. So sind Beamte aufgrund der zu erwartenden Beamtenversorgung versicherungsfrei in der gesetzlichen Rentenversicherung. Für ohne Anspruch auf Versorgung ausgeschiedene Beamte ist deshalb bereits seit dem Jahr 1923 eine Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung durchzuführen. Durch die im Rahmen einer Nachversicherung vom ehemaligen Dienstherrn an die Rentenversicherung zu zahlenden Beiträge werden ehemalige Beamte so gestellt, als wären sie in dieser Zeit rentenversicherungspflichtige Arbeitnehmer gewesen. Bei der späteren Rentenberechnung zählen die Zeiten einer Nachversicherung als reguläre Pflichtversicherungszeiten und können einen Rentenanspruch begründen . Nach dem staatlichen Zusammenbruch am 8. Mai 1945 war die Weiterbeschäftigung der bis dahin im Dienst stehenden und die Versorgung der im Ruhestand befindlichen Beamten zu klären. Neben Vertriebenen und Angehörigen aufgelöster Dienststellen waren auch Beamte weiterbestehender Behörden betroffen, die aufgrund von Anordnungen der Militärregierungen zum Zwecke der politischen Überprüfung, also im Rahmen der Entnazifizierung, von ihrem Amt oder, ihrem Arbeitsplatz entfernt und nicht wieder im öffentlichen Dienst verwendet wurden. Mit dem Grundgesetz wurde dem Bundesgesetzgeber in Artikel 131 aufgegeben, die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden waren und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet wurden, zu regeln. So sieht § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 GG fallenden Personen (G 131) vom 11. Mai 1951 unter anderem die fiktive Nachversicherung für Personen vor, die als Beamte, Richter oder Berufssoldaten Ansprüche oder Anwartschaften von einer Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen ausgeschlossen worden sind, weil sie während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben. Gegebenenfalls gelten die Dienstzeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung als nachversichert. Die fiktive Nachversicherung gemäß § 72 G 131 setzt jedoch grundsätzlich einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet am 8. Mai 1945 voraus und dürfte daher für die meisten belgischen Kollaborateure nicht einschlägig sein. Nachfolgend wurden noch weitere Regelungen zur renten- und versorgungsrechtlichen Abwicklung der im Zusammenhang mit dem Krieg stehenden Lücken in den Erwerbsbiographien verabschiedet . So sind mit dem Gesetz zur allgemeinen Regelung durch den Krieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches entstandener Schäden (Allgemeines Kriegsfolgengesetz - AKG) vom 5. November 1957 die vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Ansprüche aus dem öffentlichen Dienst Ausgeschiedener gegen das Deutsche Reich abschließend festgelegt worden. Soweit eine vorrangige fiktive Nachversicherung gemäß § 72 G 131 ausscheidet, kann eine fiktive Nach- 2 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf Angaben in der Broschüre der Deutschen Rentenversicherung Bund „Nachversicherung - Allgemeine Darstellung mit Gesetzestexten“, 10. Auflage, 7/2016, S. 169 ff, und den Gemeinsamen Rechtlichen Anweisungen (GRA) der Träger der Deutschen Rentenversicherung, § 233 SGB VI, R7 Fiktive Nachversicherung, http://rvrecht.deutsche-rentenversicherung.de/Raa/Raa.do?f=SGB6_233R7 (abgerufen am 15. Mai 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 6 versicherung über § 99 AKG erfolgen. Danach gelten vor dem 9. Mai 1945 ausgeschiedene Beamte und diesen vergleichbare Angehörige des öffentlichen Dienstes in der gesetzlichen Rentenversicherung als nachversichert, wenn sie nach den im Zeitpunkt ihres Ausscheidens geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze für die Zeit ihrer versicherungsfreien Beschäftigung nachzuversichern waren und nicht nachversichert worden sind. Für die Nachversicherung kommt es auf den Beschäftigungsort und die Staatsangehörigkeit nicht an. Dies gilt auch für ehemalige Berufssoldaten der früheren Wehrmacht und freiwillig länger dienende, berufsmäßige Angehörige der Waffen-SS im Fronteinsatz und möglicherweise auch den hauptamtlich Beschäftigten der Organisation Todt. Nicht unter den Personenkreis des § 99 AKG fallen unter anderem Personen, die hauptamtlich im Dienste der NSDAP, zum Beispiel dem NSKK, gestanden haben, sowie Angehörige der Vlaamse Wacht und Garde Wallonne bis zu deren Übernahme in die Wehrmacht beziehungsweise SS-Sturmbrigade „Langemarck“. Im Gegensatz zur regulären Nachversicherung findet bei der fiktiven Nachversicherung keine Beitragszahlung statt. Es wird vielmehr ein Versicherungsverhältnis kraft Gesetzes fingiert. Dabei werden Versicherte so gestellt, als wären für sie in der Nachversicherungszeit Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden. Den Rentenversicherungsträgern werden die auf einer fiktiven Nachversicherung beruhenden Rentenausgaben im Nachhinein aus Steuermitteln erstattet. 3. Belgisches Anliegen, Kollaborateure vom Leistungsbezug auszuschließen Laut Auskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 15. Mai 2018 enthält der Statistikdatensatz zum Rentenbestand kein Merkmal mit einer Information zur fiktiven Nachversicherung gemäß § 72 G 131 oder § 99 AKG für Zeiten der berufsmäßigen Angehörigkeit in der Waffen-SS. Daher bestehe keine Möglichkeit, die Anzahl der in Belgien lebenden Rentenberechtigten, die Angehörige der Waffen-SS waren, maschinell zu ermitteln. Auch über die Rentenhöhen ließen sich aus diesem Grunde keine Aussagen treffen. Den belgischen Behörden wunschgemäß eine Liste über die Rentenberechtigten und die Höhe der Rentenleistungen zu übermitteln wäre aber auch aus datenschutzrechtlichen nicht möglich. Gemäß § 35 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jeder einen Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Die Übermittlung von Sozialdaten ist gemäß § 67d des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) nur zulässig, soweit eine gesetzliche Übermittlungsbefugnis nach den §§ 68 bis 77 SGB X oder nach einer anderen Rechtsvorschrift in diesem Gesetzbuch vorliegt. Die Übermittlung einer Liste von Rentenberechtigten zur Überprüfung, ob wegen Kollaboration verurteilte Personen darunter sind, ist nicht vorgesehen. Es existiert auch keine zentrale und vollständige Übersicht ehemaliger Angehöriger der Waffen- SS. So wurde kurz vor Kriegsende der größte Teil des Schriftgutes der Auskunftsstelle für Krie- Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 7 gerverluste der Waffen-SS in Bamberg vernichtet. Dennoch haben Forscher und Ermittler verschiedene Listen aus unterschiedlichen Archiven zusammengetragen.3 In Deutschland sind die ersten Anlaufstellen das Bundesarchiv und die Deutsche Dienststelle (WaSt) in Berlin.4 Die Regelungen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung, auch für Angehörige der Waffen -SS, stammen aus den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2014 räumt die Bundesregierung ein, dass die Regelungen zu Unverständnis führen können. Es ginge und gehe aber keinesfalls darum, mittels der rentenrechtlichen Regeln Verbrechen zu belohnen. Mit den Regelungen zur Nachversicherung von Angehörigen der Waffen-SS sollte insoweit lediglich eine Gleichstellung im Rentenrecht mit Soldaten der Wehrmacht erfolgen. Von daher wäre die Nachversicherung auch begrenzt auf berufsmäßige Angehörige der Waffen-SS, die im Fronteinsatz waren.5 Neben einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung kann auch eine Leistung der Kriegsopferversorgung an Berechtigte in Belgien geleistet werden. Diese kommt - ebenfalls unabhängig von der Staatsangehörigkeit - aufgrund einer durch einen militärischen oder militärähnlichen Dienst erlittenen gesundheitlichen Beschädigung nach den Regelungen des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) vom 27. Juni 1960 zur Auszahlung . Gemäß § 1a BVG sind laufende Versorgungsleistungen bei Verstößen gegen die Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit während der Herrschaft des Nationalsozialismus ganz oder teilweise zu entziehen. Einer entsprechenden Regelung auch Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei Verstößen gegen die Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit während der Herrschaft des Nationalsozialismus zu entziehen stehen neben verfassungsrechtlichen Hürden weitere Gründe entgegen. Zu dem aufgrund des Zeitablaufs hohen verwaltungsrechtlichen Aufwand kommt, dass die fiktive Nachversicherung - insbesondere gemäß § 72 G 131 - gerade auf Personen zielt, die von einer mutmaßlich höheren beamten- beziehungsweise soldatenrechtlichen Versorgung wegen eines während der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit ausgeschlossen worden sind. 4. Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit in den belgischen Ostgebieten 1940-1945 Am 18. Mai 1940 wurden die nach dem Ersten Weltkrieg an Belgien abgetretenen ehemals preußischen Landkreise Eupen und Malmedy einschließlich zehn weiterer zuvor nie zu Deutschland 3 Vgl. bspw. die online zugängliche Liste des polnischen Forschers Aleksander Lasik: http://truthaboutcamps .eu/th/zaloga-ss-kl-auschwitz/dokumentation-de. Auch Wikipedia hält eine alphabetisch sortierte Liste bereit : https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kategorie:Angeh%C3%B6riger_der_Waffen-SS&pagefrom=A (abgerufen am 8. Mai 2018). 4 Übersicht über Archive mit personenbezogenen Daten: http://archivrecherchehaas.neuerplan.org/wp-content /uploads/2008/12/PDF-2.-WK.pdf (abgerufen am 8. Mai 2018). 5 Bundestagsdrucksache 18/1164, S. 6, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/011/1801164.pdf (abgerufen am 15. Mai 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 8 gehörenden Gemeinden („Neutral-Moresnet“) vom Deutschen Reich annektiert. Ziffer I des „Erlasses des Führers und Reichskanzlers über die Wiedervereinigung der Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet mit dem Deutschen Reich vom 18. Mai 1940“ erklärte: „Die durch das Versailler Diktat vom Deutschen Reich abgetrennten Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet sind wieder Bestandteil des Deutschen Reiches.“6 Über die Staatsangehörigkeit seiner Bewohner hieß es in § 2 des Erlasses: „Die Bewohner deutschen oder artverwandten Blutes in den im § 1 genannten Gebieten werden nach Maßgabe näherer Bestimmungen deutsche Staatsangehörige. Die Volksdeutschen werden Reichsbürger nach Maßgabe des Reichsbürgergesetzes.“ Einzelheiten regelte die Verordnung über die Staatsangehörigkeit der Bewohner von Eupen, Malmedy und Moresnet vom 23. September 1941. § 1 legte fest: „(1) Mit Wirkung vom 18. Mai 1940 erwerben von Rechts wegen die deutsche Staatsangehörigkeit a) die Personen, die durch Artikel 36 des Versailler Vertrages die belgische Staatsangehörigkeit erworben haben, b) die Personen, die als Bewohner von Neutral-Moresnet die belgische Staatsangehörigkeit am 10. Januar 1920 erworben haben, [...]. (2) Die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt jedoch nicht, [...] d) wer Jude (§ 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 [...]) oder Zigeuner ist.“ „Deutschstämmige“, die nicht unter § 1 fielen, erhielten nach § 2 die deutsche Staatsbürgerschaft auf Widerruf. Die hier erstmals für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit geforderte „Deutschstämmigkeit“ war enger gefasst als die „deutsche Volkszugehörigkeit“. Der Reichsminister des Innern hatte sie für den Dienstgebrauch schon im März 1939 definiert: „Deutschstämmig ist, wer von Vorfahren deutschen Stammes abstammt. Die deutsche Volkszugehörigkeit setzt [...] nicht die volle oder überwiegende Deutschstämmigkeit voraus .“ 6 Zitiert nach: Joachim Neander: Das Staatsangehörigkeitsrecht des „Dritten Reiches“ und seine Auswirkungen auf das Verfolgungsschicksal deutscher Staatsangehöriger. Theologie. Geschichte (Band 3), 2008. http://universaar .uni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/viewArticle/471/510 (abgerufen am 8. Mai 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 9 Zusätzlich zu den Bewohnern der oben genannten belgischen Gebiete, die die deutsche Staatsbürgerschaft zwangsweise erhielten, konnten auch Belgier die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten , die sich freiwillig für einen Dienst in der Wehrmacht oder der SS meldeten. Für die Männer im wehrfähigen Alter im Gebiet Eupen-Malmedy und den zehn Gemeinden „Neutral-Moresnets“, die zwangsweise die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten, bedeutete dies automatisch, dass sie wehrpflichtig wurden.7 Insgesamt wurden auf diese Weise rund 8.700 Männer aus Eupen-Malmedy rekrutiert.8 Außerdem meldeten sich rund 10.000 Flamen und 8.000 Wallonen freiwillig. Erstere wurden zunächst in der „Legion Flandern“ eingesetzt. Die Einheit wurde jedoch am 7. Mai 1943 aufgelöst und die Soldaten zwangsweise der SS-Sturmbrigade „Langemarck“ angegliedert.9 Für die Männer aus Eupen-Malmedy und Moresnet gab es keine Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit abzulehnen. Jedoch wurden sie auch nicht gezwungen, die belgische Staatsangehörigkeit aufzugeben, so dass sie nach wie vor einen belgischen Pass besaßen. Insbesondere aus den zehn Gemeinden „Neutral-Moresnets“, die vor der Annexion nie deutsch gewesen waren , ist bekannt, dass sich rund 90 Prozent der Männer dem Kriegsdienst entzogen, indem sie untertauchten .10 Die Männer aus Eupen-Malmedy kamen weit überwiegend dem Einberufungsbefehl nach. Nach dem Krieg wurden sie von den belgischen Behörden zunächst als Kollaborateure betrachtet und durften teilweise ihre staatsbürgerlichen Rechte nicht ausüben.11 Von den 8.700 nach dem Krieg als „Zwangssoldaten“ bezeichneten Dienstverpflichteten fielen rund 3.400 Männer vorwiegend an der Ostfront.12 1962 schlossen Belgien und Deutschland einen Vertrag zur Entschädigung der „Dienstverpflichteten in der Wehrmacht“, der 1973 durch ein Zusatzabkommen ergänzt wurde. “Obwohl Deutschland bereits 1963 eine finanzielle Entschädigung bereitstellte, dauerte es bis 1974, ehe 7 Vgl. https://www.belgiumwwii.be/de/belgien-im-krieg/artikel/ (abgerufen am 8. Mai 2018). 8 Vgl. https://www.belgiumwwii.be/de/belgien-im-krieg/artikel/zwangssoldaten-ostkantone.html (abgerufen am 8. Mai 2018). 9 Vgl. Bruno de Wever: „Rebellen“ an der Ostfront. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 39 (1991), Heft 4. 10 Die Information stammt aus einem Telefonat mit dem Historiker Dr. Christoph Brüll vom 2. Mai 2018. 11 Rund die Hälfte der Einwohner von Eupen-Malmedy durften 1946 nicht an den Wahlen teilnehmen. Vgl. https://www.belgiumwwii.be/de/kriegsschicksale/nikolaus-brull.html (abgerufen am 8. Mai 2018). 12 „Der Begriff ‘Zwangssoldat‘ wurde 1945 von den Brüsseler Behörden erstmals verwendet. Er betont den Pflichtcharakter ihres Engagements und unterschied sie gleichzeitig von den flämischen und wallonischen Freiwilligen in Wehrmacht und Waffen-SS.“ Vgl. https://www.belgiumwwii.be/de/belgien-im-krieg/artikel/zwangssoldaten -ostkantone.html (abgerufen am 8. Mai 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 10 das belgische Parlament ein „Statut“ für die Wehrmachtsoldaten, aber auch für Verweigerer („Refraktäre “) beschloss – unter Ausschluss der Freiwilligen. Die finanziellen Entschädigungen wurden schließlich seit 1989 ausgezahlt.“13 5. Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit für SS- und Wehrmachtsangehörige Der freiwillige Dienst in der Wehrmacht, der Waffen-SS oder übriger Verbände war aufgrund eines „Führererlasses“ vom 19. Mai 1943 mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verbunden .14 Grundlage war zudem die „Verordnung über die Einbürgerung von Kriegsfreiwilligen vom 4. September 1939.15 In getrennt geregelten Durchführungsbestimmungen, welche ihre Rechtsgrundlage im zweiten Absatz II „Führererlasses“ finden, war das Verfahren vor der Einwandererzentralstelle begründet. Nach Abschnitt I Abs. 1 erwarben deutschstämmige Ausländer, die der deutschen Wehrmacht, der Waffen-SS, der deutschen Polizei oder der Organisation Todt angehören, die Staatsangehörigkeit mit Verkündung des Erlasses. Nach Absatz 2 erwarben oben genannte diese mit der Einstellung bei der deutschen Wehrmacht, der Waffen-SS, der deutschen Polizei oder der Organisation Todt. Insgesamt ist davon auszugehen, dass es 8.700 „Zwangssoldaten“ aus Eupen-Malmedy gab. Zudem hatten sich rund 10.000 Flamen und 8.000 Wallonen freiwillig in den Dienst in der Wehrmacht und der Waffen-SS gestellt.16 Abgesehen von den rund 10.000 Flamen, die am 7. Mai 1943 zwangsweise der SS-Sturmbrigade „Langemarck“ angegliedert wurden, gab es keine Zwangseinberufungen in die Waffen-SS. 13 Christoph Brüll: Vom Abklingen der „Phantomschmerzen“ Die Bundesrepublik und „Eupen-Malmedy“ (1949- 1985) (unveröffentlichtes Manuskript). 14 Vgl. Peter M. Quadflieg: „Zwangssoldaten“ und „Ons Jongen“. Eupen-Malmedy und Luxemburg als Rekrutierungsgebiet der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Aachen 2008, S. 39. 15 Vgl. Verordnung über die Einbürgerung von Kriegsfreiwilligen, in: RGBl. 1939, Teil I, Nr. 174, S. 1741. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/25/Deutsches_Reichsgesetzblatt_39T1_174_1741.jpg (abgerufen am 8. Mai 2018). 16 Vgl. Vgl. Ulrich Tiedau: Die Rechtslage der deutschsprachigen Bevölkerung in Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg , in: Manfred Kittel, Horst Möller, Jiri Pesek, Oldrich Tuma (Hrsg.): Deutschsprachige Minderheiten nach 1945. Ein europäischer Vergleich, München 2005, S. 477f. Zusätzliche Zahlen stammen aus einem Telefonat mit Dr. Christoph Brüll. In einem Zeitungsartikel vom 11. Mai 2016 ist zudem die Rede von 26.000 Flamen und 13.000 Wallonen. Die Zahlen sind jedoch nicht näher erläutert. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 051/18 Seite 11 Bereits am 10. Januar 1941 hatte die belgische Exilregierung alle Maßnahmen der Besatzungsmacht für ungültig erklärt, da sie die Rechtsauffassung vertrat, die Annexion der belgischen Gebiete sei völkerrechtswidrig gewesen.17 Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1952 ist „Deutschland nicht berechtigt (…), Personen, die zwischen 1938 und 1945 kollektiv eingebürgert worden sind, als deutsche Staatsbürger zu betrachten, wenn sie von ihrem früheren Heimatstaat als seine Staatsangehörigen in Anspruch genommen werden“18 1953 entschied jedoch der Bundesgerichtshof im Falle eines Niederländers, der sich während des Krieges freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte und sich gegen seine Auslieferung als Kriegsverbrecher in die Niederlande wehrte: „Durch freiwillige Zugehörigkeit zur Waffen-SS erwarben deutschstämmige Ausländer - mit Ausnahme französischer und luxemburgischer Staatsangehöriger - die deutsche Staatsangehörigkeit auf Grund des Führererlasses vom 19. Mai 1943 - RGBl I 315 - ohne weiteres.“ In Artikel 16 GG Abs. 1 heißt es: „Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. Gemäß Artikel 16 Abs. 2 GG darf kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden. Der Historiker Christoph Brüll beschreibt in einem Aufsatz, dass rund 300 bis 400 deutschstämmige Belgier nach Kriegsende als „Westflüchtlinge“ in Deutschland aufgenommen und ihnen mit Zustimmung der belgischen Behörden umstandslos die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. „Paradoxerweise führte für die belgischen Behörden der Verlust der belgischen Staatsangehörigkeit nicht zur Staatenlosigkeit, sondern zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit, obwohl der Erlass vom 23. September 1941 ja eigentlich für ungültig erklärt worden war.“19 *** 17 Vgl. Ulrich Tiedau: Die Rechtslage der deutschsprachigen Bevölkerung in Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Manfred Kittel, Horst Möller, Jiri Pesek, Oldrich Tuma (Hrsg.): Deutschsprachige Minderheiten nach 1945. Ein europäischer Vergleich, München 2005, S. 435-522. 18 Zitiert nach Christoph Brüll: Vom Abklingen der „Phantomschmerzen“ Die Bundesrepublik und „Eupen-Malmedy “ (1949-1985) (unveröffentlichtes Manuskript), S. 7. Das Urteil ist online nachlesbar: https://www.rechtsportal .de/Rechtsprechung/Rechtsprechung/1952/BVerfG/Verfassungsrechtliche-Anforderungen-an-die-Feststellung -der-Deutschen-Staatsbuergerschaft (abgerufen am 8. Mai 2018). 19 Vgl. Christoph Brüll: Vom Abklingen der „Phantomschmerzen“ Die Bundesrepublik und „Eupen-Malmedy“ (1949-1985) (unveröffentlichtes Manuskript), S. 6.