© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 049/16 Besondere Wartezeitregelung für Berechtigte nach dem Ghettorentengesetz unter Beachtung des Gleichbehandlungsgebots Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Sachliche Rechtfertigung 7 4.4.1. Legitimer Zweck 8 4.4.2. Geeignetheit 8 4.4.3. Erforderlichkeit 8 4.4.4. Angemessenheit 9 5. Fazit 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 4 1. Rentenanspruch bei Beschäftigung in einem Ghetto Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs sind in den annektierten, dem Deutschen Reich angegliederten Gebieten wie um Łódź und den übrigen von deutschen Truppen besetzten Gebieten in Osteuropa, dem Baltikum und auf dem Balkan sogenannte jüdische Wohnbezirke als Ghettos eingerichtet worden. Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gelten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (Ghettorentengesetz – ZRBG) vom 20. Juni 2002 als gezahlt. Voraussetzung für die Entstehung eines Anspruchs auf Regelaltersrente ist gemäß §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und 4 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit als Mindestversicherungszeit von fünf Jahren mit Beitrags- und Ersatzzeiten. Wird die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt, besteht kein Rentenanspruch. Die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit ist auch dann erforderlich, wenn Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto vorliegen . Das ZRBG enthält keine eigene Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Altersrente und stellt lediglich eine Ergänzung der Vorschriften des SGB VI dar.1 Für die meisten Berechtigten nach dem ZRBG sind neben den in Deutschland anerkannten Beitrags - und Ersatzzeiten auch die nach über- und zwischenstaatlichen Abkommen2 im Ausland zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten auf die allgemeine Wartezeit anzurechnen. 2. Prinzip der Wartezeiterfüllung in der gesetzlichen Rentenversicherung Die Voraussetzung der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit für einen Rentenanspruch ist im Zusammenhang mit dem regelmäßigen Eintritt der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bei Aufnahme einer Beschäftigung zu sehen. So ist die Rentenzahlung grundsätzlich nur für den geschützten Personenkreis, nämlich Versicherte, die die festgelegte Mindestversicherungszeit aufweisen, vorgesehen. Damit werden mit Blick auf die Versichertengemeinschaft und das Allgemeinwohl die ungünstigsten Risiken pauschal vermieden. Die Risikovermeidung erfolgt bei privaten Versicherungen dagegen unter anderem durch gesundheitliche Überprüfungen im Vorfeld des Abschlusses.3 Vom Grundsatz, dass ein Rentenanspruch nur nach Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren besteht, wird lediglich durch die Wartezeitfiktion gemäß § 50 Abs. 1 Satz 2 SGB VI und die vorzeitige Wartezeiterfüllung gemäß § 53 SGB VI abgewichen. 1 Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Februar 2009, Az. B 5 R 70/06 R, mit Verweisen auf vorherige Rechtsprechung . 2 Z.B. Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit vom 17. Dezember 1973, BGBl. 1975 II, S. 246 und BGBl. 1986 II, S. 863; Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit vom 7. Januar 1976, BGBl. 1976 II, S. 1358, BGBl. 1988 II, S. 83 und BGBl. 1996 II, S. 302; Verordnungen zur Koordinierung der sozialen Sicherheit in der EU (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009. 3 U.a. Reichert, Karlheinz (2011). Rentenrechtliche Zeiten und Wartezeiten. In: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln: Luchterhand, Kapitel 14, Rn 106. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 5 Die allgemeine Wartezeit gilt für eine Regelaltersrente oder eine Hinterbliebenenrente im Rahmen der Wartezeitfiktion als erfüllt, wenn bereits zuvor eine Rente bezogen worden ist. Dadurch wird das Vertrauen der Rentenbezieher und der künftigen Hinterbliebenen auf den Fortbestand dieser Ansprüche geschützt. Die Wartezeitfiktion zielt auf die Fälle ab, in denen die vorhergehende Rentenzahlung auf einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung beruhte. Eine vorzeitige Wartezeiterfüllung kommt vor allem für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Betracht, wenn die Erwerbsminderung aufgrund besonderer Umstände, zum Beispiel eines Arbeitsunfalles, eingetreten ist. Für versicherte Verfolgte des Nationalsozialismus ist die allgemeine Wartezeit gemäß der Übergangsregelung des § 245 Abs. 2 Nr. 6 SGB VI vorzeitig erfüllt , wenn sie vor 1992 vermindert erwerbsfähig geworden oder gestorben sind. Es dürfte davon ausgegangen worden sein, dass die Versicherungsbiographien der überlebenden Verfolgten des Nationalsozialismus zu diesem Zeitpunkt abschließend geklärt gewesen waren. Auch nach dem vor 1992 geltenden Recht gab es ohne vorherigen Rentenbezug bei nicht erfüllter Wartezeit keine Möglichkeit, eine Altersrente zu erhalten. Aus der Beschäftigung in einem Ghetto könnte ein Anspruch auf Regelaltersrente auch in den Fällen, in denen die allgemeine Wartezeit nicht erfüllt ist, nur durch eine Ergänzung der gesetzlichen Regelung im Sinne einer Wartezeitfiktion erfolgen, die den Grundsätzen des Rentenversicherungssystems widerspräche. 3. Nachteilsausgleich und Entschädigung in der gesetzlichen Rentenversicherung Bei den Leistungen für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung sind das soziale Entschädigungsrecht nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) und die Zahlungen für Zwangsarbeiter durch die öffentlich-rechtliche Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft von dem in der gesetzlichen Rentenversicherung geregelten Nachteilsausgleich voneinander abzugrenzen. Der Ausgleich rentenrechtlicher Nachteile aufgrund nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem durch die Berücksichtigung der Verfolgungszeiten als rentensteigernde rentenrechtliche Zeit in der Versicherungsbiographie der Verfolgten . § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI regelt heute für Zeiten, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat, die Anerkennung einer Ersatzzeit für Versicherte, die nach ihrem vollendetem 14. Lebensjahr verfolgt worden sind. Die Auffüllung verfolgungsbedingter Lücken in der Versicherungsbiographie durch die Anerkennung von Ersatzzeiten wird durch mehrere Regelungen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 ergänzt, die unter anderem besondere Nachzahlungsmöglichkeiten für Verfolgte vorsahen . Durch die Nachzahlung von Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung konnte die Versicherteneigenschaft erworben werden, um damit die Berücksichtigung von Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI zu ermöglichen. Mit dem WGSVG sollte darüber hinaus ein Ausgleich für alle durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen entstandenen Einbußen in den Versicherungsbiographien der Verfolgten erfolgen. Beispielsweise wird für Zeiten, in denen für Verfolgte aus Verfolgungsgründen für eine Beschäftigung oder Tätigkeit keine Beitragszahlung vorliegt , nach § 14 WGSVG die Rente aus fiktiven Beiträgen berechnet, die aufgrund des erzielten Arbeitsentgelts oder Einkommens zu zahlen gewesen wären. Für Pflichtbeitragszeiten eines Verfolgten , die aus Verfolgungsgründen eine niedrigere Beitragsbemessungsgrundlage aufweisen als Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 6 bei einem nichtverfolgten Versicherten mit gleichartiger Beschäftigung oder Tätigkeit, werden der Rentenberechnung mindestens die Tabellenentgelte nach dem Fremdrentengesetz (FRG) zugrunde gelegt. Ferner sehen die §§ 18 - 20 WGSVG für Verfolgte besondere Regelungen für die Zahlung einer Rente ins Ausland und die Gleichstellung vertriebener Verfolgter mit anerkannten Vertriebenen nach dem Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG) für die Anwendung des Fremdrentengesetzes vor. Für die Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto war die Anerkennung als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung zunächst nicht vorgesehen, da von einer nicht versicherten Zwangsarbeit ausgegangen worden ist. Zudem lagen die meisten Ghettos außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze, so dass eine Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten in der deutschen Rentenversicherung in der Regel von vornherein ausgeschlossen war. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997 waren jedoch für eine Beschäftigung im Ghetto Łódź, das zeitweise in das Deutsche Reich eingegliedert war, sodass die Reichsversicherungsgesetze anzuwenden waren, unter bestimmten Voraussetzungen Beitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen.4 Einer Auszahlung der auf den Beschäftigungszeiten im Ghetto beruhenden Rente standen jedoch in den meisten Fällen die Regelungen zur Zahlung von Renten in das Ausland gemäß §§ 113, 271 und 272 SGB VI entgegen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte dagegen eine Rentenzahlung für alle in den Ghettos Beschäftigten ermöglicht werden, und zwar auch in den nicht dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten.5 Gemäß § 2 ZRBG gelten daher für die Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als gezahlt. Abweichend von den Regelungen über die Zahlung von Renten in das Ausland sind daraus resultierende Rentenzahlungen auch außerhalb Deutschlands ermöglicht worden. Damit erfolgte die wegweisende Entscheidung, Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto in der gesetzlichen Rentenversicherung als anspruchsbegründende und rentensteigernde Beitragszeiten zu berücksichtigen. Im Gegensatz zur Anerkennung von Ersatzzeiten und den Regelungen des WGSVG erfolgt mit dem ZRBG kein Nachteilsausgleich, sondern eine bewusste rentenrechtliche Privilegierung als Surrogat für eine an sich gebotene Leistung nach dem sozialen Entschädigungsrecht. Daraus folgt die Anwendung der die gesetzliche Rentenversicherung sonst prägenden Prinzipien auch für die aufgrund einer Beschäftigung in einem Ghetto zu berücksichtigenden fiktiven Beitragszeiten mit Ausnahme der das Auslandsrentenrecht betreffenden Regelungen. Nachfolgend ist zu prüfen, ob eine gesetzliche Regelung, nach der die allgemeine Wartezeit für Berechtigte mit Beitragszeiten nach dem ZRBG für einen Rentenanspruch als erfüllt gilt, den Vorgaben des Grundgesetzes, hier dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, entsprechen würde. 4 BSG-Urteile, Az. 5 RJ 66/95 und 5 RJ 68/95. 5 Vgl. Bundestags-Drucksache 14/8583. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 7 4. Verfassungsrechtliche Prüfung am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes 4.1. Inhalt des Gleichheitssatzes Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Ein Verstoß gegen das Grundrecht liegt jedoch nur vor, wenn die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bzw. die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. An die Stelle des früher vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Willkürverbots ist die sogenannte Neue Formel getreten, nach der das bloße Vorliegen eines sachlichen Grundes nicht zur Rechtfertigung genügt, sondern „Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht [verlangt werden], dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen“.6 Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich damit je nach Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung reichen.7 4.2. Vergleichbare Normadressaten Gemeinsamer Bezugspunkt für die Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist vorliegend die Gruppe der durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen Verfolgter, die als Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherung mit den anzurechnenden Beitrags- und Ersatzzeiten die allgemeine Wartezeit für einen Anspruch auf Regelaltersrente nicht erfüllen. Eine gesetzliche Regelung über eine fiktive oder vorzeitige Wartezeiterfüllung für Berechtigte nach dem ZRBG würde zwei vergleichbare Gruppen von Normadressaten betreffen: Zum einen gäbe es die ohnehin in der gesetzlichen Rentenversicherung schon privilegierten Berechtigten nach dem ZRBG und zum anderen die übrigen Verfolgten, denen keine Zeiten einer Beschäftigung in einem Ghetto anzurechnen sind. 4.3. Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn die Berechtigten nach dem ZRBG anders behandelt werden als andere von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffene Personen. Berechtigte nach dem ZRBG würden bevorzugt, da im Gegensatz zur Vergleichsgruppe auch bei nicht erfüllter allgemeiner Wartezeit ein Rentenanspruch bestünde. Der Gesetzgeber würde die genannten wesentlich gleichen Personengruppen somit ungleich behandeln. 4.4. Sachliche Rechtfertigung Zu prüfen ist, ob für die Ungleichbehandlung durch die Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG gegenüber anderen Verfolgten ein sachlicher Grund gegeben sein könnte. Dabei ist zu beachten, dass der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber nicht jede Ungleichbehandlung verwehrt. 6 BVerfGE 55, 72/88, 105, 73/110; 107, 205/214. 7 BVerfGE 129, 49 = NVwZ 2011, 1316. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 8 Die erforderliche Rechtfertigung ist umso strikter, je mehr der Gleichheitssatz an den Merkmalen einer Person ansetzt. Der Raum für gesetzgeberische Gestaltungen ist größer, wenn allgemeine Lebenssachverhalte geregelt werden.8 Vorliegend geht es nicht um die Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen für eine Regelaltersrente . Dies wäre die Erreichung der Regelaltersgrenze. Vielmehr betrifft die in Frage stehende Regelung die generell für einen Rentenanspruch zu erfüllende Mindestversicherungszeit. Dies betrifft nicht den Einzelnen in seiner Person, so dass an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weniger strenge Maßstäbe anzulegen sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist.9 4.4.1. Legitimer Zweck Fraglich ist, ob mit der Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG ein legitimer Zweck verfolgt werden kann. Hierzu müsste die Ungleichbehandlung ein mit dem geltenden Recht in Einklang stehendes Ziel verfolgen. Berechtigte nach dem ZRBG, die die allgemeine Wartezeit für eine Regelaltersrente nach geltendem Recht nicht erfüllen, erhalten für die Beschäftigung in einem Ghetto bisher keine entsprechende Gegenleistung. Mit einer Regelung, nach der die allgemeine Wartezeit als erfüllt gilt, könnte ihnen zu einem Rentenanspruch verholfen werden. Ein legitimer Zweck der Ungleichbehandlung liegt somit vor. 4.4.2. Geeignetheit Die Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG müsste geeignet sein, Rentenzahlungen aus den Beschäftigungszeiten in einem Ghetto zu ermöglichen, die nach geltendem Recht aufgrund der nicht erfüllten allgemeinen Wartezeit ausgeschlossen sind. Geeignet ist jede Maßnahme, die die Zielerreichung fördert. Hierfür genügt die Tauglichkeit der Maßnahme, ohne dass diese die bestmögliche sein muss.10 Die Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG durch eine Regelung zur Wartezeitfiktion wäre geeignet, Rentenzahlungen aus den Beschäftigungszeiten in einem Ghetto auch bei geringerer Versicherungsdauer zu ermöglichen und damit eine gewisse Entschädigung zu leisten. 4.4.3. Erforderlichkeit Erforderlich ist die Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG dann, wenn es kein anderes gleich wirksames, aber weniger belastendes Mittel zur Erreichung des Zwecks gibt.11 Zunächst ist 8 BVerfGE 88, 87 (96f.). 9 BVerfGE 120, 274 (318f.). 10 BVerfGE 115, 276 (308). 11 BVerfGE 30, 292 (316; 90, 145 (172); 91, 207 (222). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 9 festzustellen, ob eine Handlungsalternative besteht. Diese könnte darin liegen, die Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto in Fällen nicht erfüllter allgemeiner Wartezeit außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu entschädigen. Einen vergleichbaren Weg ging die Bundesregierung bereits mit der am 1. Oktober 2007 erlassenen Richtlinie, nach der Verfolgte für die Beschäftigung in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war und bisher keine sozialversicherungsrechtliche Berücksichtigung gefunden hat, eine einmalige Leistung erhalten konnten. Diese Anerkennungsrichtlinie ist aufgrund der zahlreichen nachträglichen Rentenbewilligungen aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts am 20. Dezember 2011 neu gefasst worden und sieht nunmehr eine Anerkennungsleistung auch für die Fälle vor, in denen eine rentenrechtliche Berücksichtigung der Beschäftigung in einem Ghetto gegebenenfalls nachträglich erfolgt ist.12 Insofern hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass eine finanzielle Gegenleistung für die Beschäftigung in einem Ghetto durch eine weitere Entschädigungsleistung außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten, nicht als zielführend erwiesen hat. Gegen eine weitere mit der Anerkennungsrichtlinie vergleichbare Entschädigungsregelung spricht zudem, dass sich der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des ZRBG festgelegt hat, Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen und die daraus folgende Rentenleistung entgegen dem sonst geltenden Recht, also über einen Nachteilsausgleich hinaus, auch in das Ausland zu zahlen. Die Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG durch eine Regelung zur Wartezeitfiktion ist für die Gewährung einer Leistung aus einer Beschäftigung in einem Ghetto somit erforderlich. 4.4.4. Angemessenheit Schließlich müsste die Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG angemessen sein. Eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte ist nur dann angemessen, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht.13 Hier ist das Interesse der Berechtigten nach dem ZRBG auf erleichterten Zugang zu einer Rentenzahlung mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung der übrigen Verfolgten und dem Allgemeinwohl abzuwägen. Für einen Anspruch auf Regelaltersrente haben Berechtigte nach dem ZRBG nach dem geltenden Recht dieselben Voraussetzungen zu erfüllen wie andere Versicherte. Zwar kann aus Zeiten einer Beschäftigung in einem Ghetto bei nicht erfüllter Wartezeit keine Rentenzahlung erfolgen, dies lässt sich jedoch mit der Funktion der für einen Rentenanspruch erforderlichen Mindestversicherungszeit in einem verpflichtenden Alterssicherungssystem begründen. 12 Die Anerkennungsrichtlinie ist abrufbar im Internet unter http://www.badv.bund.de/SharedDocs/Downloads /DE/OffeneVermoegensfragen/Ghetto/richtlinie.pdf;jsessionid=DB5C584E795180075FEC00604C6844F7.intranet 1?__blob=publicationFile, zuletzt abgerufen am 12. April 2016. 13 BVerGE 118, 168 (195). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 10 Allerdings hatte sich Gesetzgeber bereits bei der Verabschiedung des ZRBG anstelle einer anderweitigen Entschädigungsleistung dafür entschieden, lediglich die Regelungen des SGB VI hinsichtlich des Anwendungsbereichs und der Auslandsrentenzahlungen zu ergänzen. Dabei wurde möglicherweise aufgrund der Vielschichtigkeit der in Betracht kommenden Gruppen von Verfolgten , die in einem Ghetto beschäftigt waren, eine Reihe von Personenkreisen außer Acht gelassen . Das ZRBG wurde daher später durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG-ÄndG) vom 15. Juli 201414 geändert und der Anwendungsbereich von den vom Deutschen Reich besetzten oder diesem eingegliederten Gebiete auf das Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs ausgeweitet. Ferner wurde erst mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind (SVAbk POL 2014), vom 5. Dezember 201415 die Zahlung von deutschen Renten nach dem ZRBG nach Polen ermöglicht. Mit dem ZRBG-ÄndG und dem SVAbk POL 2014 erfolgte insoweit für bestimmte Personengruppen Abhilfe. Die bisher vorgenommenen Änderungen des ZRBG zeigen, dass bei seiner Verabschiedung offenbar nicht alle Personengruppen bekannt waren, die in einem Ghetto beschäftigt waren und daraus Rentenzahlungen erhalten sollten. Betroffene, die aus welchen Gründen auch immer die allgemeine Wartezeit nicht erfüllen, erhalten somit bis heute weiterhin für die in einem Ghetto geleistete Arbeit keine entsprechende Gegenleistung. Eine über die bisherigen Bestimmungen hinausgehende weitere Privilegierung der Berechtigten nach dem ZRBG im Sinne einer Wartezeitfiktion würde die übrigen versicherten Verfolgten, die aus den Verfolgungszeiten wegen der nicht erfüllten allgemeinen Wartezeit keine Rentenzahlungen erhalten können, wohl nicht unangemessen benachteiligen. Die verfolgungsbedingten Nachteile sind für diese durch die Anerkennung der Ersatzzeiten und die Regelungen des WGSVG bereits ausgeglichen, sodass für sie im Gegensatz zu den Berechtigten des ZRBG nichts anderes gelten kann, als für andere Versicherte. Ein Anspruch auf Regelaltersrente setzt immer die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voraus. Anders stellt sich die Situation der Berechtigten nach dem ZRBG dar. Hier soll die in einem Ghetto geleistete Arbeit entschädigt werden. Dies kann in besonders gelagerten Fällen nur mit Hilfe einer Wartezeitfiktion beziehungsweise vorzeitigen Wartezeiterfüllung erfolgen. Dies dürfte vom gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, dem aufgrund der Wartezeiterfüllung als allgemeiner Lebenssachverhalt ein weiter Raum zukommt, ausreichend gedeckt sein, so dass die Ungleichbehandlung noch angemessen sein dürfte. 5. Fazit Die weitere Privilegierung von Berechtigten nach dem ZRBG durch die Einführung einer Regelung zur Wartezeitfiktion verstößt wohl eher nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Allerdings ist mit der weit über einen Nachteilsausgleich hinausgehenden Zahlung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto bereits an die Grenze dessen gegangen 14 BGBl. I S. 952 f. 15 BGBl. 2015 II, S. 338 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 049/16 Seite 11 worden, was aus systematischen Gründen im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung noch vertretbar ist. Der Umstand, dass nicht in jedem Fall aus einer nach dem ZRBG anzuerkennenden Beschäftigung eine Rentenzahlung erfolgt, ist eine zwangsläufige Folge der generellen Einbeziehung der Beschäftigung in einem Ghetto in die gesetzliche Rentenversicherung, die eine Mindestversicherungszeit vorsieht. Ausnahmen hierzu würden zu weiteren Ungleichbehandlungen führen, die nicht mehr mit der Absicht der gesetzlichen Rentenversicherung als soziales Pflichtsystem für Erwerbstätige vereinbar wären. Dieses verlangt zur pauschalen Risikovermeidung für einen Rentenanspruch bestimmte Mindestversicherungszeiten. Lediglich für vor der Regelaltersgrenze eingetretene Leistungsfälle wie den Eintritt einer verminderten Erwerbsfähigkeit sieht das SGB VI in eng begrenzten Fällen eine Leistungsgewährung durch eine vorzeitige Wartezeiterfüllung und für nachfolgende Rentenansprüche wie der Regelaltersrente eine Wartezeitfiktion vor. Insoweit würde eine Ausnahmeregelung möglicherweise nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, sie wäre aber mit den Prinzipen der gesetzlichen Rentenversicherung unvereinbar. Ende der Bearbeitung