© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 047/20 Einzelfragen zur Fachkräftemigration aus der EU und ausgewählten Drittländern nach Deutschland sowie Auswirkungen auf die Herkunftsländer nebst weiteren Fragestellungen Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 2 Einzelfragen zur Fachkräftemigration aus der EU und ausgewählten Drittländern nach Deutschland sowie Auswirkungen auf die Herkunftsländer nebst weiteren Fragestellungen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 047/20 Abschluss der Arbeit: 23. September 2020 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 3 1. Einleitung 4 2. Erwerbsmigration in der EU 4 2.1. Arbeitnehmerfreizügigkeit 4 2.2. Europäische Binnenmigration 5 2.3. Deutsche Staatsangehörige in anderen EU-Mitgliedstaaten 6 2.3.1. Wohnsitz 6 2.3.2. Studium 6 2.3.3. Erwerbstätigkeit 7 2.4. Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten in Deutschland 7 2.4.1. Wohnsitz 7 2.4.2. Studium 7 2.4.3. Erwerbstätigkeit 8 2.5. Entwicklung der Zuwanderung nach Deutschland 8 3. Fachkräftemigration aus der EU 9 3.1. Begriff 9 3.2. Zuwanderung aus der EU nach Deutschland 10 3.3. Auswirkungen auf die EU-Herkunftsländer 11 3.3.1. Brain Drain und Brain Gain 11 3.3.2. Brain Waste 12 3.3.3. Effekte auf Arbeitsmarkt sowie Bildungs- und Sozialsysteme 13 3.3.4. Auswirkungen in Drittstaaten 14 4. Fachkräftemigration aus Drittstaaten aufgrund von Sonderregelungen 15 4.1. Pflegekräfte aus „Triple Win“-Partnerländern 15 4.1.1. Fachkräftemangel in der Pflege 15 4.1.2. Programmziel und Anwerbungszahlen 15 4.1.3. Auswirkungen auf die Herkunftsländer 17 4.1.4. Größenordnung 18 4.2. Migration aus den Westbalkanstaaten 18 4.2.1. Ausgangslage 18 4.2.2. Westbalkanregelung als Modell für Zuwanderungssteuerung 19 4.2.3. Inanspruchnahme und Evaluierung 20 4.2.4. Wirkungen 21 5. Konsequenzen der Erwerbsmigration für Familien 22 6. Ausbildungskosten in den EU-Herkunftsländern 24 7. EU-Rahmen für nationale Mindestlöhne 25 7.1. Mindestlohnsysteme in den EU-Mitgliedstaaten 25 7.2. Kommissionsinitiative 26 7.3. Auswirkungen in den Mitgliedstaaten 27 8. Europäischer Rahmen für nationale Mindestsicherungssysteme 27 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 4 1. Einleitung Die vorliegende Arbeit befasst sich mit ausgewählten Fragen zur Fachkräftemigration nach Deutschland im Hinblick auf die Erwerbsmigration aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), aber auch aus Drittstaaten. Die statistischen Angaben basieren auf Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis), des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) sowie der Bundesagentur für Arbeit (BA), im Übrigen basieren die Ausführungen überwiegend auf Einzelstudien und wissenschaftlichen Beiträgen zu dem Thema. Aufgrund der Komplexität der einzelnen Themenbereiche werden meist wesentliche Ergebnisse der Studien kurz vorgestellt und zur weiteren Vertiefung verlinkt. 2. Erwerbsmigration in der EU1 2.1. Arbeitnehmerfreizügigkeit Für Menschen aus der EU gibt es aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Beschränkungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gehört neben der Niederlassungsfreiheit, der Warenverkehrsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit zu den Grundfreiheiten des Binnenmarktes der EU. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit gewährleisten dabei gemeinsam die Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU. Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern ist ein in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerter Grundsatz, wonach es Bürgerinnen und Bürgern eines Mitgliedstaates der EU möglich ist, in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, sowie dort zu arbeiten, zu diesem Zweck dort zu wohnen, selbst nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses dort zu bleiben und schließlich hinsichtlich des Zugangs zu Beschäftigung, der Arbeitsbedingungen sowie der Sozialleistungen und Steuervorteile genauso behandelt zu werden wie Staatsangehörige des Aufnahmelandes.2 Seit dem 1. Mai 2011 steht der Zutritt zum deutschen Arbeitsmarkt auch Bürgerinnen und Bürgern aus den acht mittel- und osteuropäischen Staaten offen, die im Jahr 2004 der EU beigetreten sind.3 Am 1. Januar 2014 wurden die Übergangsbestimmungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien (EU2) und am 1. Juli 2015 für Menschen aus Kroatien beendet. 1 Zahlenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich ausnahmslos auf Zeiträume, in denen das Vereinigte Königreich noch Mitgliedstaat der EU war. 2 Vgl. Europäische Kommission, Beschäftigung, Soziales und Integration, Freizügigkeit - EU-Bürger, abrufbar im Internetauftritt der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=457&langId=de (letzter Abruf: 21. August 2020). 3 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 5 2.2. Europäische Binnenmigration Im Jahre 2019 waren nach Angaben von Eurostat insgesamt mehr als 9,5 Millionen EU-Staatsangehörige ab 15 Jahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsland erwerbstätig. Hiervon waren etwa 2,73 Millionen in Deutschland beschäftigt.4 In dem jährlich erscheinenden Bericht der Europäischen Kommission über Beschäftigung und soziale Entwicklung in Europa aus dem Jahr 2014 wird auf die Rolle der Arbeitskräftemobilität im Europäischen Binnenmarkt eingegangen: Europäische Kommission, Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Inklusion : Employment and social developments in Europe 2014 (engl.), abrufbar im Internetauftritt der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?adv- SearchKey=esdereport&mode=advancedSubmit&catId=22&policyArea=0&policy AreaSub=0&country=0&year=0 (letzter Abruf: 1. September 2020). Die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU spielt nach Überzeugung der Europäischen Kommission für ein wirksames Funktionieren der europäischen Arbeitsmärkte und eine erhöhte Arbeitsmarktflexibilität eine ausschlaggebende Rolle. Eine Förderung der Arbeitskräftemobilität in der EU könne für eine optimierte Verteilung der Arbeit innerhalb der EU sorgen und Qualifikationsengpässe beheben. Zudem werde das Risiko von Arbeitslosigkeit gesenkt und Jobaussichten würden gesteigert. Mit 3,3 Prozent der wirtschaftlich aktiven Unionsbevölkerung, die 2013 in einem anderen EU- Staat wohnten, hielt die Europäische Kommission zum damaligen Zeitpunkt die Potentiale der Arbeitskräftemobilität in der EU aber noch nicht für ausgeschöpft. 4 Eurostat, Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit und Erwerbsstatus, zuletzt aktualisiert am 1. September 2020, abrufbar im Internetauftritt von Eurostat unter: http://appsso.eurostat.ec.europa .eu/nui/show.do?query=BOOKMARK_DS-055860_QID_1D4534FC_UID_-3F171EB0&layout =TIME,C,X,0;GEO,L,Y,0;SEX,L,Z,0;CITIZEN,L,Z,1;AGE,L,Z,2;WSTATUS,L,Z,3;UNIT,L,Z,4;INDICA- TORS,C,Z,5;&zSelection=DS-055860AGE,Y_GE15;DS-055860UNIT,THS;DS-055860SEX,T;DS-055860WSTA- TUS,EMP;DS-055860INDICATORS,OBS_FLAG;DS-055860CITIZEN,EU28_FOR;&rankName1=WSTATUS_1_2_- 1_2&rankName2=UNIT_1_2_-1_2&rankName3=AGE_1_2_-1_2&rankName4=CITIZEN_1_2_- 1_2&rankName5=INDICATORS_1_2_-1_2&rankName6=SEX_1_2_- 1_2&rankName7=TIME_1_0_0_0&rankName8=GEO_1_2_0_1&sortC=ASC_- 1_FIRST&rStp=&cStp=&rDCh=&cDCh=&rDM=true&cDM=true&footnes =false&empty=false&wai=false&time_mode=ROLLING&time_most_recent =true&lang=DE&cfo=%23%23%23.%23%23%23%2C%23%23%23 (zuletzt abgerufen am 7. September 2020); die vorliegenden Daten stammen aus der EU Arbeitskräfteerhebung, vgl. dazu https://ec.europa.eu/eurostat /de/web/lfs (letzter Abruf: 7. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 6 2.3. Deutsche Staatsangehörige in anderen EU-Mitgliedstaaten 2.3.1. Wohnsitz Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 8. Mai 2019, hatten im Jahr 2018 etwa 900.000 deutsche Staatsangehörige ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, davon allein etwa 187.000 in Österreich.5 Die Angaben in der Pressemitteilung beruhen auf einer von Eurostat veröffentlichen Statistik zum Bevölkerungsanteil deutscher Staatsangehöriger in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie der Schweiz.6 2.3.2. Studium Eine Zusammenstellung von Zahlen über Art und Umfang von Studienaufenthalten deutscher Studierender im Ausland7 veröffentlicht das Statistische Bundesamt jährlich jeweils für das zwei Jahre zurückliegende Berichtsjahr. Die im Dezember 2019 veröffentlichten Ergebnisse des Berichtsjahres 2017 stützen sich nach Angaben der Verfasser auf Quellen wie das UNESCO Institute for Statistics, Eurostat und die OECD sowie insbesondere eine jährliche Umfrage des Statistischen Bundesamtes bei den mit der Bildungsstatistik befassten Institutionen. Daraus geht hervor, dass im Jahr 2017 etwa 140.400 Deutsche im Ausland studierten. Hiervon entfielen insgesamt 68,8 Prozent auf Mitgliedstaaten der EU. Das entspricht einer Anzahl von 96.314 Studierenden. Die meisten der innerhalb der EU Studierenden nahmen ein Studium in 5 Pressemitteilung Nr. 174 vom 8. Mai 2019 des Statistischen Bundesamtes, abrufbar im Internetauftritt des Statistischen Bundesamtes unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen /2019/05/PD19_174_91.html#:~:text=Presse%20Rund%20900%20000%20Deutsche%20leben %20im%20EU%2DAusland&text=Rund%20187%20000%20Deutsche%20lebten,000%20Personen %20(%2B3%20%25) (zuletzt abgerufen am 2. September 2019). 6 Eurostat, Bevölkerung am 1. Januar nach Altersgruppen, Geschlecht und Staatsangehörigkeit, 2010 bis 2019, zuletzt aktualisiert am 8. Juni 2020, abrufbar im Internetauftritt von Eurostat unter: http://appsso.eurostat.ec.europa .eu/nui/show.do?query=BOOKMARK_DS-075924_QID_6D851EC3_UID_-3F171EB0&layout =TIME,C,X,0;GEO,L,Y,0;CITIZEN,L,Z,0;AGE,L,Z,1;SEX,L,Z,2;UNIT,L,Z,3;INDICATORS,C,Z,4;&zSelection =DS-075924UNIT,NR;DS-075924CITIZEN,DE;DS-075924SEX,T;DS-075924INDICATORS,OBS_FLAG;DS- 075924AGE,TOTAL;&rankName1=UNIT_1_2_-1_2&rankName2=AGE_1_2_-1_2&rankName3=INDICA- TORS_1_2_-1_2&rankName4=SEX_1_2_0_0&rankName5=CITI- ZEN_1_2_0_0&rankName6=TIME_1_0_0_0&rankName7=GEO_1_2_0_1&sortR=ASC_9_FIRST&ppcRK=FIRST&p pcSO=ASC&sortC=ASC_-1_FIRST&rStp=&cStp=&rDCh=&cDCh=&rDM=true&cDM=true&footnes =false&empty=false&wai=false&time_mode=NONE&time_most_recent =false&lang=DE&cfo=%23%23%23.%23%23%23%2C%23%23%23 (zuletzt abgerufen am 2. September 2020). 7 Destatis, Deutsche Studierende im Ausland 2017, 2019, abrufbar im Internetauftritt des Statistischen Bundesamtes unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen /Publikationen/Downloads-Hochschulen/studierende-ausland-5217101197004.pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf: 2. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 7 Österreich auf (28.670 Studierende). Dem folgten die Niederlande (21.858 Studierende) und das Vereinigte Königreich (15.745 Studierende). 2.3.3. Erwerbstätigkeit Daten zur Erwerbstätigkeit deutscher Staatsangehöriger in anderen EU-Mitgliedstaaten liegen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes weder in der amtlichen deutschen noch in der europäischen Statistik vor. Eurostat teilt dazu auf Anfrage mit, dass Daten zu Staatsangehörigkeit oder Herkunftsland und Beschäftgung nicht für die einzelnen Länder ausgewiesen würden, weil in den meisten Mitgliedstaaten nur beschränkt Daten dazu vorlägen.8 2.4. Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten in Deutschland 2.4.1. Wohnsitz Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stammen von den insgesamt 10.000.325 Millionen in Deutschland lebenden Ausländern 4.823.073 Millionen aus Mitgliedstaaten der EU.9 2.4.2. Studium Aus einem Bericht, den der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) im August 2019 veröffentlicht haben ,10 geht hervor, dass 375.000 ausländische Studierende im Wintersemester 2017/2018 in Deutschland eingeschrieben waren. Angaben zu dem Anteil der Studierenden, die aus EU-Mitgliedstaaten kommen, gibt es nicht. Es heißt lediglich, dass 19 Prozent der Studierenden aus Westeuropa kämen. Dies entspricht einer Anzahl von 71.250 Studierenden. 8 Die Daten zu Punkt 2.2 (S. 6, Fn. 4) stammen aus der EU Arbeitskräfteerhebung, vgl. dazu https://ec.europa .eu/eurostat/de/web/lfs (letzter Abruf: 7. September 2020). 9 BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2018, Asyl, Migration und Integration, 2019, S. 118, abrufbar im Internetauftritt des BAMF unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamtin -zahlen-2018.pdf?__blob=publicationFile&v=14 (zuletzt abgerufen am 3. September 2020). 10 DAAD, Wissenschaft weltoffen 2019, abrufbar unter: http://www.wissenschaftweltoffen.de/publikation /wiwe_2019_verlinkt.pdf (zuletzt abgerufen am 7. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 8 2.4.3. Erwerbstätigkeit Ausführliche Zahlen zu sozialversicherungspflichtig beschäftigten Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten in Deutschland werden von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht. Die Tabellen erscheinen quartalsweise, zuletzt zum 31. Dezember 2019, und enthalten Informationen über Bestand, Medianentgelt, Beruf, Arbeitsort, Staatsangehörigkeit, Wirtschaftszweige/Branchen , geflüchtete Menschen, Beschäftigungsverhältnisse, Entgelt, geringfügige Beschäftigung und weitere Merkmale.11 Ausweislich der Tabelle waren in Deutschland im Jahr 2019 etwa 2,2 Millionen EU-Staatsbürger sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 2.5. Entwicklung der Zuwanderung nach Deutschland Die Entwicklung der EU-Migration nach Deutschland wird in einer Studie des Comité d’études des relations franco-allemandes aus dem Jahr 2015 dargestellt: Engler, Marcus / Weinmann, Martin: EU-Migration nach Deutschland: Aktuelle Trends, Comité d’études des relations franco-allemandes, März 2015, abrufbar im Internetauftitt des Institut français des relations internationales (IFRI): https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/ndc_121_engler_weinmann _de_0.pdf (letzter Abruf: 1. September 2020). Die Binnenzuwanderung aus der EU nach Deutschland nimmt danach seit 2010 zu. Den Autoren zufolge ist dies auf die vollständige Gewährung der Freizügigkeit für die Bürger aus den zum 1. Mai 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn), und zum 1. Januar 2007 (Bulgarien, Rumänien) beigetretenen Mitgliedstaaten bei anhaltend großem Wohlstandsgefälle zu Deutschland sowie auf die gestiegene Zuwanderung aus den südeuropäischen Krisenstaaten zurückzuführen. Ein Kapitel zur EU-Binnenmigration findet sich auch im Migrationsbericht der Bundesregierung, der diesen Befund bestätigt: Migrationsbericht der Bundesregierung 2018, Kapitel 2: EU-Binnenmigration, abrufbar im Internetauftritt des BAMF: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Migrationsberichte/migrationsbericht -2018-kap2.pdf?__blob=publicationFile&v=2. (letzter Abruf: 1. September 2020). 11 BA-Statistik, Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten - Deutschland, Länder und Kreise (Quartalszahlen), abrufbar im Internetauftritt der BA-Statistik unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche _Formular.html?submit=Suchen&topic_f=beschaeftigung-eu-heft-eu-heft (zuletzt abgerufen am 7. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 9 Danach haben Zuwanderer aus Rumänien und Polen im Jahr 2018 insgesamt die Hälfte aller Zuzüge im Rahmen der EU-Binnenmigration dargestellt. Über die aktuelle Entwicklung der Zu- und Fortzüge von EU-Staatsangehörigen nach und aus Deutschland berichtet das Forschungszentrum des BAMF im Rahmen seiner Berichtsreihen zu Migration und Integration in einem halbjährlich erscheinenden Freizügigkeitsmonitoring. Graf, Johannes: Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Staatsangehörigen nach Deutschland, Jahresbericht 2019, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Berichtsreihen zu Migration und Integration - Reihe 2, abrufbar im Internetauftritt des BAMF: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/BerichtsreihenMigration Integration/Freizuegigkeitsmonitoring/freizuegigkeitsmonitoring-jahresbericht- 2019.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (letzter Abruf: 1. September 2020). Rumänien, Polen und Bulgarien dominieren danach sowohl bei der Zu- als auch bei der Abwanderung . 3. Fachkräftemigration aus der EU 3.1. Begriff Die Bundesregierung versteht unter einer Fachkraft „grundsätzlich sowohl Personen mit einer anerkannten akademischen als auch einer anerkannten anderweitigen mindestens zweijährigen abgeschlossenen Berufsausbildung.“12 § 18 Abs.3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), der durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom 5. August 2019 mit Wirkung vom 1. März 2020 eingeführt wurde, definiert den Begriff der Fachkraft für das Aufenthaltsgesetz wie folgt: „Fachkraft im Sinne dieses Gesetztes ist ein Ausländer, der 1. eine inländische qualifizierte Berufsausbildung oder eine mit einer inländischen qualifizierten Berufsausbildung gleichwertige ausländische Berufsqualifikation besitzt (Fachkraft mit Berufsausbildung) oder 2. einen deutschen, einen anerkannten ausländischen oder einen einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzt (Fachkraft mit akademischer Ausbildung).“ 12 Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 17/4072 - Fakten und Position der Bundesregierung zum sogenannten Fachkräftemangel vom 15. Februar 2011, Bundestagsdrucksache 17/4784, S. 3. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 10 3.2. Zuwanderung aus der EU nach Deutschland Nach dem verstärkten Zuzug von Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016 überwiegt einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge seit 2017 wieder die Erwerbsmigration aus der EU. 54 Prozent der neu nach Deutschland zugewanderten Arbeitskräfte kommen danach aus einem EU-Mitgliedstaat . Demgegenüber bewege sich der Anteil aus Drittstaaten auf relativ niedrigem Niveau. Die zugrunde liegenden Daten sind die des Ausländerzentralregisters (AZR) aus dem Jahr 2018: Meyer, Matthias: Zuwanderung von Fachkräften nach Deutschland steigt, Bertelsmann -Stiftung, Factsheet vom 23. November 2018, abrufbar im Internetauftritt der Bertelsmann-Stiftung: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Migration_fair_gestalten /IB_Factsheet_Fachkraeftezuwanderung_2018.pdf (letzter Abruf 1. September 2020). Deutschland ist dem Autor zufolge das beliebteste Zielland für Migration im Rahmen der EU- Freizügigkeit. Durch die Zuwanderung aus der EU gewinne Deutschland zahlreiche Fachkräfte. So hätten 2018 knapp 61 Prozent der der in Deutschland lebenden Erwerbstätigen aus EU-Staaten mit Migrationserfahrung einen berufsqualifizierenden Abschluss gehabt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) hat die Qualifikationsstruktur von Einwanderern nach Herkunftsregionen in einem aktuellen Kurzbericht untersucht, der diesen Befund bestätigt: Seibert, Holger / Wapler, Rüdiger: Einwanderung nach Deutschland - Viele Hochqualifizierte , aber auch viele Ungelernte, Institut für Arbeitsmarkt - und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 8/2020, abrufbar im Internetauftritt des IAB: http://doku.iab.de/kurzber/2020/kb0820.pdf (letzter Abruf: 1. September 2020). Danach hätten sich sowohl die Einwanderungszahlen als auch die Zusammensetzung der Herkunftsländer während des Untersuchungszeitraums 2005 bis 2018 stark verändert. Während 2005 die Zuwanderung aus der Türkei sowie aus europäischen Nicht-EU-Staaten eine große Rolle gespielt habe, hätten seitdem die Anteile der EU-Mitgliedstaaten deutlich zugenommen. Die Gründe lägen zum einen in dem uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang für Staatsangehörige aus den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten sowie in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009, die in einigen europäischen Ländern zu einer hohen Arbeitslosigkeit geführt habe. Im Hinblick auf die Qualifikationsstruktur der Neuzugewanderten insgesamt erkennen die Autoren eine Polarisierung: Sowohl die Zahlen derjenigen mit akademischen Abschlüssen als auch derjenigen ohne Abschluss seien gestiegen. Unter den 2016 und 2017 Zugezogenen sei der Akademikeranteil auf 34 Prozent gestiegen, während der Anteil der Personen ohne formalen Berufsabschluss bei 41 Prozent gelegen habe. Der Anteil Hochqualifizierter unter den Neuzugewanderten sei damit deutlich höher als bei Personen mit Migrationshintergrund insgesamt (20 Prozent) und bei Deutschen ohne Migrationshintergrund (23 Prozent). Das Qualifikationsniveau der Neuzugewanderten unterscheide sich stark nach der Herkunftsregion . Bei jenen aus den alten EU-Mitgliedsländern, allerdings ohne die sogenannten „GIPS“-Staaten (Griechenland, Italien, Portugal und Spanien), hätten 61 Prozent einen akademischen Ab- Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 11 schluss und 22 Prozent eine Berufsausbildung. Von den Neuzugewanderten aus den GIPS-Staaten seien 40 Prozent hoch- und 21 Prozent einfach qualifiziert. Bei den Zuwanderern aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ohne Bulgarien und Rumänien seien 22 Prozent hochqualifiziert und 47 Prozent einfach qualifiziert. Der Anteil der Hochqualifizierten bei rumänischen und bulgarischen Neuzuwanderern habe im entsprechenden Zeitraum bei 18 Prozent gelegen. 31 Prozent seien einfach qualifiziert gewesen. 3.3. Auswirkungen auf die EU-Herkunftsländer 3.3.1. Brain Drain und Brain Gain Die generellen Auswirkungen der internationalen Migration hochqualifizierter Fachkräfte in den Herkunfts- und Empfängerländern werden in einer früheren Arbeit dieses Fachbereichs beleuchtet : Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Brain Drain, Wirkungen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in den Herkunftsländern und Fachkräftemigration nach Deutschland, Dokumentation WD 6 - 3000 - 132/19 vom 27. Januar 2020, abrufbar im Internetauftritt des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag.de/resource /blob/684420/04d9e83bba4f2afd3a396be78a2d0eb5/WD-6-132-19-pdf-data.pdf (letzter Abruf: 4. September 2020). Arbeitsmigration kann danach im Herkunftsstaat zu einem Verlust der Investitionen in die Ausbildungen und Fachkräfteengpässen führen. Dem stehen aber auch mögliche positive Effekte gegenüber , wie Geldtransfers der Migranten in die Heimat sowie Wissenstransfers und der Aufbau transnationaler Netzwerke. Im vorliegenden Zusammenhang hervorzuheben ist eine 2017 von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) veröffentlichte Studie zu sogenannten Brain Drain- (Humankapitalverlust) und Brain Gain- Effekten (Humankapitalgewinn) aufgrund der Migration hochqualifizierter Arbeitskräfte innerhalb der EU: Schellinger, Alexander (Hrsg.): Brain Drain - Brain Gain: Europe Labour Markets in times of Crisis, Bonn 2017: FES (engl.), abrufbar im Internetauftritt der FES: http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/12032.pdf (letzter Abruf: 4. September 2020). Die Studie untersucht die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Effekte der Fachkräftemigration auf der Grundlage ausgewählter Länderberichte aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich als Hauptaufnahmeländer und Polen, Ungarn und Lettland sowie Spanien und Portugal Herkunftsländer. Die Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht nur Vorteile hat, sondern dass die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte aus Krisenländern in wirtschaftlich stärkere Länder auch Risiken birgt. Aufgrund der Komplexität und Heterogenität des Migrationsgeschehens sei es jedoch schwierig Brain Drain-Effekte herauszufiltern. Insbesondere verböten sich Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 12 pauschale Beurteilungen ganzer Länder als Gewinner oder Verlierer dieser Entwicklung. Eine aussagekräftige Analyse darüber, wer profitiere und wer verliere, müsse auch stets nationale Besonderheiten sowie auch Migrationsbewegungen von und in Drittstaaten einbeziehen. Vor allem bei Hochqualifizierten könne eher von einem innereuropäischen „Brain Circulation“-Szenario gesprochen werden. Zur Illustration wird im Folgenden kurz auf einzelne Länderberichte eingegangen. Deutschland ist der Studie zufolge eines der Hauptzuwanderungsländer in der EU. Allein zwischen 2007 und 2013 habe sich die innereuropäische Zuwanderung nach Deutschland verdoppelt . Ausschlaggebende Faktoren seien die EU-Osterweiterung sowie die Wirtschafts- und Finanzkrise gewesen. Die aktuelle Zuwanderung aus den EU-Mitgliedstaaten sei von einem hohen Qualifikationsniveau geprägt. Ob Deutschland daher als Gewinner eines Brain Gain zu bezeichnen ist, erscheine indes zweifelhaft, denn es müsse eine gemeinsame Betrachtung von Zu- und Abwanderungen vorgenommen werden, was anhand der Zu- und Abwanderung von Ärzten erläutert wird. Die Zahl der in Deutschland registrierten Ärzte und Ärztinnen aus EU-Mitgliedstaaten habe sich zwischen 2005 und 2013 um 170 Prozent auf 20.000 erhöht, wobei die höchste Steigerung bei Ärzten aus mittel- und osteuropäischen Staaten zu verzeichnen sei. Dem stehe jedoch eine erhebliche Abwanderung von Ärzten aus Deutschland in die Schweiz, nach Österreich und in die USA gegenüber. Die Zahl der zugewanderten Ärzte übertraf nach der Studie erst 2011 die Zahl der abgewanderten. Polen wird als ein Land mit traditionell hoher Auswanderungsrate beschrieben, die mit dem Beitritt Polens zur EU weiter zugenommen habe. Der Anteil polnischer Staatsangehöriger mit Hochschulabschluss sei zwischen 1970 und 2001 von zwei auf zwölf Prozent gestiegen. Da insbesondere gut Ausgebildete mobiler seien, liege in dem erhöhten Bildungsniveau ein Grund für die steigenden Migrationszahlen aus Polen. Der hohe Bildungsgrad habe aber auch zu einem Ungleichgewicht auf dem polnischen Arbeitsmarkt geführt, da es für viele Hochschulabsolventen und -absolventinnen keine passenden Jobs gebe. Daher könne für Polen auch von einem „Brain- Überfluss“ gesprochen werden. In dieser Situation sei Migration erforderlich, um die lokalen Arbeitsmärkte auszugleichen. Spanien, das von der Wirtschafts- und Finanzkrise wie die anderen südlichen EU-Mitgliedstaaten besonders betroffen war, erlebte in der Folge einen massiven Auswanderungsschub. Dies unterstreicht der Studie zufolge die Bedeutung ökonomischer Faktoren für das Migrationsgeschehen . Dennoch könne ein Brain Drain in der spanischen Bevölkerung nicht festgestellt werden, da die meisten der abgewanderten Arbeitskräfte zuvor aus anderen Staaten, weit überwiegend Nicht-EU-Staaten, zugewandert waren. 3.3.2. Brain Waste Ob die während der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008/2009 verstärkte Arbeitskräftemobilität in der EU, wie von der EU-Kommission dargestellt, ausschließlich positiv zu bewerten ist oder Gewinner und Verlierer hervorgerufen hat, wird in einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) aus dem Jahr 2015 untersucht : Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 13 Leschke, Janine / Galgóczi, Bela: Arbeitskräftemobilität in der EU im Angesicht der Krise: Gewinner und Verlierer, WSI Mittelungen 5/2015, abrufbar im Internetauftritt des WSI: https://www.wsi.de/data/wsimit_2015_05_leschke.pdf (letzter Abruf: 1. September 2020). Die Krise hat nach Ansicht der Autoren einige der Schwachstellen der Arbeitskräftemobilität in einem vereinigten, aber diversen Europa sichtbar gemacht. So habe die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU - entgegen der Vorstellung der Kommission - nicht immer zu einer effizienteren Allokation der Arbeit auf einem gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt beigetragen und habe sich vor allem für die Migranten selbst oft als kontrovers erwiesen. Zumindest in Teilen habe kurzfristige Arbeitsmigration in den meisten Empfängerländern der EU15 (alle der EU vor dem 1. Mai 2004 beigetretenen Länder) zwar als Arbeitsmarktpuffer in der Krise gewirkt, Migranten aus den neuen Mitgliedstaaten (EU10) waren aber allgemein stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Einheimische. Einer der wichtigsten Befunde aber sei die unterwertige Beschäftigung der EU10-Migranten, wobei ganz Europa als Verlierer zählen müsse. Diese Verschwendung von Humankapital (sogenanntes „Brain Waste“) verweist, so die Autoren der Studie, auf eine der größten Herausforderungen der Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU. 3.3.3. Effekte auf Arbeitsmarkt sowie Bildungs- und Sozialsysteme Bereits im Jahr 2009 untersuchte eine von der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Inklusion der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie eines europäischen Konsortiums wissenschaftlicher Institute den Einfluss in der Folge der EU-Erweiterung zum 1. Mai 2004 der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die Herkunfts- und Zielländer: Brücker, Herbert / Baas, Timo / Beleva, Iskra et al.: Labour mobility within the EU in the context of enlargement and the functioning of the transnational arrangements, Final Report, Nürnberg 2009 (engl.), abrufbar im Internetauftritt der Europäischen Komission : http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=2509&langId=en (letzter Abruf: 1. September 2020). Darin wird der damals hohe Migrationsfluss aus den neuen Mitgliedstaaten in die Mitgliedstaaten der EU15 näher betrachtet. Danach hatten Migranten aus den neuen Mitgliedstaaten im Durchschnitt höhere Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse als die restliche Bevölkerung in den Herkunftsländern, wurden allerdings in der EU15 deutlich unter ihrem Qualifikationsniveau beschäftigt . Die zunehmende Migration sei mit steigenden Investitionen in Bildung und Ausbildung in den Herkunftsländern verbunden; allerdings könne nach Ansicht der Autoren nicht belegt werden, dass die verbesserten Migrationschancen Grund für diesen Anstieg sind. Mögliche Auswirkungen von Migration auf die Arbeitsmärkte der Herkunftsländer seien ein Rückgang der Arbeitslosigkeit, Arbeitskräftemangel sowie ein daraus folgender Druck auf die Löhne. Die der Studie zugrunde liegenden Daten sprächen für diese Entwicklung der Arbeitsmärkte der Herkunftsländer der Migranten. Die Veränderungen auf den Arbeitsmärkten der neuen Mitgliedsländer seien allerdings auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen. Der Einfluss der Migration auf die Arbeitslosigkeit, den Arbeitskräftemangel sowie die Löhne sei - soweit er überhaupt existiere - nicht substanziell. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 14 Die Autoren gelangen außerdem zu dem Schluss, dass Migration weder zu einem Brain Drain in den Herkunftsländern noch zu einem Brain Gain in den Aufnahmeländern führe. Nur in den baltischen Staaten sei möglicherweise ein Brain Drain-Effekt zu verzeichnen. Die Migration stelle aber für einige Länder im Hinblick auf die demographischen Veränderungen der Gesellschaften ein Problem dar; der Weggang junger Menschen falle aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaften besonders ins Gewicht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch ein 2014 veröffentlichter Beitrag aus dem IAB: Brücker, Herbert: Zuwanderung nach Deutschland - Problem und Chance für den Arbeitsmarkt - Ein Plädoyer für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in: Wirtschaftsdienst, 3/2014, abrufbar im Internetauftritt der Zeitschrift Wirtschaftsdienst: https://100jahre.wirtschaftsdienst.eu/ein-plaedoyer-fuer-die-arbeitnehmerfreizuegigkeit .html (letzter Abruf: 1. September 2020). Die Migration infolge der Eurokrise hat dem Autor zufolge zu einer Senkung der Arbeitslosenquote im Europäischen Währungsraum geführt und eine Überhitzung mit steigenden Löhnen und Preisen in prosperierenden Ländern wie Deutschland verhindert. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit stelle jedoch eine Herausforderung für den Sozialstaat der Herkunftsländer dar. So seien aus Rumänien und Bulgarien bereits rund zehn Prozent der Bevölkerung in andere EU-Staaten ausgewandert, was zu einer Verschärfung des demographischen Wandels und damit zu einer Belastung der dortigen Rentenversicherungssysteme führe. 3.3.4. Auswirkungen in Drittstaaten Die Auswirkungen der innereuropäischen Arbeitskräftemobilität auf die Arbeitsmärkte von Drittländern untersucht eine 2016 erschienene Studie der OECD: Farchy, Emily: The impact of intra-EU mobility on immigration by third-country foreign workers. (OECD social, employment and migration working papers, 179), Paris 2016, abrufbar im Internetauftritt der OECD: https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/5jlwxbzzbzr5-en.pdf?expires =1600091350&id=id&accname=guest &checksum=15DF27AA254030F47ABE3BBA6B4C85E2 (letzter Abruf: 14. September 2020). Messbare Auswirkungen stellt die Autorin auch bei Ausblendung verzerrender Konjunktureffekte nicht fest. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 15 4. Fachkräftemigration aus Drittstaaten aufgrund von Sonderregelungen Das zum 1. März dieses Jahres in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz13 schafft einen rechtlichen Rahmen für gezielte Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten, in dem unter anderem bei anerkannter Qualifikation und Arbeitsvertrag auf eine Vorrangprüfung verzichtet wird. Daneben gibt es jedoch noch andere Wege für Personen aus Drittstaaten, für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach Deutschland zu kommen. Dazu gehören das sogenannte „Triple Win“-Programm sowie die Westbalkanregelung, auf die im Folgenden eingegangen wird. 4.1. Pflegekräfte aus „Triple Win“-Partnerländern 4.1.1. Fachkräftemangel in der Pflege Die demographische Entwicklung, aber auch der medizinische Fortschritt haben bereits in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich der Bedarf an Pflegepersonal in der Kranken- und Altenpflege deutlich erhöht hat. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Eine Analyse der Bundesagentur für Arbeit konstatiert im Pflegebereich einen zunehmenden Mangel an Fachkräften. Bei Altenpflegefachkräften besteht danach bereits ein bundesweiter Fachkräftemangel, bei Krankenpflegefachkräften besteht eine Mangelsituation mit Ausnahme von lediglich vier Bundesländern ebenfalls. Zur Abmilderung dieses Fachkräftemangels wird zunehmend auch auf Zuwanderung ausländischer Pflegekräfte gesetzt.14 4.1.2. Programmziel und Anwerbungszahlen Einer der hierzu verfolgten Ansätze ist das sogenannte „Triple Win“-Programm15, eine Kooperation der Bundesagentur für Arbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), mit dem Pflegekräfte von ihren Herkunftsländern aus für den deutschen Arbeits- 13 Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom 15. August 2019 (BGBl. I 2019, S. 1307). 14 BA-Statistik: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt - Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, Nürnberg, Mai 2020, abrufbar im Internetauftritt der BA-Statistik: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte /Berufe/generische-Publikationen/Altenpflege.pdf (letzter Abruf: 4. September 2020). 15 Das Programm heißt Triple Win, weil alle drei Seiten profitieren sollen: Die Arbeitgeber sollen Pflegefachkräfte gewinnen, die ausländischen Pflegefachkräfte sollen eine berufliche und persönliche Perspektive erhalten und die Herkunftsländer sollen von der lokalen Entlastung ihres Arbeitsmarktes und Geldtransfers der Migranten profitieren. Weitere Informationen über das Programm bietet eine Broschüre der BA für Arbeitgeber: BA/GIZ (Hrsg.): Projekt Triple Win - Vermittlung von Pflegekräften aus dem Ausland, Mai 2019, abrufbar im Internetauftritt der BA: https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/zav/download/1533716310198.pdf (letzter Abruf: 4. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 16 markt gewonnen werden sollen. Partnerländer sind seit 2013 die Philippinen, Bosnien-Herzegowina , Serbien, Tunesien und seit 2019 auch Vietnam, wobei Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Vietnam in eine Berufsausbildung im Pflegebereich in Deutschland vermittelt werden und nicht in eine Beschäftigung als Pflegefachkraft. Angaben zur Zahl der von 2016 bis 2019 im Rahmen des Projekts Triple Win vermittelten und eingereisten Pflegekräfte macht die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. vom Januar 202016: Tabellen: Bundestagsdrucksache 19/16732, S. 2 f. Nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit (Stand: 18. September 2020) wurden seit Jahresbeginn 2020 weitere 472 Vermittlungen erreicht, 356 Teilnehmer sind seitdem eingereist. Sie verteilen sich wie folgt auf die nunmehr fünf Teilnahmestaaten: Bosnien und Herzegowina Serbien Philippinen Tunesien Vietnam Vermittlungen 89 72 197 20 94 Einreisen 55 53 191 0 57 Quelle: Bundesagentur für Arbeit 16 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Harald Weinberg, Pia Zimmermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 19/16102 - Anwerbung von Pflege- und Gesundheitsfachkräften durch die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit , Zentrale Auslands- und Fachvermittlung und die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des Projekts „Triple Win“, Bundestagsdrucksache 19/16732 vom 23. Januar 2020, S. 2 f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 17 4.1.3. Auswirkungen auf die Herkunftsländer Mit der Fachkräftemigration aus der Sicht der Herkunftsländer befasst sich eine bereits 2013 im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erstellte Studie der GIZ auf der Grundlage von Dialogveranstaltungen mit Experten aus sieben ausgewählten Ländern (Armenien, Georgien, Indien, Kolumbien, Marokko, Tunesien und Vietnam). GIZ (Hrsg.): Fachkräftemigration aus der Sicht von Partnerländern - Wege zu einer entwicklungsorientierten Migrationspolitik, Bonn, Mai 2013, abrufbar im Internetauftritt der GIZ: https://www.giz.de/de/downloads/giz2013-de-fachkraeftemigration-sicht-partnerlaender .pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). Die meisten Gesprächspartner bewerten der Studie zufolge die Migration von Fachkräften als positiven Beitrag zur Verringerung der Arbeitslosigkeit und unterwertiger Beschäftigung im Herkunftsland . Geregelte Abwanderung auch von gut ausgebildeten Fachkräften könne danach zumindest dann nicht als Brain Drain gewertet werden, wenn diese im Herkunftsland keine geeigneten Beschäftigungsmöglichkeiten fänden. Ungeregelte und massive Abwerbung im Herkunftsland könne hingegen dort zu Engpässen führen. Positive Effekte ergäben sich vor allem dann, wenn die Fachkräfte später zurückkehrten und dabei zusätzliche Qualifikationen und Kapital mitbrächten. Die angestrebte positive Wirkung für Herkunftsländer, Migranten und Zielland sei aber keineswegs selbstverständlich. Mögliche Probleme seien aus Sicht der Herkunftsländer vor allem das Risiko von Brain Waste durch unterwertige Beschäftigung der Fachkräfte im Zielland und die Belastungen aufgrund der Trennung der Migranten von ihrer Familie (siehe dazu unten Punkt 5, S. 22). Zu den konkreten Auswirkungen des Triple Win-Programms auf die Arbeitsmärkte der Herkunftsländer hat die Bundesregierung im Januar 2020 in der bereits erwähnten Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Stellung genommen. Sie teilt danach die Einschätzung der GIZ, dass die Partnerländer des Triple Win-Programms von einer entwicklungsorientierten Ausgestaltung der Arbeitsmigration von Gesundheitsfachkräften profitieren können: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Harald Weinberg, Pia Zimmermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.: Anwerbung von Pflege- und Gesundheitsfachkräften durch die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Zentrale Auslands- und Fachvermittlung und die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des Projekts „Triple Win“, Bundestagsdrucksache 19/16732, 23. Januar 2020. Wörtlich heißt es darin: „Viele Gesundheitsfachkräfte finden in den Herkunftsländern keinen Arbeitsplatz und suchen nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland, unter anderem in Deutschland. Die Herkunftsländer profitieren beispielsweise von der Entlastung ihres Arbeitsmarktes, von den Rücküberweisungen der rekrutierten Fachkräfte an Familienangehörige und vom Wissens- Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 18 transfer bei zirkulärer Migration. Das Programm ‚Triple Win‘ orientiert sich am Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation (Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personel) und berücksichtigt dabei, dass bei der Auswahl der Länder entwicklungspolitische Kriterien zum Tragen kommen und sog. Brain Drain verhindert werden soll.“ Die durch die Abwerbung von Fachkräften entstehenden volkswirtschaftlichen Kosten der Herkunftsländer würden bei einer entwicklungsorientierten Ausgestaltung der Arbeitsmigration durch den daraus entstehenden Nutzen ausgeglichen. 4.1.4. Größenordnung Mit Blick auf die Zahl der seit 2017 erreichten Anwerbungen von Pflegekräften im Rahmen des Triple Win-Programms dürften bisher nur begrenzte Effekte in den Herkunftsländern zu erwarten sein. Aber auch hinsichtlich des in Deutschland bestehenden Fachkräftemangels in der Pflegebranche wird der Einsatz ausländischer Pflegekräfte nach Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit lediglich zu einer Abmilderung führen.17 Dies ergibt sich auch aus einem Vergleich der bisher erreichten Anwerbungen im Rahmen von Triple Win und dem von den Programmträgern mit 150.000 bezifferten zusätzlichen Bedarf an Pflegekräften bis zum Jahr 202518. 4.2. Migration aus den Westbalkanstaaten 4.2.1. Ausgangslage Mit Kroatien, Slowenien, Bulgarien und Rumänien sind inzwischen vier der ehemals sozialistischen Staaten in Südosteuropa der EU beigetreten. Die verbleibenden sechs Länder der Balkanhalbinsel (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Republik Nordmazedonien und Serbien - im Folgenden auch als Westbalkanländer bezeichnet) streben einen EU-Beitritt an. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat 2017 im Auftrag der GIZ eine Studie über das Migrationsgeschehen und die Arbeitsmärkte in den Westbalkanländern veröffentlicht: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: „Beschäftigung und Migration in der Region Westbalkan - Übersicht der Wanderungsbewegungen und Arbeitsmärkte in der Westbalkanregion“, Berlin, Juni 2017, abrufbar im Internetauftritt des Berlin-Insti- 17 BA-Statistik: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt - Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, Nürnberg, Mai 2020, S. 8, abrufbar im Internetauftritt der BA-Statistik: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte /Berufe/generische-Publikationen/Altenpflege.pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). 18 Vgl. BA/GIZ: Projekt Triple Win-Vermittlung von Pflegekräften aus dem Ausland (Fn. 15), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 19 tuts: https://www.berlin-institut.org/fileadmin/Redaktion/Publikationen/PDF/BI_Beschaeftigung UndMigrationInDerRegionWestbalkan_2017.pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). Die Westbalkanregion ist danach heute wesentlich durch Abwanderung geprägt. Die Arbeitsmärkte funktionierten kaum; die Arbeitslosenquoten lägen in Serbien, Montenegro und Albanien bei fast 20 Prozent, in Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina bei rund 25 Prozent und im Kosovo bei 30 Prozent, während gleichzeitig viele Unternehmen einen Mangel an ausreichend geschultem Personal beklagten, weil die Ausbildung der Erwerbsbevölkerung nicht mit den wirtschaftlichen Veränderungen Schritt halte. Der Studie zufolge haben die Westbalkanstaaten seit 1990 durch Abwanderung ein Zehntel ihrer Bevölkerung verloren. Da insbesondere junge Menschen auswanderten, trügen die Migrationsbewegungen zu der Alterung der Bevölkerung und zu verstärkter Belastung der Sozialsysteme bei. 4.2.2. Westbalkanregelung als Modell für Zuwanderungssteuerung Um den Asyldruck aus den Staaten des Westbalkans zu verringern, wurde mit § 26 Abs. 2 der Beschäftigungsverordnung (BeschV)19 die sogenannte „Westbalkanregelung“ geschaffen, die mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz20 am 24. Oktober 2015 in Kraft getreten ist. Danach erhalten Staatsangehörige von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2020 die Möglichkeit, unabhängig von ihrer persönlichen Qualifikation eine Ausbildung oder eine Beschäftigung in Deutschland aufzunehmen . Voraussetzungen sind ein konkretes Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot und eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit. Die Regelungen zur Vorrangprüfung bleiben unverändert . Nach Auffassung eines Autorenteams des IAB kann die Westbalkanregelung als Experiment für eine beschränkte Öffnung des Arbeitsmarktes für Personengruppen gelten, die über keine Berufsund Hochschulabschlüsse verfügen oder deren Abschlüsse nicht als gleichwertig anerkannt wurden .21 Auch die Autorinnen einer Studie der Migration Strategy Group on International Cooperation and Development vom Oktober 201822 sehen in der Regelung ein wertvolles migrationspolitisches Experiment und Erfolgsmodell für gelungenes Migrationsmanagement. Mit Blick auf eine 19 Artikel 1 der Verordnung zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 24. Oktober 2015, BGBl. I 2015, S. 1789. 20 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 - BGBl. I 2015, S. 1722. 21 Brücker, Herbert / Burkert, Carola: Westbalkanregelung: Arbeit statt Asyl?, in: IAB-Forum, 15. Dezember 2017, S. 2, abrufbar im Internetauftritt des IAB: https://www.iab-forum.de/westbalkanregelung-arbeit-stattasyl /?pdf=6011 (letzter Abruf: 11. September 2020). 22 Bither, Jessica / Ziebarth, Astrid: Legale Zugangswege schaffen, um irreguläre Migration zu verringern? Was wir von der Westbalkanregelung lernen können, abrufbar im Internetauftritt der Robert-Bosch-Stiftung: https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2019-01/Bither_Ziebarth%20Westbalkanregelung %20_Okt%202018.pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 20 mögliche Übertragung auf andere Länder wird jedoch hervorgehoben, dass Migrationspolitik stets regionale und nationale Besonderheiten in den Blick nehmen müsse. 4.2.3. Inanspruchnahme und Evaluierung Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit von September 2020 wurden im Zeitraum von Januar 2016 bis August 2020 insgesamt 250.956 Zustimmungen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach § 26 Abs. 2 BeschV erteilt, im selben Zeitraum wurden 58.974 Anträge abgelehnt. Bei den Ablehnungsgründen dominierte danach deutlich ein jeweils negatives Ergebnis der Vorrangprüfung nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, jedoch mit abnehmender Tendenz. Im Einzelnen stellt sich die Entwicklung der Inanspruchnahme der Westbalkanregelung im Zeitverlauf wie folgt dar: Zustimmungen 2016 2017 2018 2019 2020 gesamt23 42.546 74.577 46.118 62.334 25.481 Albanien 2.977 6.053 7.052 9.665 4.068 Bosnien und Herzegowina 11.330 17.220 9.684 14.862 5.650 Montenegro 1.012 1.433 1.476 2.347 1.067 Nordmazedonien 4.746 8.918 10.059 13.062 5.795 Kosovo 14.419 28.816 10.693 13.802 5.716 Serbien 8.059 12.135 7.145 8.595 3.185 Ablehnungen 2016 2017 2018 2019 2020 gesamt 11.037 19.703 10.657 12.698 4.879 Albanien 956 2.182 2.324 2.732 1.018 Bosnien und Herzegowina 2.559 3.986 1.714 2.604 906 Montenegro 301 406 502 539 219 Nordmazedonien 1.467 2.534 2.624 2.634 1.107 Kosovo 3.783 7.419 2.152 2.496 1.038 Serbien 1.991 3.166 1.341 1.693 591 Quelle: BA-Statistik 23 Abweichungen der Gesamtzahlen beruhen auf Einzelfällen, in denen eine Zuordnung nicht möglich war. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 21 Das IAB hat im April 2020 im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) einen Evaluierungsbericht zur Westbalkanregelung vorgelegt: Brücker, Herbert / Falkenhain, Mariella et al.: Evaluierung der Westbalkanregelung: Registerdatenanalyse und Betriebsfallstudien, BMAS (Hrsg.), April 2020, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF- Publikationen/Forschungsberichte/fb544-evaluierung-der-westbalkanregelung .pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf: 11. September 2020). Dafür wurden im Rahmen einer quantitativen Analyse die Integrationsverläufe von 36.050 Beschäftigten , die die Westbalkanregelung 2016 und 2017 in Anspruch genommen haben, untersucht . Basierend auf qualitativen Interviews mit 130 Personen wurden darüber hinaus Motive, Erfahrungen und Handlungsstrategien von Arbeitgebern, Beschäftigten, Verbänden sowie der Verwaltung analysiert. Die Regelung werde überwiegend von jungen Männern genutzt. Hinsichtlich der Qualifikationsstruktur ergebe sich folgendes Bild: 31 Prozent hätten keine Ausbildung, 59 Prozent einen beruflichen Abschluss und zehn Prozent einen Hochschulabschluss. Ein zentrales Ergebnis der Evaluierung ist, dass die Arbeitsmarktintegration der über die Westbalkanregelung Beschäftigten, auch im Vergleich zu anderen Migrantengruppen, erfolgreich gelungen sei. Aussagen über die Effekte auf die Herkunftsstaaten enthält der Bericht demgegenüber nicht. Eine zusammenfassende Darstellung des Evaluierungsberichts hat das IAB als IAB-Kurzbericht veröffentlicht: Brücker, Herbert / Falkenhain, Mariella et al.: Erwerbsmigration über die Westbalkanregelung - Hohe Nachfrage und gute Arbeitsmarktintegration, IAB-Kurzbericht 16/2020, abrufbar im Internetauftritt des IAB: http://doku.iab.de/kurzber/2020/kb1620.pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). 4.2.4. Wirkungen Aus Sicht des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) ist die Regelung aufgrund der Förderung der Fachkräftezuwanderung vom Westbalkan aus deutscher Sicht positiv zu bewerten. Geis-Thöne, Wido: Kaum noch Asylsuchende, dafür viele qualifizierte Erwerbszuwanderer : IW-Report 41/18, Köln, November 2018, abrufbar im Internetauftritt des IW Köln: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2018/IW- Report_2018-41_Zuwanderung_Westbalkan.pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). Der Autor empfiehlt daher, die geltende Befristung zum Ende des Jahres 2020 aufzuheben. Eine Übertragung auf andere Flüchtlingsherkunftsländer sei dagegen nach aktuellem Stand nicht ratsam . Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 22 Im Hinblick auf eine Eignung der Westbalkanregelung zur Fachkräftegewinnung für Deutschland stellt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2017 fest, dass 2016 nur ein sehr geringer Anteil (knapp sechs Prozent) der Zustimmungen im Rahmen der Westbalkanregelung für sogenannte Engpassberufe, insbesondere in der Gesundheits- und Krankenpflege, erteilt worden sei. Burkert, Carola / Haase, Marianne: Westbalkanregelung: ein neues Modell für die Migrationssteuerung ?, Wiso Direkt 02/2017, abrufbar im Internetauftritt der FES: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/13156.pdf (letzter Abruf: 11. September 2020). Studien zu Effekten der Westbalkanregelung in den Herkunftsländern konnten nicht recherchiert werden. 5. Konsequenzen der Erwerbsmigration für Familien Menschen, die dauerhaft oder zeitweilig in einem anderen als ihrem Heimatland erwerbstätig sind, lassen nicht selten ihre Familien und insbesondere ihre Kinder zu Hause zurück. Zu der Frage, welche Folgen diese Situation möglicherweise hat oder wie sie bewältigt wird, gibt es soweit ersichtlich nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Mit dem Einfluss auf die Entwicklung von Kindern im Falle einer zirkulären Migration befasst sich eine Studie des Mannheimer Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften (GESIS) aus dem Jahr 2013 im Rahmen einer auf eine rumänische Region begrenzten Stichprobe: Ciortuz, Adela / Reinders, Heinz: Determinanten von abweichendem Verhalten bei Kindern im Kontext der zirkulären Migration eines oder beider Elternteile; abrufbar im Internetauftritt des GESIS: https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/39129/ssoar-disk-2013-3-ciortuz _et_al-Determinanten_von_abweichendem_Verhalten_bei.pdf?sequence=1&isAllowed =y&lnkname=ssoar-disk-2013-3-ciortuz_et_al-Determinanten_von_abweichendem _Verhalten_bei.pdf (zuletzt abgerufen am 16. September 2020). Zirkuläre Migration beschreibt dabei die Situation, in der Migranten für einige Monate ins Ausland gehen um zu arbeiten anschließend in ihr Heimatland zurückkehren, dort für einige Zeit verweilen, um dann erneut zur Arbeitsaufnahme in das Zielland zu migrieren. Die Einflüsse zirkulärer Migration auf die Familie und die Kinder sind den Autoren zufolge unterschiedlich zu bewerten. Einerseits seien negative Einflüsse feststellbar, wonach Kinder emotionale und psychosoziale Schwierigkeiten und so Nachteile in ihren Bildungsbiographien hätten. Andererseits zeigten sich positive Effekte durch die Verbesserung der sozioökonomischen Situation von Kindern migrierender Eltern gegenüber Kindern anderer Familien. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 23 Die Studie enthält auch Hinweise darauf, dass familiäre Spannungen entstehen können, weil die Funktionen des abwesenden Partners während der Zeit der Abwesenheit vom jeweils anderen Partner übernommen und bei Rückkehr wieder abgegeben werden müssten. Diese Spannungen seien geringer, wenn die Partner die Beziehung als eher gleichberechtigt erlebten. Diese „Demokratisierung “ der Beziehung erleichtere es den Partnern offenbar, Veränderungen in ihren Rollenkonstellationen besser zu verhandeln und zu einem Konsens bei sich verändernden Bedingungen im Moment der Ab- und Rückreise zu gelangen. Für die Situation von Migrantinnen, die im Ausland Pflegearbeit für Kinder und alte Menschen übernehmen und damit eine Versorgungslücke in ihrer eigenen Familie hinterlassen, prägte die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild den Begriff der „Global Care Chains“. Die im Heimatland entstehende Lücke werde entweder durch Mitglieder des Familiennetzwerks gefüllt oder durch Migrantinnen aus einem wirtschaftlich ärmeren Land, sodass globale Versorgungsketten entstünden. Wie in Deutschland arbeitende polnische Migrantinnen und in Polen arbeitende ukrainische Migrantinnen diese Versorgungslücke bewältigen, untersucht eine weitere GESIS-Studie aus dem Jahr 2011: Lutz, Helma / Palenga-Möllenbeck, Ewa: Das Care-Chain-Konzept auf dem Prüfstand: eine Fallstudie der transnationalen Care-Arrangements polnischer und ukrainischer Migrantinnen, GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 3(1), 2011, S. 9-27; abrufbar im Internetauftritt des GESIS: https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/39454/ssoar-gender-2011-1- lutz_et_al-Das_Care-Chain-Konzept_auf_dem_Prufstand.pdf?sequence=1&isAllowed =y&lnkname=ssoar-gender-2011-1-lutz_et_al-Das_Care-Chain-Konzept _auf_dem_Prufstand.pdf (zuletzt abgerufen am 9. September 2020). In den meisten der untersuchten Familien werde die Pflegearbeit nicht von den Vätern übernommen , sondern auf andere weibliche Personen, insbesondere Großmütter, verteilt. In einigen Familien sei die Care-Arbeit durch Freundinnen der Mutter oder weibliche Verwandte erfolgt, in vielen Fällen sei die Betreuung jüngerer Kinder zeitweise auch durch ältere Geschwister übernommen worden. Im Ergebnis zeige sich, dass die Familien der Migrantinnen sowohl in den Entsende - als auch in den Aufnahmeländern unter fehlender Unterstützung litten. Entsendeländer betrachteten ihre Migranten als „Investoren“ ihrer Volkswirtschaften, wobei die sozialen Kosten den Individuen überlassen blieben. Dasselbe gelte für die Aufnahmeländer, in denen die Migrantinnen als unmittelbar ökonomisch nützliche, temporäre Arbeitskräfte behandelt würden. Die Autorinnen ziehen insoweit einen Vergleich mit dem früheren Gastarbeitersystem, bei dem die Verantwortung, in kulturelles Kapital zu investieren und soziale Risiken einzugehen, auf die Entsendeländer und die Individuen verschoben worden sei. Eine der Autorinnen der Studie hat das Thema als Beitrag zu einer Aufsatzsammlung zur Entwicklungsforschung erneut aufgegriffen, in dem sie die globale Dimension des Phänomens hervorhebt : Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 24 Lutz, Helma: Fallstudie: Global Care Chains, in: Fischer, Karin / Hauck, Gerhard / Boatcă, Manuela (Hrsg.): Handbuch Entwicklungsforschung, Wiesbaden 2016, S. 261-265, verfügbar in der Bibliothek des Deutschen Bundestages: M 5104082. Die subjektive Lebens- und Arbeitssituation polnischer Pendelmigrantinnen im Ruhrgebiet wurden in einer 2010 erschienenen Studie mittels qualitativer Interviews untersucht: Metz-Göckel, Sigrid / Münst, Senganata / Kalwa, Dobrochna; Migration als Ressource: Zur Pendelmigration polnischer Frauen in Privathaushalte der Bundesrepublik, Opladen 2010, verfügbar in der Bibliothek des Deutschen Bundestages: P 5129685. Pendelmigration von Frauen, die in Deutschland im Haushaltssektor arbeiten, ist danach ein vielschichtiges Phänomen mit unterschiedlichen Folgen sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene . Der sichtbarste Effekt sei die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Frauen. Daneben würde aus ihrer Beteiligung bei der Erwirtschaftung des Haushaltseinkommens eine Stärkung der Macht in ihren Familien resultieren. Es zeige sich allerdings auch, dass die Ausreise des weiblichen Elternteils wesentlich häufiger zum Zerfall der Familie führe als im Fall der Migration von Männern. 6. Ausbildungskosten in den EU-Herkunftsländern Die Ausbildungskosten von Fachkräften in den jeweiligen EU-Herkunftsländern lassen sich nicht seriös beziffern oder vergleichen.24 Die Systeme der beruflichen Bildung, die sowohl akademische Studiengänge als auch schulische oder duale Berufsausbildungsgänge umfasst, unterscheiden sich in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten erheblich. So wird beispielsweise die Ausbildung zur Pflegefachkraft nach dem Krankenpflegegesetz bzw. dem Altenpflegegesetz als duale Berufsausbildung durchgeführt, während dieselbe Qualifikation in anderen Ländern durch ein akademisches Studium erworben wird.25 Bei der dualen Berufsausbildung wird ein Teil der Kosten auch von der Privatwirtschaft übernommen. Die strikte Trennung zwischen akademischer und beruflicher Bildung stellt sich dabei als deutsche Besonderheit dar.26 Das Europäische Zentrum zur Förderung der Berufsausbildung (Centre européen pour le développement de la formation professionnelle - Cedefop) hat 2017 einen Bericht veröffentlicht, in dem 24 Vgl. nur für die Kosten eines Medizinstudiums Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste: Einzelfragen zu den Kosten eines Medizinstudiums, Dokumentation WD 8 - 3000-020/020 vom 19. Mai 2020. 25 Vgl. Zentrum zur Anwerbung und nachhaltigen Integration internationaler Pflege- und Gesundheitsfachkräfte, Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (ZIP Hessen): Informationen zu den Herkunftsländern, abrufbar im Internetauftritt des ZIP Hessen: https://www.zip-hessen.de/de/informationen-zu-den-herkunftslaendern (letzter Abruf: 22. September 2020). 26 Elsholz, Uwe: Akademische und berufliche Bildung - Überwindung der Trennung durch lebenslanges Lernen?, in: Schönherr, Kurt Willibald / Tiberius, Viktor (Hrsg.): Lebenslanges Lernen, Wiesbaden 2014, S. 100, verfügbar in der Bibliothek des Deutschen Bundestages: P 5145342, auch als elektronischer Volltext. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 25 die Ausbildungssysteme der beruflichen Bildung in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU anhand statistischer Daten beschrieben werden: Cedefop: On the Way to 2020: data for vocational education and training policies - Country statistical overviews - 2016 update (engl.), Luxemburg 2017, abrufbar im Internetauftritt des Cedefop: https://www.cedefop.europa.eu/de/publications-and-resources/publications/5561 (letzter Abruf: 22. September 2020). Darin wird auch der Anteil der öffentlichen Ausgaben für die berufliche Bildung am Bruttoinlandsprodukt für jedes Land bestimmt und in Relation zu dem EU-Durchschnitt gesetzt. Darüber hinaus enthält die Datensammlung Angaben zu den Ausbildungskosten pro Student und Studentin im Verhältnis zum EU-Durchschnitt. Als Grundlage für einen Kostenvergleich für einzelne Berufsausbildungsgänge eignet sie sich nicht. 7. EU-Rahmen für nationale Mindestlöhne 7.1. Mindestlohnsysteme in den EU-Mitgliedstaaten Einen aktuellen Überblick über die Mindestlohnsysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU, sowie die aktuellen Debatten in den Ländern über eine Reformierung des Systems, gibt eine kürzlich erschienene Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans- Böckler-Stiftung, die im Auftrag der Delegation DIE LINKE. im Europaparlament und der Linksfraktion Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken /Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) erstellt worden ist: Schulten, Thorsten / Müller, Torsten: Zwischen Armutslöhnen und Living Wages: Mindestlohnregime in der Europäischen Union, Demirel, Özlem Alev (Hrsg.), Europäische Studien zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Band 1, Juni 2020, abrufbar im Internetauftritt der Delegation DIE LINKE im Europaparlament: https://www.dielinkeeuropa .eu/kontext/controllers/document.php/976.9/a/09ed87.pdf (letzter Abruf: 22. September 2020). Danach haben in den letzten Jahren in vielen europäischen Ländern intensive politische Auseinandersetzungen insbesondere um die Höhe der bestehenden gesetzlichen Mindestlöhne stattgefunden . Diese seien in den meisten Ländern aber weit von einem angemessenen, also existenzsichernden und armutsfesten, Mindestlohnniveau entfernt.27 27 Bestandteil der Studie ist eine Berechnung der OECD (Abbildung 4, Seite 13), nach der lediglich zwei Länder mit einem universellen Mindestlohnregime (Portugal und Frankreich) über einen Mindestlohn verfügten, der knapp oberhalb von 60 Prozent des Medianlohns liegt und somit nach der Definition der Studie armutsfest ist. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 26 7.2. Kommissionsinitiative Der Gedanke europäischer Mindestvorgaben für einen Mindestlohn in den Mitgliedstaaten der EU ist schon in der 2017 verabschiedeten Europäischen Säule Sozialer Rechte verankert, welche einen Katalog wesentlicher Grundsätze der Beschäftigungs- und Sozialpolitik enthält, auf die sich die drei Institutionen Europäisches Parlament, Europäischer Rat und Europäische Kommission als Leitlinie für künftige Reformen der europäischen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme geeinigt haben. Im sechsten Grundsatz ist das Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf eine gerechte Entlohnung, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, sowie die Gewährleistung angemessener Mindestlöhne und das Ziel, Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verhindern , verankert.28 Zu Beginn dieses Jahres hat die Europäische Kommission ein Verfahren nach Art. 154 AEUV eingeleitet , mit dem Ziel, einen europäischen Rahmen für Mindestlöhne zu entwickeln: Konsultationspapier, Erste Phase der Konsultation der Sozialpartner gemäß Art. 154 AEUV zu einer möglichen Maßnahme zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit gerechten Löhnen, Brüssel, 14. Januar 2020, C(2020) 83 final, abrufbar im Internetauftritt der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=22222&langId=de (letzter Abruf: 22. September 2020). Ziel der Kommission ist es danach, gemeinsame europäische Standards für Mindestlöhne zu entwickeln und so das „Recht auf eine gerechte Entlohnung“ für alle Beschäftigten in der EU zu garantieren . EU-Maßnahmen sollen dabei weder auf eine Harmonisierung der Höhe der Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten zielen noch darauf, einen einheitlichen Mechanismus zur Festlegung des Mindestlohns zu schaffen. Vielmehr sollten bei Achtung der nationalen Gegebenheiten europaweit Mindestlöhne garantiert werden, die jeden Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Die zweite Konsultationsphase ist am 3. Juni 2020 eingeleitet worden. Die Sozialpartner werden in dieser Phase zum möglichen Inhalt und Instrument des geplanten Vorschlags konsultiert: Konsultationspapier, Zweite Phase der Konsultation der Sozialpartner gemäß Art. 154 AEUV zu einer möglichen Maßnahme zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit gerechten Mindestlöhnen, Brüssel, den 3. Juni 2020, C(2020) 3570 final, abrufbar im Internetauftritt der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=22727&langId=de (letzter Abruf: 22. September 2020). 28 Interinstitutionelle Proklamation zur Europäischen Säule sozialer Rechte, 2017/C 428/09, ABl. EU C428 vom 13. Dezember 2017, S. 10, abrufbar auf dem Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Thema-Internationales/instrumentelle-proklamation-zureuropaeischen -saeule-sozialer-rechte.pdf;jsessionid=0CAD9388759DF479DC3588F37C9D4295?__blob=publication File&v=1. (letzter Abruf: 22. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 27 Es sollen auf europäischer Ebene gemeinsame Kriterien für angemessene Mindestlöhne festgelegt werden, die auf nationaler Ebene dem dort geltenden Niveau und dem traditionell gewachsenen System der Lohnfestsetzungen entsprechend umgesetzt werden können. 7.3. Auswirkungen in den Mitgliedstaaten Bislang kann keine Aussage darüber getroffen werden, in welchen Mitgliedstaaten ein europäischer Rahmen für die Festlegung von Mindestlöhnen zu einer Veränderung des Mindestlohnniveaus führen würde. Damit sind auch keine Prognosen darüber möglich, wie sich der Kommissionsvorschlag auf innereuropäische Migrationsbewegungen auswirken könnte. Die Europäische Kommission hat in dem Papier zur zweiten Konsultationsphase Ausführungen zu den Auswirkungen europäischer Maßnahmen bei der Mindestlohnfestsetzung gemacht. Von der Angemessenheit der Mindestlöhne, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Lebensstandards der Arbeitnehmer, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit würden danach vor allem diejenigen profitieren, die die Mehrheit der Niedriglohnempfänger darstellen, nämlich Frauen und Arbeitnehmer mit mittlerem Qualifikationsniveau sowie junge Arbeitnehmer, Geringqualifizierte und Alleinerziehende. Die tatsächlichen Auswirkungen der EU-Maßnahme auf die einzelnen Mitgliedstaaten würden allerdings aufgrund der verschiedenen Merkmale der Mindestlohnsysteme, der Arbeitnehmerschaft und der Wirtschaftsstrukturen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfallen.29 8. Europäischer Rahmen für nationale Mindestsicherungssysteme Ein konkreter Vorschlag zur Schaffung eines EU-weiten Rechtsrahmens für nationale Grundsicherungssysteme liegt derzeit nicht vor. Im Folgenden werden politische Ansätze sowie Gutachten vorgestellt, die sich mit dem Thema befassen. Prognosen über etwaige Auswirkungen auf einzelne Länder können hier nicht getroffen werden. In der Europäischen Säule Sozialer Rechte ist in Grundsatz 14 auch das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen festgelegt: „Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen , und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, sollten Mindesteinkommensleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden.“ 29 Konsultationspapier, Zweite Phase der Konsultation der Sozialpartner gemäß Artikel 154 AEUV zu einer möglichen Maßnahme zur Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit gerechten Mindestlöhnen, Brüssel, den 3. Juni 2020, C(2020) 3570 final, S. 20 f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 28 Das Ziel eines europäischen Rahmens für Mindestsicherungssysteme findet sich auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD der 19. Legislaturperiode30 sowie im Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft31 wieder. Das BMAS hat im September 2017 ein Rechtsgutachten veröffentlicht, in dem die Verbandskompetenz der EU zur Schaffung eines Rechtsrahmens für soziale Sicherungssysteme geprüft wird: Kingreen, Thorsten: Ein verbindlicher Rechtsrahmen für soziale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten, Rechtsgutachten für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, September 2017, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte /fb491-eu-rechtsrahmen-soziale-grundsicherungssysteme.pdf?__blob=publication File&v=2 (letzter Abruf: 22. September 2020). Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass eine Kompetenz der EU zur Schaffung eines Rechtsrahmens für Mindestsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten gegeben sei, der Befugnis allerdings enge Grenzen gesetzt sind. So dürfe der EU-Rechtsrahmen die sozialpolitische Rechtsetzung der Mitgliedstaaten nur ergänzen oder politisch unterstützen und lediglich Mindestvorschriften enthalten . Im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Nationalen Armutskonferenz (NAK) sind in einem 2019 veröffentlichten Gutachten die Perspektiven verbindlicher EU-Mindeststandards für die Mindestsicherung untersucht worden: Benz, Benjamin: Ausgestaltung eines europäischen Rahmens für die Mindestsicherung , Recklinghausen/Bochum, Februar 2019, abrufbar im Internetauftritt der NAK: https://www.nationale-armutskonferenz.de/wp-content/uploads/2019/05/Gutachten- Benz-EU-Mindestsicherung-190318.pdf (letzter Abruf: 22. September 2020). Das Gutachten ist als überarbeitete Fassung unter Einfügung von Aktualisierungen nach der Europawahl 2019 von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht worden: Benz, Benjamin: Ohne Fundament? - Perspektiven verbindlicher EU-Mindeststandards für die Mindestsicherung, 2019, abrufbar im Internetauftritt der FES: https://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/15760.pdf (letzter Abruf: 22. September 2020). 30 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, S. 7, abrufbar im Internetauftritt der Bundesregierung: https://www.bundesregierung.de/resource /blob/656734/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertragdata .pdf?download=1 (letzter Abruf: 22. September 2020). 31 Gemeinsam. Europa wieder stark machen. Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 1. Juli bis 31. Dezember 2020, S. 12, abrufbar im Internetauftritt des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/eu-rp/breg-programm-eurp .pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf: 22. September 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 6 - 3000 - 047/20 Seite 29 Darin werden Ansätze zur Schaffung einer europäischen Mindestsicherung skizziert, der politische Kontext beleuchtet sowie Möglichkeiten der Ausgestaltung eines verbindlichen EU-Rahmens für die Mindestsicherung in den Mitgliedstaaten aufgezeigt. Dem Autor zufolge ist eine armutsfeste Mindestsicherung in der Europäischen Union derzeit in kaum einem Mitgliedstaat gewährleistet , obgleich Mindestsicherungssysteme heute in allen EU-Mitgliedstaaten bestehen. Die nationalen Systeme der sozialen Mindestsicherung in den Mitgliedstaaten der EU sind Gegenstand eines 2015 erschienen Aufsatzes: Neumann, Frieder: Soziale Mindestsicherung in Europa - Effektivität und soziale Gerechtigkeit in der EU-27 im Vergleich, Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften , Jahrgang 13 (2015), Heft 3, 420-447, verfügbar über die Bibliothek des Deutschen Bundestages, auch als elektronischer Volltext. Der Autor stellt die Vielfalt der sozialen Mindestsicherungssysteme in der EU im Hinblick auf Zugangs- und Bezugsregeln sowie Leistungshöhe dar. Zum aktuellen Stand kann auf die tabellarischen Kurzdarstellungen des Gegenseitigen Informationssystems für soziale Sicherheit (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC) Bezug genommen werden: MISSOC: Vergleichende Tabellen, XI. Mindestsicherung, Stand: 1. Januar 2020, abrufbar im Internetauftritt des MISSOC: https://www.missoc.org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank /?lang=de (letzter Abruf: 22. September 2020). ***