© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 046/21 Verfassungskonformität von Tariftreueregelungen in der Pflege nach dem Entwurf des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 2 Verfassungskonformität von Tariftreueregelungen in der Pflege nach dem Entwurf des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 046/21 Abschluss der Arbeit: 4. Juni 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Koalitionsfreiheit 6 2.1. Negative Koalitionsfreiheit 6 2.2. Tarifautonomie 7 3. Arbeitsvertragsfreiheit 7 3.1. Schutzbereich 7 3.2. Eingriff 8 3.3. Rechtfertigung 8 3.3.1. Legitimer Zweck 8 3.3.2. Geeignetheit und Erforderlichkeit 9 3.3.3. Angemessenheit 9 4. Ergebnis 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 4 1. Einleitung Dem Deutschen Bundestag liegt derzeit der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz - GVWG)1 zur Beratung vor. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD haben hierzu in die Ausschussberatung unter anderem einen gemeinsamen Änderungsantrag zu § 72 des Elften Buches Sozialgesetzbuch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)2 eingebracht. Der Antrag sieht vor, dass ab dem 1. September 2022 die Pflegekassen Versorgungsverträge nur mit Pflegeeinrichtungen abschließen dürfen, die an Tarifverträge bzw. kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind oder ihren Beschäftigten im Pflege- und Betreuungsdienst Löhne in mindestens entsprechender Höhe zahlen.3 Nach derzeitiger Rechtslage genügt es gemäß § 72 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI, dass die Pflegeeinrichtungen ihren Beschäftigten, soweit für sie keine zwingenden Mindestentgeltsätze nach dem Arbeitnehmer -Entsendegesetz (AEntG) gelten, ortsübliche Arbeitsvergütung zahlen. Durch das am 29. November 2019 in Kraft getretene Pflegelöhneverbesserungsgesetz4, das eine attraktivere Gestaltung des Pflegeberufs durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche zum Ziel hatte, war § 7a Abs. 1a des AEntG eingeführt worden. Die Bestimmung eröffnete auch der Pflegebranche neben dem bestehenden Verfahren der Festlegung von Mindestentgelten durch eine aus Vertretern der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Arbeitsrechtskommissionen der Kirchen gebildete Kommission die Möglichkeit der Erstreckung tarifvertraglich vereinbarter Mindestentgelte für alle Beschäftigten der Branche. Im Frühjahr dieses Jahres beabsichtigten die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di einen Antrag auf Erlass einer Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Erstreckung der Mindestentgeltsätze zu stellen, auf die sich die Tarifvertragspartner geeinigt hatten. Dieser Antrag scheiterte jedoch an der fehlenden Zustimmung eines kirchlichen Trägers. Zum konkreten gesetzgeberischen Ziel der im vorgelegten Änderungsantrag 5 zum Entwurf eines Gesundheitsweiterentwicklungsgesetzes vorgeschlagenen Tariftreueregelung lässt sich der Antragsbegründung entnehmen, dass in Ergänzung des allgemeinen Ziels der Verbesserung von 1 Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 19. Februar 2021 - Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz - GVWG), Bundestagsdrucksache 19/26822. 2 Änderungsantrag 5 der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 2. Juni 2021 zum Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz - GVWG) - BT-Drs. 19/26822, Ausschussdrucksache 19(14)320.1, S. 18 f. 3 Änderungsanträge zum GVWG (Bundestagsdrucksache 19/26822), Stand 3. Mai 2021. 4 Gesetz für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz) vom 22. November 2019, BGBl. I 2019, S. 1756. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 5 Qualität und Transparenz in der Gesundheitsversorgung5 auch eine Verbesserung der Entgeltsituation in der Pflege zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs angestrebt wird. Er steht insoweit auch in der Tradition des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes6. Im Änderungsantrag selbst wird dies an anderer Stelle hervorgehoben: „Die Verbesserung der Entlohnung von Pflegekräften war eine Kernforderung der Konzertierten Aktion Pflege, in der sich die Bundesregierung gemeinsam mit Akteuren der Pflegebranche auf Maßnahmen zur Verbesserung der Pflege geeinigt hat. Neben der Weiterentwicklung des rechtlichen Instrumentariums zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen in der Pflege im Pflegelöhneverbesserungsgesetz wurde eine flächendeckende Entlohnung nach Tarif als wesentliches Element für eine solche Verbesserung gesehen. […]“7 Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) hat die geplante Regelung scharf kritisiert : Versorgungsverträge an eine tarifliche Entlohnung zu koppeln, ohne betriebliches Risiko und unternehmerisches Wagnis angemessen zu berücksichtigen, schnüre den Unternehmen die Luft ab. Die Bundesregierung gefährde damit sehenden Auges die Existenz tausender Pflegeeinrichtungen samt Arbeitsplätzen.8 Die vorliegende Arbeit soll der Frage nachgehen, ob die in § 72 Abs. 3a und 3b SGB XI-Entwurf (SGB XI-E) vorgesehene Tariftreueregelung eine Verletzung der in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) garantierten Koalitionsfreiheit der nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen und deren unternehmerischer Freiheit in ihrer Ausprägung als Arbeitsvertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG darstellen könnte. Dabei kann im vorgegebenen zeitlichen Rahmen lediglich eine kursorische Prüfung vorgenommen werden. Bereits vorliegende Stellungnahmen für die am 7. Juni 2021 vorgesehene Sachverständigenanhörung zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz im Ausschuss für Gesundheit bleiben unberücksichtigt. Soweit die geplante Neuregelung des § 72 Abs. 3a und 3b SGB XI-E den Abschluss von Versorgungsverträgen einer öffentlichen Pflegekasse mit einer privaten Pflegeeinrichtung davon abhängig macht, dass diese ihren Pflegedienstbeschäftigten unabhängig von einer Tarifbindung Arbeitsentgelt in der tariflich festgelegten Höhe zahlt, unterscheidet sich diese Regelung in ihrer rechtlichen und faktischen Wirkung auf die im Wettbewerb befindlichen Unternehmen nicht grundsätz- 5 Bundestagsdrucksache 19/26822 (Fn. 1), S. 1. 6 Vgl. zur Zielsetzung des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 23. September 2019, - Entwurf eines Gesetzes für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz), Bundestagsdrucksache 19/13395, S. 1. 7 Ausschussdrucksache 19(14)320.1 (Fn. 2), S. 23 f.; vgl. zur Konzertierten Aktion Pflege im Internetauftritt des Bundesministeriums für Gesundheit: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien /3_Downloads/K/Konzertierte_Aktion_Pflege/191129_KAP_Gesamttext__Stand_11.2019_3._Auflage.pdf (letzter Abruf: 3. Juni 2021). 8 Vgl. bpa: „Regierung entscheidet gegen private Pflege“, Pressemitteilung vom 2. Juni 2021, abrufbar im Internetauftritt des bpa: https://www.bpa.de/News-detail .12.0.html?&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=8459&cHash=2617c5062d02bfdd91ba0c87d2510028 (letzter Abruf: 3. Juni 2021). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 6 lich von Tariftreueklauseln im Vergaberecht, die die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung tarifvertraglich festgelegter Arbeitsentgelte knüpfen. Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung aber hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer Entscheidung aus dem Jahr 2006 bestätigt.9 Im Folgenden kann vielfach auf die dortige Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zurückgegriffen werden. 2. Koalitionsfreiheit 2.1. Negative Koalitionsfreiheit Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Das Grundrecht schützt Einzelne in ihrer Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten, aber auch ihr fernzubleiben oder sie zu verlassen (negative Koalitionsfreiheit). Die negative Koalitionsfreiheit der am Vergabeverfahren beteiligten Unternehmer wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch eine Tariftreueverpflichtung nicht eingeschränkt . Durch das Gesetz werde auch kein faktischer Zwang oder erheblicher Druck zum Beitritt ausgeübt. „Dass sich ein nicht tarifgebundener Unternehmer wegen des Tariftreuezwangs veranlasst sehen könnte, der tarifvertragsschließenden Koalition beizutreten, um als Mitglied auf den Abschluss künftiger Tarifverträge Einfluss nehmen zu können, auf die er durch die Tariftreueerklärung verpflichtet wird,“ liege fern.10 Dies gilt ebenso für die Tariftreueverpflichtung als Voraussetzung für den Abschluss eines Versorgungsvertrages mit einer Pflegekasse. Die negative Koalitionsfreiheit schütze aber nicht davor, dass „der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsverhandlungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt […]. Allein dadurch, dass jemand den Vereinbarungen fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, ist ein spezifisch koalitionsrechtlicher Aspekt nicht betroffen.“11 9 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00 - BverfGE 116, S. 202, 203. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sah allerdings zunächst durch Tariftreueregelungen die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) - ex-Artikel 49 EG) verletzt (EuGH, Urteil vom 3. April 2008 - Rechtssache  C-346/06 „Rüffert“), hat aber „das zentrale Argument der Rüffert-Entscheidung explizit aufgegeben: Dass nämlich Arbeitnehmer, die öffentliche Aufträge erfüllen, einen Sonderschutz gegenüber den Arbeitnehmern der Privatwirtschaft erfahren, sei der (zwischenzeitlich einschlägigen) RL 2004/18/EG immanent . Deren Art. 26 erlaube ‚insbesondere soziale und umweltbezogene Aspekte‘ für die Auftragsausführung. Deshalb sei ein vergabespezifischer Mindestlohn nicht schon deshalb mit der Dienstleistungsfreiheit unvereinbar , weil er nur für die Ausführung von öffentlichen Aufträgen gilt (RegioPost Rn. 65 f., 71 ff.)“; zitiert nach Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 4. Auflage 2017, § 5 TVG, Rn. 459. Ähnliches dürfte auch im vorliegenden Zusammenhang gelten. 10 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 67 (zitiert nach juris). 11 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 68 (zitiert nach juris) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 7 Die Koalitionsfreiheit der nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen ist mithin von der geplanten Neuregelung nicht berührt. 2.2. Tarifautonomie Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die kollektive Koalitionsfreiheit, also den Bestand der Koalition, ihre organisatorische Ausgestaltung und ihre koalitionsspezifische Betätigung und umfasst insbesondere auch die Tarifautonomie als wesentlichen Koalitionszweck. Dieses autonome Normsetzungsrecht der Koalitionen, deren tarifvertragliche Regelungen im Rahmen der Tariftreuepflicht zugrunde gelegt werden, ist jedoch schon deshalb nicht berührt, weil sich das Recht ohnehin nur auf die tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und nicht auf Außenseiter bezieht. Andere Koalitionen werden in ihrer Tarifautonomie nicht betroffen, weil die gesetzlich vorgeschriebene Auflage kein rechtliches oder faktisches Hindernis zum Abschluss von Tarifverträgen errichtet .12 3. Arbeitsvertragsfreiheit 3.1. Schutzbereich Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert für alle Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Der Schutzbereich der Berufsfreiheit umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowohl die Berufswahl als auch die Berufsausübung. Von der Freiheit der Berufsausübung ist die gesamte berufliche Tätigkeit umfasst. Hierzu zählt unter anderem auch die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist „die Freiheit, den Inhalt der Vergütungsvereinbarungen mit Arbeitnehmern und Subunternehmern frei aushandeln zu können, […] ein wesentlicher Bestandteil der Berufsausübung , weil diese Vertragsbedingungen in besonderem Maße den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen bestimmen und damit für die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte, der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit kennzeichnend sind.“13 Es handelt sich um den gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG spezielleren Schutz.14 12 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 70 ff. (zitiert nach juris) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 13 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 100 (zitiert nach juris). 14 BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 1 BvR 1842/11, 1 BvR 1843/11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 8 3.2. Eingriff Als Eingriffe in die Berufsfreiheit stellen sich alle verbindlichen Vorgaben für die Aufnahme und die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit dar.15 Die Bestimmungen des § 72 Abs. 3a und 3b SGB XI-E regeln nicht allgemein das Wettbewerbsverhalten der Pflegeeinrichtungen, sondern fordern die Tariftreue als Voraussetzung für den Abschluss eines Versorgungsvertrages mit einer Pflegekasse. Sie bewirken damit eine bestimmte Ausgestaltung der Verträge, die die Pflegeeinrichtung mit ihren Beschäftigten zur Durchführung des Versorgungsvertrages abschließt. Unternehmen , die keinen Versorgungsvertrag abschließen wollen, werden dagegen von der Regelung nicht erfasst. Ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG ist aber bereits bei jeder faktischen oder mittelbaren Beeinträchtigung des Schutzbereichs gegeben. Ausreichend ist eine objektiv berufs-regelnde Tendenz der Regelung, sofern sich die mittelbaren Folgen nicht als bloßer Reflex der Regelung darstellen.16 Vorliegend dürfte nach dem einleitend dargestellten sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz (siehe oben Abschnitt 1, S. 4 f.) angenommen werden können, dass mit der gesetzlichen Neuregelung gerade auch erreicht werden soll, dass die Geltung tarifvertraglicher Entgeltabreden ausgeweitet wird, und damit die Einflussnahme auf die Arbeitsbedingungen sogar von der Zweckrichtung des Gesetzgebers umfasst ist. Festzustellen ist mithin, dass das Grundrecht der Pflegeeinrichtungen aus Art. 12 Abs. 1 GG durch die Neuregelung betroffen wäre. 3.3. Rechtfertigung Ein Grundrechtseingriff ist verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn er verhältnismäßig ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist.17 3.3.1. Legitimer Zweck Die im Rahmen des Entwurfs eines Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes vorgeschlagene Neuregelung soll neben dem allgemeinen Gesetzesziel der Steigerung von Qualität und Transparenz in der Gesundheitsversorgung dem sozialpolitischen Anliegen der Aufrechterhal- 15 Vgl. Jarass in: Jarass/Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 12 Rn. 14. 16 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 82 (zitiert nach juris). 17 Vgl. Jarass in: Jarass/Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 12 Rn. 40 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 9 tung eines funktions- und leistungsfähigen Pflegesystems durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege zur Stärkung der Attraktivität des Pflegeberufs beitragen (siehe oben Abschnitt 1, S. 4 f.). Sie dient damit einem legitimen Zweck. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu Tariftreueregelungen im Vergaberecht darüber hinaus hervorgehoben, dass der Gesetzgeber auch „die Ordnungsfunktion der Tarifverträge unterstützen [kann], indem er Regelungen schafft, die bewirken, dass die von den Tarifparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder mittelbar zur Anwendung kommen. Dadurch wird die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte, im öffentlichen Interesse liegende autonome Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen abgestützt, indem den Tarifentgelten zu größerer Durchsetzungskraft verholfen wird.“18 3.3.2. Geeignetheit und Erforderlichkeit Den Abschluss von Versorgungsverträgen der Pflegekassen mit Pflegeeinrichtungen von der Einhaltung tariflicher Entgelte abhängig zu machen und damit in großem Umfang deren Anwendung zu fördern, erscheint auch als geeignetes Mittel zur Erreichung des dargestellten Ziels. Die geplante Neuregelung erscheint auch erforderlich, da ein milderes zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignetes Mittel nicht ersichtlich ist. Insbesondere dürfte die in § 7a Abs. 1a AEntG vorgesehene Möglichkeit, tarifvertragliche Mindestentgeltsätze auf Antrag der Tarifvertragsparteien mittels Erlass einer Rechtsverordnung durch das BMAS auf nicht organisierte Arbeitgeber zu erstrecken, kein milderes Mittel darstellen. Die Tariferstreckung hätte nämlich unabhängig von dem Abschluss eines Versorgungsvertrages eine zwingende Anwendung durch alle Arbeitgeber in der Pflege zur Folge. Bei der Feststellung der Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Regelung kommt dem Gesetzgeber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich ein Einschätzungs - und Prognosevorrang und ein weiter Beurteilungsspielraum zu.19 3.3.3. Angemessenheit Die Regelung muss jedoch auch angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Als Berufsausübungsregelung stellt die Tariftreueregelegung nach § 72 Abs. 3a und 3b SGB XI-E nach der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Drei-Stufen-Theorie20 einen Eingriff auf der ersten Stufe dar, zu dessen Rechtfertigung vernünftige Erwägungen des Gemeinwohl erforderlich und ausreichend sind. Eingriffe in die Berufsfreiheit dürfen aber „nicht weiter gehen, als es 18 BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 92 (zitiert nach juris) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 19 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 1987 - 1 BvR 1086/82 u.a., Rn. 75; BVerfG mit weiteren Nachweisen; BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2006 - 1 BvL 4/00, Rn. 92 (jeweils zitiert nach juris). 20 Vgl. BVerfG, Urteil vom 11. Juni 1958 - 1 BvR 596/56. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 10 die sie rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erfordern […]. Eingriffszweck und Eingriffsintensität müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen.“21 Bei einer „Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe“ muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleiben. Eine Berufsausübungsregelung darf den Betroffenen nicht „übermäßig belasten“22. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist die Schwere des mit der Regelung verbundenen Eingriffs gegenüber den mit der Regelung verfolgten Zielen abzuwägen.23 Für die Beurteilung der so beschriebenen verfassungsrechtlichen Angemessenheit der Regelung einer Tariftreuepflicht ist zunächst festzustellen, dass das Gewicht des Eingriffs in die Arbeitsvertragsfreiheit der Pflegeeinrichtungen dadurch gemindert ist, dass die Verpflichtung zur Zahlung der Tariflöhne nicht unmittelbar aus einer gesetzlichen Anordnung folgt, sondern aus der eigenen Entscheidung, einen Versorgungsvertrag mit einer Pflegekasse abzuschließen. Freilich dürfte die Entscheidungsfreiheit der Pflegeeinrichtungen angesichts der weit überwiegenden Erbringung von Pflegeleistungen über die soziale Pflegeversicherung begrenzt sein. Inwieweit die Koppelung des Abschlusses von Versorgungsverträgen an eine Tariftreuepflicht tatsächlich Pflegeeinrichtungen in nennenswerter Zahl in ihrer Existenz gefährden könnte, wie von Interessenvertretern geltend gemacht wird (siehe oben Abschnitt 1, S. 5), lässt sich an dieser Stelle nicht beurteilen.24 Immerhin aber kommt Tarifverträgen zumindest in Bezug auf die vertragschließenden Sozialpartner eine Richtigkeitsvermutung zu. „Es darf grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das von den Tarifvertragsparteien erzielte Verhandlungsergebnis richtig ist und die Interessen beider Seiten sachgerecht zum Ausgleich bringt.“25 Auch eine Übertragung dieses Ergebnisses auf Außenseiter vermag die Richtigkeitsvermutung nicht in Frage zu stellen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang im Übrigen darauf, dass die Regelung erst im September 2022 greifen soll, die Pflegeeinrichtungen mithin ausreichend Zeit haben, sich auf die Neuregelung einzustellen. Dem stehen erhebliche rechtfertigende Gemeinwohlbelange entgegen. „Aufgrund der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen und der nicht umkehrbaren demographischen Entwicklung ist die Sicherstellung der Qualität der Pflegeversorgung gesellschaftspolitisch 21 BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 1 BvR 1904/95, Rn. 70 ; ähnlich BVerfG, Beschluss vom 3. Juli 2003 - 1 BvR 238/01, Rn. 39 (jeweils zitiert nach juris). 22 BVerfG, Beschluss vom 17. Oktober 1990 - 1 BvR 283/85, Rn. 74 (zitiert nach juris) mit weiteren Nachweisen. 23 Kämmerer in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 12 Rn. 130. 24 So vermutet die VdK-Präsidentin Verena Bentele, dass dieses Argument eher auf eine drohende Verringerung erwarteter und den Anlegern versprochener Gewinnmargen abziele; Deutschlandfunk: VdK-Präsidentin Verena Bentele- Pflege durch Vollversicherung finanzieren, Verena Bentele im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern am 1. Juni 2021, als Text abrufbar im Internetauftritt des Deutschlandfunks: https://www.deutschlandfunk .de/vdk-praesidentin-verena-bentele-pflege-durch.694.de.html?dram:article_id=498130 (letzter Abruf: 3. Juni 2021). 25 BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16, Rn. 146. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/21 Seite 11 zu einer der wichtigsten Aufgaben geworden […].“26Aus dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG folgt die staatliche Aufgabe, ein funktions- und leistungsfähiges Pflegesystem sicherzustellen und aufrechtzuerhalten. Dies hat schließlich im Juni 2019 zur Vereinbarung der sogenannten Konzertierten Aktion Pflege27 als gemeinsame Initiative zur Stärkung der Pflege geführt, zu deren Kernforderung bessere Entlohnung von Pflegekräften zählt. Auch wenn bessere Löhne in der Pflege für sich allein den weiter zunehmenden Fachkräftemangel in dieser Branche nicht werden beseitigen können, so können sie doch einen wichtigen Beitrag zu dessen Bekämpfung des Pflegekräftemangels leisten. Als weiterer sozialpolitischer Aspekt ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass die Beschäftigten in der bisher tarifrechtlich kaum geregelten Pflegebranche wie andere Beschäftigte Anspruch auf angemessene und faire Entlohnung ihrer Tätigkeit haben. Angesichts der überragenden Bedeutung einer funktionsfähigen Pflegeversorgung und unter Berücksichtigung der weiteren, diesen Zweck flankierenden Regelungsziele dürfte die Grenze der Zumutbarkeit für die Pflegeeinrichtungen insgesamt gewahrt und die vom Gesetzgeber vorgenommene Gewichtung zugunsten der Gemeinwohlbelange verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein. 4. Ergebnis Unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfte mithin die im Änderungsantrag 5 der Fraktionen der CSU/CSU und SPD zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz vorgesehene Neuregelung des § 72 Abs. 3a und 3b SGB XI-E damit im Hinblick auf Grundrechte der Betreiber von Pflegeeinrichtungen aus Art. 9 Abs. 3 und Art. 12 Abs. 1 GG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Eine rechtlich bindende Entscheidung hierüber ist dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. *** 26 Müller, Elke-Luise, Die Allgemeinverbindlichkeit nach neuem Recht in der Pflege, öAT 2019, S. 29 (31). 27 Siehe oben S. 5, Fn. 7.