© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 046/20 Einzelfragen zu Ermittlung der Regelbedarfe und Anpassung der Regelsätze für Lebensunterhaltsleistungen nach SGB II und SGB XII Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 2 Einzelfragen zu Ermittlung der Regelbedarfe und Anpassung der Regelsätze für Lebensunterhaltsleistungen nach SGB II und SGB XII Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 046/20 Abschluss der Arbeit: 8. Juli 2020 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 3 1. Einleitung Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurden um Auskunft zu der Frage gebeten, über welchen Zeitraum hinweg es rechtlich zulässig sei, Preissteigerungen bei regelbedarfsrelevanten Gütern des täglichen Bedarfs bei der Berechnung der Leistungen, die das verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) umsetzten, nicht zu berücksichtigen. Zudem wurde unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), gemäß der das Existenzminimum zu jederzeit sichergestellt sein müsse, gefragt, wann eine Anpassung der Regelbedarfe aufgrund von Preissteigerungen erforderlich sei. Ferner wurde um Erläuterung gebeten, ob der aktuell geltende Regelbedarf eine Komponente für Ansparungen auf Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln und anderen alltäglichen Gütern enthalte und gegebenenfalls wie diese Komponente empirisch belegt sei. Der vorliegende Sachstand stellt zunächst die Grundzüge der Ermittlung der Regelbedarfe dar. Sodann wird die sogenannte Ansparkonzeption der Regelbedarfe erläutert und dargelegt, für welche Bedarfe diese grundsätzlich vorgesehen ist. Abschließend wird das Verfahren zur Prüfung einer unterjährigen Anpassung der Regelsätze aufgrund von außergewöhnlichen Preissteigerungen beschrieben. 2. Ermittlung des Regelbedarfs und der Regelsätze Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts garantiert das Grundgesetz mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Art. 1 Abs. 1 GG begründe diesen Anspruch, während das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber den Auftrag erteile, ein menschenwürdiges Existenzminimum tatsächlich zu sichern.1 Der Umfang dieses Anspruchs könne im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.2 Das Grundrecht bedürfe vielmehr der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber , der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen bezüglich der konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten habe.3 Der gesetzliche Leistungsanspruch müsse dabei so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers decke, 1 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Rn. 133 (zitiert nach juris); BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 74 (zitiert nach juris). 2 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Rn. 138 (zitiert nach juris). 3 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 74 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 4 wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukomme , die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden seien.4 Die entsprechenden Bedarfe der Hilfebedürftigen seien zeit- und realitätsgerecht zu erfassen. Dabei habe er einen Entscheidungsspielraum bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs.5 Zur Konkretisierung des Anspruchs habe der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen. Hierzu habe er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibe ihm dafür keine bestimmte Methode vor; er dürfe sie vielmehr im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen.6 Das dergestalt gefundene Ergebnis sei zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln , da der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden könne, in dem er bestehe. Der Gesetzgeber habe daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er einen Festbetrag vorsehe.7 Der Gesetzgeber hat das Verfahren zur Ermittlung des Regelbedarfs nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch 8 mit Wirkung zum 1. Januar 2011 neu geregelt. Der Neuregelung war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 vorausgegangen, der gemäß das damalige Verfahren zur Bestimmung der Regelsätze nicht den Vorgaben von Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG entsprach. Mit Beschluss vom 23. Juli 2014 befand das Bundesverfassungsgericht die Neuregelungen zur Ermittlung der Regelbedarfe und Bestimmung der Höhe der Regelsätze als mit dem Grundgesetz zum Entscheidungszeitpunkt („derzeit“) vereinbar, formulierte jedoch auch Handlungsvorgaben für die Zukunft an den Gesetzgeber.9 4 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, Rn. 136 f. (zitiert nach juris). 5 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 76 (zitiert nach juris). 6 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Rn. 139 (zitiert nach juris). 7 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Rn. 140 (zitiert nach juris). 8 BGBl. I 2011 Nr. 12, S. 453. 9 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 143 ff. (zitiert nach juris). Siehe zu einem Teil der Handlungsvorgaben unten unter 2.2 und 2.3 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 5 2.1. Grundzüge der Ermittlung der Regelbedarfe und Fortschreibung der Regelbedarfsstufen Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende und Sozialgeld) und dem dritten und vierten Kapitel des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) sollen vom Gesetzgeber anerkannte, eine menschenwürdige Existenz sichernde Bedarfe abdecken.10 Die grundlegenden Bestimmungen zur Ermittlung der Regelbedarfe und der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen sind in den §§ 28, 28a SGB XII geregelt, auf die § 20 Abs. 1a SGB II verweist. Ausgangspunkt für die Ermittlung der Regelbedarfe sind gemäß § 28 Abs. 1 SGB XII die Ergebnisse einer (jeweils neuen) bundesweiten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), auf deren Grundlage die Höhe der Regelbedarfe in einem Bundesgesetz11 neu ermittelt wird. Der Gesetzgeber stellt damit auf ein Statistikmodell ab, das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine grundsätzlich geeignete Methode ist, die zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen bedarfsgerecht zu bemessen. Die EVS liefere hierfür auch geeignete empirische Daten.12 Das Statistische Bundesamt führt in der Regel im Fünfjahresrhythmus eine neue EVS durch (§ 1 Abs. 1 Gesetz über die Statistik der Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte), an der jeweils 0,2 Prozent aller privaten Haushalte in Deutschland auf freiwilliger Basis teilnehmen.13 Bei der Ermittlung der Regelbedarfsstufen sind Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen, für die die durch die EVS nachgewiesenen tatsächlichen, das heißt empirisch ermittelten, Verbrauchsausgaben unterer Einkommensgruppen die Grundlage bilden, § 28 Abs. 2 SGB XII. Der Gesetzgeber hat damit normativ festgelegt, dass sich die Regelbedarfe am Konsumniveau anderer Haushalte mit niedrigem Konsumniveau orientieren sollen. Da laut Gesetzesbegründung die hierzu nötigen Daten über Konsumhöhe und -struktur nicht in Form eines Idealtyps vorlägen, müssten sie als Durchschnitt des empirisch festgestellten individuellen Konsums einer Gruppe von Haushalten ermittelt werden (Referenzgruppe).14 10 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 3 (zitiert nach juris). 11 Das Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz - RBEG, hier RBEG 2017) vom 22. Dezember 2016 regelt die konkrete Ausgestaltung der Ermittlung der Regelbedarfe für die Zeit ab dem 1. Januar 2017. Grundlage für das RBEG 2017 war die EVS 2013, § 1 Abs. 1 RBEG 2017. Die vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Sonderauswertungen für das RBEG 2017 entsprechen den Sonderauswertungen für die Regelbedarfsermittlung im RBEG vom 24. März 2011 (RBEG 2011). Durch das RBEG 2011 wurden die zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Regelbedarfsstufen auf der Grundlage der EVS 2008 festgesetzt, § 1 Abs. 1 RBEG 2011. 12 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 89 (zitiert nach juris). 13 Lutz in: Bundesministerium für Arbeit, Übersicht über das Sozialrecht, 16. Auflage 2019, Kapitel 12, Rn. 109. 14 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 17/3404 vom 26. Oktober 2010, S. 51. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 6 Für die Ermittlung der Regelbedarfsstufen beauftragt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales das Statistische Bundesamt mit Sonderauswertungen, die auf der Grundlage einer neuen EVS vorzunehmen sind. Dabei haben Sonderauswertungen zu den Verbrauchsausgaben von Haushalten unterer Einkommensgruppen zumindest für Haushalte (Referenzhaushalte) zu erfolgen , in denen nur eine erwachsene Person lebt (Einpersonenhaushalte), sowie für Haushalte, in denen Paare mit einem Kind leben (Familienhaushalte), § 28 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XII. Zudem ist festzulegen, welche Haushalte, die Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII beziehen, nicht als Referenzhaushalte zu berücksichtigen sind. Für die Bestimmung des Anteils der Referenzhaushalte an den jeweiligen Haushalten der Sonderauswertungen ist ein für statistische Zwecke hinreichend großer Stichprobenumfang zu gewährleisten, § 28 Abs. 3 Satz 4 SGB XII. Als Referenzhaushalte werden von den Einpersonenhaushalten die unteren 15 Prozent und von den Familienhaushalten die unteren 20 Prozent berücksichtigt; die Referenzhaushalte eines Haushaltstyps bilden jeweils eine Referenzgruppe, § 4 RBEG 2017. Die in den Sonderauswertungen des Statistischen Bundesamtes ausgewiesenen Verbrauchsausgaben der Referenzhaushalte sind für die Ermittlung der Regelbedarfsstufen insoweit als regelbedarfsrelevant zu berücksichtigen, als sie zur Sicherung des Existenzminimums notwendig sind und eine einfache Lebensweise ermöglichen, wie sie einkommensschwache Haushalte aufweisen , die ihren Lebensunterhalt nicht ausschließlich aus Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bestreiten, § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB XII. Berücksichtigt werden damit nicht sämtliche Verbrauchsausgaben der Referenzhaushalte für einzelne Güter und Dienste, sondern lediglich diejenigen , die vom Gesetzgeber als regelbedarfsrelevant definiert werden (vgl. § 27a Abs. 1 SGB XII und § 20 Abs. 1 SGB II). Die Summen der sich nach § 28 Abs. 4 SGB XII ergebenden regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben der Referenzhaushalte sind Grundlage für die Prüfung der Regelbedarfsstufen, § 28 Abs. 5 Satz 1 SGB XII. Die regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben sind für Einpersonenhaushalte in § 5 RBEG 2017 und für Familienhaushalte in § 6 RBEG 2017 aufgeführt. Die in den einzelnen Abteilungen der EVS zu berücksichtigenden Werte sind in der Tabelle in §§ 5 Abs. 1, 6 Abs. 1 RBEG 2017 zusammengefasst. Die in die Tabelle eingestellten Beträge für die einzelnen Abteilungen der EVS ergeben sich aus der Summe der als regelbedarfsrelevant ausgewählten Beträge der entsprechenden Ausgabenpositionen der jeweiligen Abteilung. Die vollständigen Tabellen der für die Ermittlung genutzten Sonderauswertungen des Statistischen Bundesamtes sind als Anlage der Begründung des Gesetzentwurfs beigefügt.15 Die Summe der auf Grundlage der EVS im Rahmen der Sonderauswertungen ermittelten regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben stellt ein monatliches Budget dar, das nach dem SGB XII in Regelbedarfsstufen eingeteilt und in 15 Becker in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beckscher-Onlinekommentar Sozialrecht, 56. Edition, Stand: 1. März 2020, § 5, Rn. 14 mit Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch , Bundestagsdrucksache 18/9984 vom 17. Oktober 2016, S. 109 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 7 Form von Regelsätzen zur Deckung der in § 27a Abs. 1 SGB XII festgelegten Bedarfe gezahlt wird. Vergleichbares gilt für die Regelbedarfe nach § 20 Abs. 1 SGB II.16 In Jahren, in denen keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolgt, werden die Regelbedarfsstufen jeweils zum 1. Januar fortgeschrieben, § 28a Abs. 1 SGB XII. Gemäß § 28a Abs. 2 SGB XII erfolgt die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen aufgrund der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen sowie der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter je beschäftigten Arbeitnehmer nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Mischindex). Maßgeblich ist dabei jeweils die Veränderungsrate, die sich aus der Veränderung in dem Zwölfmonatszeitraum, der mit dem 1. Juli des Vorvorjahres beginnt und mit dem 30. Juni des Vorjahres endet, gegenüber dem davorliegenden Zwölfmonatszeitraum ergibt. Für die Ermittlung der jährlichen Veränderungsrate des Mischindexes wird die sich aus der Entwicklung der Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen ergebende Veränderungsrate mit einem Anteil von 70 Prozent und die sich aus der Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter je beschäftigten Arbeitnehmer ergebende Veränderungsrate mit einem Anteil von 30 Prozent berücksichtigt. Die jeweilige Veränderungsrate wird durch das Statistische Bundesamt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ermittelt, § 28a Abs. 3 SGB XII. § 40 SGB XII ermächtigt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, durch Rechtsverordnung den für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII maßgeblichen Prozentsatz zu bestimmen und die Anlage zu § 28 SGB XII um die sich durch die Fortschreibung zum 1. Januar eines Jahres ergebenden Regelbedarfsstufen zu ergänzen. Seit dem 1. Januar 2020 ist die Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2020 (RBSFV 2020) in Kraft. 2.2. Pauschalbetrag und Ansparkonzeption Gemäß § 27a Abs. 3 Satz 2 SGB XII beziehungsweise § 20 Abs. 1 Satz 3 und 4 SGB II stellt der Regelsatz einen monatlichen Pauschalbetrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar. Die Leistungsberechtigten entscheiden über dessen Verwendung eigenverantwortlich und haben dabei das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen. Laut der Gesetzesbegründung werde mit der Entscheidung des Gesetzgebers, welche Verbrauchsausgaben für die Regelbedarfsermittlung berücksichtigt werden, nicht die individuelle Entscheidung über die Verwendung des monatlichen Budgets vorweg genommen. Mit der Ermittlung von Regelbedarfen werde demnach nicht entschieden, wofür und in welchem Umfang Leistungsbe- 16 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 17/3404 vom 26. Oktober 2010, S. 51. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 8 rechtigte das Budget verwendeten. Allein die Höhe des Budgets werde bei der Ermittlung von Regelbedarfen nach dem Statistikmodell ermittelt.17 Die Leistungsberechtigten könnten jedoch selbst entscheiden, welche Güter sie konkret im Rahmen des ihnen zur Verfügung stehenden Budgets anschafften, so der Gesetzgeber. Entscheidend sei, dass sie verantwortungsvoll wirtschaften müssten, um alle notwendigen Ausgaben aus dem begrenzten Budget finanzieren zu können. Die Logik des Statistikmodells liege gerade darin, dass in der Realität nicht exakt die für die einzelnen regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben berücksichtigten Beträge anfielen, sondern die tatsächlichen Verbrauchsausgaben im Einzelfall davon abwichen.18 Nach der Gesetzeskonzeption sei deshalb allein entscheidend, dass der Gesamtbetrag des Budgets für die Bestreitung von Verbrauchsausgaben ausreiche, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten. Dabei müssten sich zwangsläufig Mehrausgaben im Vergleich zu den eingerechneten Durchschnittsausgaben durch Minderausgaben an anderer Stelle ausgleichen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die individuelle Zusammensetzung der Verbrauchsausgaben aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen und wegen der unausweichlichen Notwendigkeit von Prioritätensetzungen von Monat zu Monat unterschiedlich sei.19 Mit dem vom Gesetzgeber gewählten Modell ist auch eine Ansparkonzeption verbunden, der die Erwartung zugrunde liege, dass für nicht regelmäßig anfallende Bedarfe Anteile des Budgets zurückgelegt werden, da die als regelbedarfsrelevant erfassten Verbrauchsausgaben auch monatliche Durchschnittsbeträge für größere und nur in längeren Abständen anfallende Anschaffungen (zum Beispiel Kühlschränke oder Waschmaschinen20) berücksichtigten. Erst in der Summe dieser als Teilzahlungen aufzufassenden Durchschnittswerte über viele Monate hinweg ergäben sich die für die Anschaffungen erforderlichen Aufwendungen. Die Ansparkonzeption dient folglich gerade nicht dazu, länger anhaltende Preissteigerungen regelmäßig anfallender Bedarfe zu kompensieren . Bereits in seinem Urteil von 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht es als verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden angesehen, einmaligen Bedarf, der nur in unregelmäßigen Abständen, etwa zur Anschaffung von Winterkleidung, entstehe, durch Anhebung der monatli- 17 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 17/3404 vom 26. Oktober 2010, S. 51. 18 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 17/3404 vom 26. Oktober 2010, S. 51, 97. 19 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 17/3404 vom 26. Oktober 2010, S. 51. 20 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 18/9984 vom 17. Oktober 2016, S. 39 (Betrag der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben in Abteilung 05 für Erwachsene Innenausstattung , Haushaltsgeräte und -gegenstände, laufende Haushaltsführung). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 9 chen Regelleistungen in der Erwartung zu decken, dass der Hilfebedürftige diesen erhöhten Anteil für den unregelmäßig auftretenden Bedarf zurückhalte.21 In seiner Entscheidung im Jahr 2014 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, dass ein solches Modell mit dem Grundgesetz vereinbar sei, wenn die Höhe der pauschalen Leistungsbeträge für den monatlichen Regelbedarf es zulasse, einen Anteil für den unregelmäßig auftretenden oder kostenträchtigeren Bedarf zurückzuhalten. Der Gesetzgeber müsse daher künftig darauf achten, dass der existenznotwendige Bedarf insgesamt gedeckt sei und bei der Bemessung der Regelbedarfe ausreichend Spielraum für einen Ausgleich lassen.22 Das Gericht verwies darauf, dass der Hilfebedürftige, dem ein pauschaler Geldbetrag zur Verfügung gestellt werde, über seine Verwendung im Einzelnen selbst bestimmen und einen gegenüber dem statistisch ermittelten Durchschnittsbetrag höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen ausgleichen könne. Dies sei ihm auch zumutbar. Dass sich der Gesamtbetrag aus statistisch erfassten Ausgaben in den einzelnen Abteilungen der Einkommens - und Verbrauchsstichprobe zusammensetze, bedeute nicht, dass jedem Hilfebedürftigen die einzelnen Ausgabenpositionen und -beträge stets uneingeschränkt zur Verfügung stehen müssten . Es sei vielmehr dem Statistikmodell eigen, dass der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen vom statistischen Durchschnittsfall abweichen könne. Die regelleistungsrelevanten Ausgabepositionen und -beträge seien von vornherein als abstrakte Rechengrößen konzipiert, die nicht bei jedem Hilfebedürftigen exakt zutreffen müssten, sondern erst in ihrer Summe ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten sollten. Wenn das Statistikmodell entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben angewandt und der Pauschalbetrag insbesondere so bestimmt worden sei, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen möglich sei, könne der Hilfebedürftige in der Regel sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestalten, dass er mit dem Festbetrag auskomme; vor allem habe er bei besonderem Bedarf zuerst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten sei.23 Das Bundesverfassungsgericht warnte aber vor der Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft würden aufgrund der sehr hohen Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. 21 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Rn. 150 (zitiert nach juris). 22 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 119. 23 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Rn. 205. In seinem Beschluss von 2014 warnte das Bundesverfassungsgericht aber vor der Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft würden aufgrund der sehr hohen Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. Rechne der Gesetzgeber einzelne Verbrauchspositionen als nicht bedarfsrelevant heraus und müsse er, wenn auf einen internen Ausgleich zwischen Bedarfspositionen, auf ein Ansparen oder auch auf ein Darlehen zur Deckung existenzsichernder Bedarfe verweise, jedenfalls die finanziellen Spielräume sichern, die dies tatsächlich ermöglichten, oder anderweitig für Bedarfsdeckung sorgen (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 120 f., 147). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 10 2.3. Prüfung der Notwendigkeit einer unterjährigen Anpassung der Regelsätze aufgrund außergewöhnlicher Preissteigerungen Wie eingangs erwähnt, hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2014 Handlungsvorgaben an den Gesetzgeber formuliert. So müsse der Gesetzgeber beispielsweise zeitnah darauf reagieren, wenn sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter ergebe. Sei eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen , dürfe der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.24 In der Gesetzesbegründung zum RBEG 2017 wird der Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf außergewöhnliche Preisentwicklungen aufgegriffen.25 Um auch kurzfristige Preisentwicklungen und deren Auswirkungen auf das regelbedarfsrelevante Preisniveau beobachten zu können, so die Gesetzesbegründung, erhalte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom Statistischen Bundesamt nicht nur einmal jährlich die Veränderungsrate der regelbedarfsrelevanten Preise für die Fortschreibung der Regelbedarfe, sondern auch monatlich den jeweils aktuellen Preisindex für diese Preise sowie monatlich Daten zur Entwicklung aller wichtigen Kategorien von Gütern und Dienstleistungen.26 Zu dem konkreten Verfahren der unterjährigen Prüfung der Preisentwicklung und deren Auswirkung auf das regelbedarfsrelevante Preisniveau hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wie folgt Auskunft gegeben: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales beobachtet fortlaufend die regelbedarfsrelevante Preisentwicklung, um neben der regelmäßigen Neuermittlung der Regelbedarfe und deren jährlicher Fortschreibung anhand eines Mischindexes aus Preis- und Lohnentwicklung ggf. durch unterjährige Maßnahmen eine etwaig drohende existenzielle Bedarfsunterdeckung als Folge extremer Preissteigerungen zu verhindern. Hierfür erhält das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom Statistischen Bundesamt - zusätzlich zu der regelbedarfsrelevanten Preisentwicklung für die jährliche Fortschreibung der Regelbedarfe nach § 28a Absatz 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) - monatlich den aktuellen Preisindex für die regelbedarfsrelevanten Preise des jeweiligen Vormonats. Dies ermöglicht, 24 BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 144. 25 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 18/9984 vom 17. Oktober 2016, S. 26 f. 26 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 18/9984 vom 17. Oktober 2016, S. 26. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 046/20 Seite 11 die Preisentwicklung fortlaufend und damit auch kurzfristig zu beobachten. Anhand der jeweiligen Indexwerte wird die monatliche Veränderung für die regelbedarfsrelevanten Preise gegenüber dem Vorjahr sowie deren aktuelle Entwicklung im Zeitverlauf ermittelt. Zudem beobachtet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales monatlich die Preisentwicklung einzelner Gruppen von Gütern und Diensten anhand der vom Statistischen Bundesamt monatlich veröffentlichten Daten zur Entwicklung aller wichtigen Kategorien von Gütern und Dienstleistungen (Fachserie 17 Reihe 7). Die Beobachtung der Preisentwicklung einzelner regelbedarfsrelevanter Güter und Dienste, wie beispielsweise Nahrungsmittel, ist in diesem Zusammenhang lediglich ein Mittel zur Untersuchung der Ursachen und der Beurteilung des möglichen weiteren Verlaufs für die Entwicklung des regelbedarfsrelevanten Preisindexes. Für die Gesamtbeurteilung ist hingegen allein die Entwicklung des regelbedarfsrelevanten Preisindexes - also die Preisentwicklung aller in die Höhe der Regelbedarfe eingegangenen Güter und Dienstleistungen - maßgeblich. Im Ergebnis stellt dieses Verfahren sicher, dass außergewöhnliche Preisentwicklungen und deren Auswirkungen auf das regelbedarfsrelevante Preisniveau kontinuierlich überprüft und hierauf zeitnah reagiert werden kann und in der Folge jederzeit das soziokulturelle Existenzminimum gewährleistet ist. Die Vorgehensweise zur Ermittlung des Regelbedarfs wurde vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 - bestätigt. Volkswirtschaftlich wird hinsichtlich der anzustrebenden jährlichen Preissteigerung eine Art von Zielgröße in Höhe von etwa 2 Prozent angestrebt. Dieser Wert erklärt sich daraus, dass er weder eine nennenswerte Geldentwertung zur Folge hat, noch die Gefahr einer deflationären Entwicklung erwarten lässt. Im Hinblick auf die regelbedarfsrelevante Preisentwicklung ist bislang festzustellen , dass dieser Wert nur selten und wenn nur geringfügig überschritten wurde. Dies gilt auch für die bisherige regelbedarfsrelevante Preisentwicklung in diesem Jahr. Diese umfasste in den Monaten März 2020 bis Mai 2020 jeweils knapp über 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr (März: +2,1 % / April: +2,2 % / Mai: +2,2 %). Für Juli 2020 wird durch Normalisierungen auf der Nachfrage- wie auch der Angebotsseite (Industrie und Handel) und vor allem aufgrund der Umsatzsteuersenkung im Rahmen des Konjunkturpakets davon ausgegangen, dass die 2 Prozentmarke wieder unterschritten wird. Angesichts dieser moderaten Preisdynamik sieht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aktuell keine Veranlassung, die jährliche Fortschreibung durch eine unterjährige Fortschreibung der Regelbedarfe zu ergänzen.“ ***