© 2018 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 045/18 Begriffsbestimmung und Problemfelder der Zuflusstheorie in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 045/18 Seite 2 Begriffsbestimmung und Problemfelder der Zuflusstheorie in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 045/18 Abschluss der Arbeit: 20. April 2018 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 045/18 Seite 3 1. Begriffsbestimmung Die Zuflusstheorie, mitunter wie im Steuerrecht auch Zuflussprinzip genannt, dient der zeitlichen Zuordnung von Einnahmen für die Prüfung eines Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen . Anspruch auf Arbeitslosengeld II als Leistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende besteht gemäß § 9 des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) unter anderem nur für Hilfebedürftige, die ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern können. Einkommen und Vermögen sind insoweit auf den zur Sicherung des Lebensunterhalts erforderlichen Bedarf anzurechnen und bedürfen zu diesem Zweck der Abgrenzung. Einkommen sind gemäß § 11 Abs. 1 SGB II Einnahmen in Geld abzüglich bestimmter abzusetzender Beträge. Als zu verwertendes Vermögen sind gemäß § 12 SGB II unter Beachtung von Freibeträgen und bestimmter sogenannter Schonvermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Unter Einkommen wird im Allgemeinen verstanden, was jemand in einem bestimmten Zeitraum wertmäßig dazu erhält. Dagegen fällt unter das Vermögen, was jemand bereits vor einem bestimmten Zeitpunkt hatte. In vielen Fällen ist jedoch eine detailliertere Abgrenzung erforderlich. Das Bundesverwaltungsgericht hatte hierzu bereits vor Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum 1. Januar 2005 im Recht der Sozialhilfe die modifizierte Zuflusstheorie entwickelt , die von der Sozialrechtsprechung weiterentwickelt worden ist.1 Danach wird als maßgebender Zeitraum der Kalendermonat bestimmt: Sämtliche Einkommen eines Kalendermonats werden mit auf den Bedarf desselben Kalendermonats angerechnet. Modifiziert wird die Zuflusstheorie durch die fingierte Verteilung einmaliger Einnahmen auf mehrere Monate, soweit der Leistungsanspruch anderenfalls durch die Anrechnung entfiele. Ist rechtlich kein anderer Zeitpunkt bestimmt, ist insoweit der Zeitpunkt des tatsächlichen Zuflusses maßgebend .2 Entsprechende Regelungen enthielt zunächst die Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung vom 17. Dezember 2007.3 Seit der Neufassung des § 11 SGB II zum 1. April 2011 findet sich die modifizierte Zuflusstheorie auch im Gesetzestext in den Absätzen 2 und 3 wieder. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Unterscheidung von Einkommen und Vermögen ist die erste Antragstellung gemäß § 37 SGB II. Dabei wirkt der Antrag auf den Ersten des Antragsmonats zurück. Ein nach dem 1 Ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, Urteile vom 30. Juli 2008, Az. B 14 AS 26/07 R und vom 30. September 2008, Az. B 4 AS 29/07 R. 2 Urteile des Bundessozialgerichts vom 17. Juni 2010, Az. B 14 AS 46/09 R und vom 19. August 2015, Az. B 14 AS 43/14 R. 3 BGBl. I S. 2942. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 045/18 Seite 4 SGB II Leistungsberechtigter ist dadurch nicht befugt, durch Antragsrücknahme oder Beschränkung des Antrags einseitig in die materiell-rechtliche Rechtslage einzugreifen, um nach der Antragstellung zugeflossenes Einkommen in Vermögen zu verwandeln.4 2. Problemfelder Die an sich leicht nachvollziehbare Zuflusstheorie erweist sich in der Praxis durchaus als problematisch . So gab es im Laufe der Zeit eine Vielzahl von sozialgerichtlichen Verfahren, die sich mit Einzelfällen beschäftigt haben. Probleme, die sich aus der Anwendung der Zuflusstheorie ergeben , werden auch von Beratungsstellen für Arbeitsuchende thematisiert, die ihre Informationen unter anderem im Internet bereitstellen.5 Die Zuflusstheorie ist auch des Öfteren Gegenstand von Petitionsverfahren beim Deutschen Bundestag . Mit einer Petition wurde beispielsweise vorgeschlagen, eine eingehende Zahlung von Arbeitsentgelt für den Monat anzurechnen, für den es bestimmt worden sei. Der Petitionsausschuss konnte sich dem Anliegen nicht anschließen, da der Lebensunterhalt erst nach dem Zufluss von Arbeitsentgelt aus diesem bestritten werden kann. Die Petition wurde auf der Internetseite des Deutschen Bundestages veröffentlicht. Die Diskussion sowie die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses sind im Internet abrufbar.6 Eine weitere öffentliche Petition, die auf eine Regelung im SGB II zielt, mit der die Berücksichtigung von Nachzahlungen in Geld für zweckbestimmte Sozialleistungen als Einkommen verhindert wird, befindet sich noch in der Prüfung.7 Die nachfolgenden Ausführungen zu Kritikpunkten der Zuflusstheorie sind dem Kommentar Eicher /Luik zum SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende - entnommen: 8 Gegen die Zuflusstheorie kann eingewandt werden, dass sie den Zufall, wann eine Einnahme tatsächlich verwirklicht wird, akzeptiert und insofern die Ausnutzung von Gestaltungsspielräumen toleriert. Hauptkritikpunkt ist allerdings eine Anwendung der Zuflusstheorie auf Einnahmen nach Antragstellung, die sich aus der Realisierung von bereits vor Antragstellung entstandenen Forderungen ergeben. In der Regel hat eine Einnahme einen Rechtsgrund, das heißt ihr liegt ein zu erfüllender Anspruch (zum Beispiel auf Arbeitslohn) zugrunde. Mit der Zahlung wird der Anspruch erfüllt und geht unter. Problematisch wird dies, wenn solche Ansprüche auf Geld bzw. geldwerte Forderungen bereits vor Antragsstellung bestanden, weil 4 Vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. April 2015, Az. B 4 AS 22/14 R. 5 Exemplarisch: Eckhardt, Bernd: SGB II – Die modifizierte Zuflusstheorie – Eine kritische Betrachtung der Gesetzgebung und Rechtsprechung zur Anrechnung von Einkommen. Abrufbar im Internet unter http://www.sozialpaedagogische -beratung.de/zuflussprinzip%20(2013).pdf, zuletzt abgerufen am 19. April 2018. 6 Abrufbar im Internet unter https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2016/_09/_12/Petition_67604.nc.html, zuletzt abgerufen am 19. April 2018. 7 Abrufbar im Internet unter https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2017/_01/_16/Petition_69482.nc.html, zuletzt abgerufen am 19. April 2018. 8 Eicher/Luik/Schmidt SGB II § 11 Rn. 12-17, mit Verweisen auf die Rechtsprechung. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 045/18 Seite 5 sie bei Verwertbarkeit zum Vermögen im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II zählen. Wenn also eine solche verwertbare Forderung schon im Antragszeitpunkt bestand, müsste sie (nur) dem Vermögen zugeordnet werden, so dass die Zahlung im Bedarfsermittlungszeitraum keinen Zuwachs bedeuten würde, das heißt nicht als Einkommen berücksichtigt werden könnte. Nach der Rechtsprechung ist in solchen Fällen aber nur die Zahlung und nicht das Schicksal der Forderung, das heißt Entstehung und Bestand, beachtlich. Bei näherer Betrachtung handelt es sich nicht um eine reine Anwendung der Zuflusstheorie. Tatsächlich löst die Rechtsprechung das auch von ihr erkannte Problem wertend, indem sie dem Zufluss der Einnahmen bei Forderungen den Vorrang einräumt. Die Kritik an einem wertenden Umgang mit dem Zuflussprinzip ist im Ergebnis nicht berechtigt . Die Zuflusstheorie kommt nicht ohne eine zusätzlich wertende Betrachtung beziehungsweise Korrektur aus. Es kann beispielsweise nicht auf die von ihr implizit vorausgesetzte Gesamtvermögensmehrung durch den Zufluss und im Moment des Zuflusses verzichtet werden. Dies ist weder bei dem Tausch von Vermögensgegenständen in andere noch bei dem Tausch in Geld der Fall. Der Kaufpreis stellt in der Regel nur den in Geld ausgedrückten Gegenwert des verkauften Gegenstandes dar, der sich bereits zuvor im Vermögen des Verkäufers befunden hat. Würde man nur auf den Zufluss des Kaufpreises abstellen , wäre er gegebenenfalls als Einkommen zu bewerten. Dabei würde aber der Bestandsschutz des Vermögens missachtet. Die bloße Umschichtung beziehungsweise der Erlös aus der Verwertung des Vermögens gilt somit nicht als Einkommen, soweit hieraus keine über dem Verkehrswert liegende Einnahme erzielt wird. Die bei Auszahlung einer Kapitallebensversicherung mit zugeflossenen Erträgen bewertet das Bundessozialgericht nicht als Einkommen, sondern als Ergebnis der Steigerung des Verkehrswertes eines bereits vorhandenen Vermögens. Wertungen muss die Zuflusstheorie auch dann übernehmen, wenn normative Bestimmungen über die Zuschreibung von Einnahmen für vom Zufluss abweichende Zeitpunkte beziehungsweise -räume, etwa die in § 11 Abs. 3 S. 3 und 4 SGB II für einmalige Einnahmen , bestehen. Auch im Beispiel der Realisierung von Forderungen steht hinter der die Einnahmen berücksichtigenden Rechtsprechung eine zulässige Wertung: Durch die Berücksichtigung verbleiben im besonders bestandsgeschützten Vermögen nur solche Gegenstände , die vor Antragstellung einmal zugeflossen, das heißt Einkommen gewesen sind. Vor allem in den Fällen, in denen die Forderung eindeutig zum Lebensunterhalt bestimmte Vermögenszuwächse betrifft (zum Beispiel dem auf Hilfsbedürftigkeit gegründeten Erwerb eines Rückgewähranspruchs gegen den Beschenkten nach § 528 BGB), erscheint eine wertende Betrachtung angezeigt. Im Rahmen der Berücksichtigung von Erbschaften ist die zivilrechtliche Rechtslage zu beachten . Mit dem Tod einer Person geht ihr Vermögen als Ganzes auf die Erben über, § 1922 Abs. 1 BGB. Es handelt sich um eine sogenannte Gesamtrechtsnachfolge, die kraft Gesetzes einen unmittelbaren Übergang des Erbes einschließlich aller Verbindlichkeiten auf die Erben bewirkt. Ein Alleinerbe ist daher unmittelbar in Bezug auf das gesamte Erbe und dessen einzelne Gegenstände verfügungsberechtigt. Handelt es sich um eine Erbengemeinschaft , können Miterben zumindest über ihren ideellen Anteil (Erbquote) am Nachlass sofort verfügen (§ 2033 Abs. 1 S. 1 BGB). Diese Rechtspositionen bewirken für die (Mit-)Erben einen direkten Zufluss der Erbschaft bzw. der darin enthaltenen Gegenstände Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 045/18 Seite 6 im Zeitpunkt des Todes des Erblassers. Denn der Erbe wird nicht – wie bei einem Kausalgeschäft – zunächst nur Inhaber einer Forderung, die noch zu erfüllen ist. Im Zeitpunkt des Erbfalls rückt er unmittelbar in die Stellung des Berechtigten ein. Im Übrigen gelten dann keine weiteren, das heißt auch keine normativen Besonderheiten. Tritt also der Erbfall vor Antragstellung ein, handelt es sich bei dem Erbe um Vermögen und andernfalls um (in der Regel einmaliges) Einkommen, das unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten aber als „bereites Mittel“ zur Verfügung stehen muss. Unter Umständen ist dies erst ab dem Zugriff auf das Auseinandersetzungsguthaben der Fall. Die Bindungen eines Testamentsvollstreckers sind daher auch für den Umfang der als Einkommen zurechenbaren Einnahmen zu beachten. Ein testamentarisches Vermächtnis (§ 1939 BGB) ist anders als ein Erbe zu behandeln. Mit einem Vermächtnis (in der Regel die Zuwendung einzelner Gegenstände, § 2087 Abs. 2 BGB) wird der Empfänger gerade kein Erbe, so dass weder ein ideeller noch ein realer Anteil des Erbes direkt auf ihn übergeht. Es handelt sich vielmehr um eine Forderung beziehungsweise einen Anspruch gegen die Erben oder weitere Vermächtnisnehmer, der noch erfüllt werden muss. Dabei bleibt es selbst dann, wenn der Vermächtnisempfänger zugleich Erbe sein sollte. Folglich können Einnahmen in Erfüllung eines Vermächtnisses nach dem Zuflusszeitpunkt entweder Einkommen oder Vermögen darstellen. Die aufgeführten Beispiele nebst der dazu ergangenen Rechtsprechung verdeutlichen die Vielschichtigkeit der Probleme der Zuflusstheorie in ihrer praktischen Anwendung, die eine abschließende Darstellung erschweren. ***