Deutscher Bundestag Arbeitsrecht der Kirchen in Deutschland Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2012 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-045/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 2 Arbeitsrecht der Kirchen in Deutschland Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Aktenzeichen: WD 6 – 3000-045/12 Abschluss der Arbeit: 16. Februar 2012 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Leitentscheidung des BVerfG 4 3. Entscheidungen des EGMR 6 3.1. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Obst gegen Deutschland 6 3.2. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Schüth gegen Deutschland 8 3.3. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Siebenhaar gegen Deutschland 10 3.4. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Wasmuth gegen Deutschland 11 4. Folgerungen 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 4 1. Einleitung Beiden großen Kirchen in Deutschland wird gemäß Art. 140 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV) ein Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht garantiert. Dies ist die Rechtsgrundlage für ein kirchliches Arbeitsrecht, das kirchlichen Arbeitnehmern individuelle Loyalitätspflichten auferlegen kann und im kollektiven Arbeitsrecht einen Sonderweg, den so genannten „Dritten Weg“ geht. Von besonderer Bedeutung für den Dienst in der Kirche ist das christliche Leitbild der so genannten Dienstgemeinschaft. Im Folgenden wird das maßgebliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum kirchlichen Arbeitsrecht aus dem Jahr 1985 erläutert, auf das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinen jüngsten Urteilen zu den Fällen Obst, Schüth und Siebenhaar gegen Deutschland ausdrücklich Bezug genommen hat. Auch in der deutschen Rechtsprechung ist das Urteil des BVerfG bis heute für die Arbeitsgerichte maßgeblich. Schließlich werden drei Entscheidungen des EGMR zur Kündigung von kirchlichen Mitarbeitern aufgrund einer Verletzung ihrer Loyalitätspflichten gegenüber dem kirchlichen Dienstgeber erläutert und die Bewertung der Urteile in der wissenschaftlichen Literatur dargestellt. Es sind die einzigen Urteile, die in den vergangenen zehn Jahren zum deutschen Arbeitsrecht der Kirchen in der europäischen Rechtsprechung ergangen sind. Eine zusätzliche Recherche durch die Hotline W und die Bibliothek des Deutschen Bundestages erbrachte kein anderes Ergebnis. Der EGMR urteilte 2011 im Fall Wasmuth gegen Deutschland über die Frage, ob die verpflichtende Angabe auf der Lohnsteuerkarte zur Konfessionszugehörigkeit gegen die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße. Die Richter verneinten dies und bestätigten im Ergebnis das System des deutschen Kirchensteuerrechts.1 Dieses Urteil ist zwar nicht dem kirchlichen Arbeitsrecht, sondern dem Staatskirchenrecht zuzuordnen. Es wird dennoch kurz erläutert. Alle vier besprochenen Urteile sind als Anlagen der Ausarbeitung beigefügt. 2. Leitentscheidung des BVerfG Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 4. Juni 1985 in einem maßgebenden Grundsatzurteil 2 zum kirchlichen Arbeitsrecht und staatlichen Kündigungsschutz Stellung genommen, auf das die deutschen Arbeitsgerichte bis heute in ständiger Rechtsprechung Bezug nehmen. Das BVerfG hat festgestellt, dass aufgrund der Verfassungsgarantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nur die Kirchen selbst darüber befinden können, welche Dienste es in ihren Einrichtungen geben solle und in welchen Rechtsformen sie wahrzunehmen seien. Die Kirchen könnten sich dabei auch der Privatautonomie bedienen, um ein Arbeitsverhältnis zu begründen und zu regeln. Auf dieses Arbeitsverhältnis finde das staatliche Arbeitsrecht Anwendung, wobei das kirchliche Selbstbestimmungsrecht wesentlich bleibe.3 Konkret heißt das: – „Die Einbeziehung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse in das staatliche Arbeitsrecht hebt indessen deren Zugehörigkeit zu den „eigenen Angelegenheiten“ der Kirche nicht auf. Sie darf deshalb die ver- 1 REICHOLD, Hermann, S. 325. 2 BVerfGE 70, 138ff, Urteil vom 4. Juni 1985 (Az: 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84). 3 BVerfGE 70 138ff, Leitsatz 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 5 fassungsrechtlich geschützte Eigenart des kirchlichen Dienstes, das spezifisch Kirchliche, das kirchliche Proprium, nicht in Frage stellen Die Verfassungsgarantie des Selbstbestimmungsrechts bleibt für die Gestaltung dieser Arbeitsverhältnisse wesentlich. Auch im Wege des Vertragsabschlusses können daher einem kirchlichen Arbeitnehmer besondere Obliegenheiten einer kirchlichen Lebensführung auferlegt werden. Werden solche Loyalitätspflichten in einem Arbeitsvertrag festgelegt, nimmt der kirchliche Arbeitgeber nicht nur die allgemeine Vertragsfreiheit für sich in Anspruch; er macht zugleich von seinem verfassungskräftigen Selbstbestimmungsrecht Gebrauch. Beides zusammen ermöglicht es den Kirchen erst, in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes den kirchlichen Dienst nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer zu umschreiben und verbindlich zu machen. Das schließt ein, dass die Kirchen der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auch dann, wenn sie ihn auf der Grundlage von Arbeitsverträgen regeln, das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter zugrunde legen können. Dazu gehört weiter die Befugnis der Kirche, den ihr angehörenden Arbeitnehmern die Beachtung jedenfalls der tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre aufzuerlegen und zu verlangen, dass sie nicht gegen die fundamentalen Verpflichtungen verstoßen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben und die jedem Kirchenglied obliegen.“4 Allerdings dürfe, so das BVerfG, die Rechtsstellung des kirchlichen Arbeitnehmers keineswegs „klerikalisiert“ werden. Aus dem bürgerlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis werde kein kirchliches Statusverhältnis, das die Person total ergreife und auch ihre private Lebensführung voll umfasse.5 Die Gestaltungsfreiheit des kirchlichen Arbeitgebers stehe unter dem Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes – es gelten für sie also auch die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften der §§ 1 KSchG und 626 BGB. Aber es bleibe, so das BVerfG, grundsätzlich den verfassten Kirchen überlassen, zu bestimmen, was „die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung“ erfordere , was „spezifisch kirchliche Aufgaben“ seien, was „Nähe“ zu ihnen bedeute, welches die „wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre“ seien und was als – gegebenenfalls schwerer – Verstoß gegen diese anzusehen sei. Es bleibe auch alleinige Angelegenheit der Kirchen darüber zu entscheiden, ob und wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine Abstufung der Loyalitätspflichten eingreifen solle.6 Die Arbeitsgerichte sind nach der Entscheidung des BVerfG an die anerkannten Maßstäbe der verfassten Kirche gebunden, es sei denn, sie begäben sich dadurch in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung, wie sie im allgemeinen Willkürverbot nach Art. 3 Abs. 1 GG sowie in dem Begriff der „guten Sitten“ gemäß § 138 Abs. 1 BGB und dem ordre public nach Art. 30 EGBGB geregelt sind.7 Das BVerfG hat mit seiner Leitentscheidung von 1985 klargestellt, dass es aufgrund des verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechts der Kirchen allein Angelegenheit der Kirchen und nicht der staatlichen Gerichte sei, festzulegen, welche Tätigkei- 4 BVerfGE 70 138ff, Rn 59. 5 BVerfGE 70 138ff, Rn 59. 6 BVerfGE 70 138ff, Rn 65. 7 BVerfGE 70 138ff, Rn 64. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 6 ten den Loyalitätspflichten in welcher Weise unterliegen. Die staatlichen Gerichte hätten die von den Kirchen vorgenommenen Anforderungen und gegebenenfalls vorgenommenen Abstufungen anzuerkennen, soweit sie nicht Grundprinzipien der deutschen Rechtsordnung widersprechen.8 3. Entscheidungen des EGMR Der EGMR hat sich in den Verfahren Obst gegen Deutschland9 und Schüth gegen Deutschland10 zum ersten Mal mit Kündigungen von kirchlichen Mitarbeitern aufgrund ihrer privaten Lebensführung befasst. Im Kern ging es um die Frage, welche Loyalitätsanforderungen der kirchliche Arbeitgeber an seine Mitarbeitenden stellen darf.11 In beiden Fällen hatte der kirchliche Arbeitgeber - die katholische Kirche im Fall Schüth und die Mormonenkirche im Fall Obst - wegen eines außerehelichen Verhältnisses gekündigt. Die Gekündigten klagten unter Berufung auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)12 gegen die Weigerung der deutschen Arbeitsgerichte, die Kündigung aufzuheben. In beiden Fällen hatte der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob die von den deutschen Arbeitsgerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK einerseits und den Konventionsrechten der katholischen Kirche und der Mormonenkirche andererseits den Beschwerdeführern einen ausreichenden Kündigungsschutz gewährt hatte.13 Der EGMR hat zunächst in beiden Fällen festgestellt, dass Deutschland mit seinen Arbeitsgerichten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfassungsgericht im Grundsatz die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeitsrechtlichen Streitfällen erfülle. Der EGMR kam jedoch in der Prüfung über die Auswirkungen der Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte in den Fällen Obst und Schüth zu unterschiedlichen Ergebnissen. 3.1. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Obst gegen Deutschland Im Fall Obst gegen Deutschland hat der EGMR festgestellt, dass die deutschen Arbeitsgerichte alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen haben. Die Schlussfolgerung der Arbeitsgerichte, dass die Mormonenkirche dem 8 Vgl. auch RICHARDI, Reinhard, S. 90, Rn 32, 33. 9 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, EuGRZ 2010, 571ff (Az: 425/03). 10 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, EuGRZ 2010, 560ff (Az. 1620/03). 11 JOUSSEN, Jacob, S. 174. 12 Art. 8 Abs. 1 EMRK lautet: Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. 13 Pressemitteilung des Kanzlers vom 23. September 2010, Nr. 688, S. 1ff. http://www.gamav.de/archiv/2010/pressemitteilung_europaeischer_menschengerichtshof_1620_02.pdf (letzter Abruf am 12. Januar 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 7 Beschwerdeführer keine unannehmbaren Verpflichtungen auferlegt hatte, sei nachvollziehbar. Da er als Mormone aufgewachsen war, hätte ihm klar gewesen sein müssen, welche Bedeutung die eheliche Treue für seinen Arbeitgeber hatte, und dass sein außereheliches Verhältnis mit den erhöhten Loyalitätspflichten als Direktor Öffentlichkeitsarbeit für Europa unvereinbar gewesen war.14 Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte in seinem Urteil im Streitfall Obst festgestellt, dass die Kündigung des Arbeitnehmers durch die Mormonenkirche wirksam sei und ein „wichtiger Grund“ für eine außerordentliche Kündigung im Sinne des § 626 BGB gegeben sei, da er gegen Verpflichtungen seines Arbeitsvertrages verstoßen habe. 15 Eine vorherige Abmahnung vor Ausspruch der Kündigung sei nicht notwendig gewesen, da sie bei einer verhaltensbedingten Kündigung dann entbehrlich sei, wenn es sich um eine besonders grobe Pflichtverletzung handele, dem Arbeitnehmer die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens ohne weiteres erkennbar sei und er mit der Billigung seines Verhaltens durch den Arbeitgeber nicht hätte rechnen können.16 Das BAG nahm an mehreren Stellen ausdrücklich auf die Leitentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1985 Bezug. Es erklärte unter anderem: – „Die Arbeitsgerichte sind bei der Anwendung der gesetzlichen Vorschriften zum Kündigungsrecht an die Vorgaben der Religionsgesellschaften gebunden, soweit diese Vorgaben den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen Rechnung tragen und sich die Gerichte durch die Anwendung dieser Vorgaben nicht in Widerspruch zu den Grundprinzipien der Rechtsordnung (…) begeben. Die Arbeitsgerichte haben sicher zu stellen, dass die Religionsgesellschaften nicht in Einzelfällen unannehmbare Anforderungen an die Loyalität ihrer Arbeitnehmer stellen. (…) Die Vorgaben der Beklagten gegenüber dem Kläger hinsichtlich der ehelichen Treue tragen den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen Rechnung und stehen nicht in Widerspruch zu den Grundprinzipien der Rechtsordnung. Die Ehe hat in den verfassten Kirchen und in den Weltreligionen eine herausragende Bedeutung.(…) Das (…) Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften dient unter anderem dazu, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, grundsätzlich alles aus ihrer Sicht Erforderliche zu tun, um ihre Glaubwürdigkeit zu gewährleisten (…). Die Bewahrung der Glaubwürdigkeit ist für jede Glaubensgemeinschaft von elementarer Bedeutung.“17 Der EGMR folgt damit der Auffassung des BAG. Er bezieht sich dabei ebenfalls auf das Grundsatzurteil des BVerfG und erklärt: – „Der Gerichtshof hält die Schlussfolgerungen der Arbeitsgerichte, denen zufolge der Beschwerdeführer keinen unannehmbaren Verpflichtungen unterworfen wurde, für nicht unangemessen. Der Gerichtshof vertritt nämlich die Auffassung, dass dem Betroffenen, der in der Mormonenkirche aufgewachsen war, bei der Unterzeichnung des Anstellungsvertrags (…) bewusst war oder bewusst hätte sein müssen, wel- 14 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 425/03, Orientierungssatz 3. 15 BAG-Urteil vom 24. April 1997, AP Nr. 27 zu § 611 BGB Kirchendienst, Az: 2 AZR 268/96, Rn 22 bb, 37b. 16 BAG-Urteil vom 24. April 1997, Az. 2 AZR 268/96, Rn 36a. 17 BAG-Urteil vom 24. April 1997, Az. 2 AZR 268/96, Rn 25 (2), 34. Vgl. BVerfGE 70 138ff vom 4. Juni 1985, Rn 59, 63, 64. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 8 che Bedeutung sein Arbeitgeber der ehelichen Treue beimisst (…) und dass seine außereheliche Beziehung , die er eingegangen war, mit den gesteigerten Loyalitätsobliegenheiten, zu denen er sich gegenüber der Mormonenkirche als Gebietsdirektor Europa in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit verpflichtet hatte, unvereinbar ist.“18 Die deutschen Gerichte haben nach Auffassung des Gerichtshofs mit ihren Entscheidungen Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht verletzt. 3.2. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Schüth gegen Deutschland In diesem Streitfall gelangte der EGMR zu der Auffassung, dass die deutschen Arbeitsgerichte die Abwägung zwischen den Rechten des Beschwerdeführers und denen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in Übereinstimmung mit der Konvention vorgenommen haben, also eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt.19 Der Beschwerdeführer war seit Mitte der 80er Jahre Organist und Chorleiter bei einer katholischen Gemeinde, als er sich 1994 von seiner Frau trennte. Von 1995 an lebte er mit seiner neuen Partnerin zusammen, mit der er auch ein gemeinsames Kind hat. Daraufhin führte der Dekan der Gemeinde im Juli 1997 ein Gespräch mit ihm, dessen Verlauf zwischen den Parteien streitig war. Wenige Tage später sprach ihm die Gemeinde die fristgemäße ordentliche Kündigung mit der Begründung aus, er habe sich nicht nur des Ehebruchs, sondern auch der Bigamie schuldig gemacht . 20 Das Arbeitsgericht (ArbG) Essen und das Landesarbeitsgericht (LAG) Nordrhein- Westfalen erklärten die Kündigung für unwirksam. Das LAG erklärte, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt im Sinne § 1 KSchG, da der Gekündigte nicht zu den Mitarbeitern gehöre, denen gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 und Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 der Grundordnung (GrO) gesteigerte Loyalitätspflichten oblägen. 21 Das BAG bemängelte im Revisionsverfahren, dass das LAG sein Urteil damit begründet habe, dass nicht - wie in Art. 5 Abs. 1 GrO vorgesehen – ein klärendes Gespräch mit dem Gekündigten stattgefunden habe. Der Dekan sei jedoch nicht von den Richtern angehört worden. Das BAG hob das Urteil des LAG auf und verwies den Streitfall zurück.22 Über die Frage, ob die Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt war, konnte der 2. Senat des BAG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht nicht abschließend entscheiden.23 Wie im bereits geschilderten Fall Obst bezog sich das BAG auch im Fall Schüth auf das Grundsatzurteil des BVerfG von 1985 und unterstrich, dass die von der katholischen Kirche geforderte Pflicht zur ehelichen Treue nicht der Rechtsordnung widerspreche. 18 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 425/03, Rn 50. 19 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 1620/03, Orientierungssatz 3. 20 Pressemitteilung des Kanzlers vom 23. September 2010, S. 2. 21 BAG-Urteil vom 16. September 1999, AP Nr. 1 zu Art. 4 GrO kath. Kirche, Az: 2 AZR 712/98, Rn 31 I. 22 BAG-Urteil vom 16. September 1999, Az. 2 AZR 712/98, Rn 34. 23 BAG-Urteil vom 16. September 1999, Az. 2 AZR 712/98, Rn 59. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 9 – „Die Vorstellungen der katholischen Kirche über die eheliche Treue stehen nicht in Widerspruch zu den Grundprinzipien der Rechtsordnung, der Bruch einer bestehenden (bürgerlichen) Ehe, die nach Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung steht, wird auch vom bürgerlichen Recht als schwerwiegendes Fehlverhalten betrachtet (…).“24 Der EGMR kommt in seinem Urteil25 zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsgerichte in ihren Folgerungen weder auf das tatsächliche Familienleben des Beschwerdeführers noch auf den damit gewährten Rechtsschutz eingegangen seien. Die Interessen des kirchlichen Arbeitgebers seien infolgedessen mit dem nach Art. 8 EMRK zugesicherten Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nicht abgewogen worden, sondern nur mit seinem Interesse auf Wahrung seines Arbeitsplatzes.26 Das LAG habe die Frage der Nähe der vom Beschwerdeführer ausgeübten Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag der Kirche nicht geprüft, sondern offenbar ohne weitere Nachprüfungen den Standpunkt des kirchlichen Arbeitgebers übernommen. Wörtlich heißt es: – „Da es sich aber um eine Kündigung handelte, die im Anschluss an eine Entscheidung des Beschwerdeführers hinsichtlich seines nach der Konvention geschützten Privat- und Familienlebens erfolgt ist, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass bei der Abwägung der im Spiel befindlichen konkurrierenden Rechte und Interessen eine eingehendere Prüfung nötig gewesen wäre (…).“27 Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der Beschwerdeführer sich mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrages nicht verpflichtet habe, im Falle der Trennung oder Scheidung abstinent zu leben. Eine solche Auslegung würde den Kern des Rechts auf Achtung des Privatlebens des Betroffenen berühren, besonders deshalb, weil der Beschwerdeführer nach Feststellung der Arbeitsgerichte keinen gesteigerten Loyalitätsobliegenheiten unterworfen gewesen sei.28 Das LAG habe zudem die Folgen der Kündigung für den Betroffenen verkannt. Nach Ansicht des EGMR habe aber die Tatsache besondere Bedeutung, dass der Gekündigte mit seiner spezifischen Qualifikation nur begrenzte Möglichkeiten habe, einen Arbeitsplatz außerhalb des kirchlichen Arbeitgebers zu finden . Nach Ansicht des EGMR haben die deutschen Arbeitsgerichte im Fall Schüth nicht hinlänglich dargelegt, warum den Folgerungen des LAG zufolge die Interessen der Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei weitem übertroffen hätten und sie die Rechte des Beschwerdeführers und diejenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht im Einklang mit der Konvention abgewogen hätten. Demzufolge stellt der EGMR fest, dass der deutsche Staat dem Beschwerdeführer nicht den notwendigen Schutz gewährt habe und Art. 8 EMRK verletzt worden sei.29 24 BAG-Urteil vom 16. September 1999, Az. 2 AZR 712/98, Rn 63 bb) und 65 cc). 25 Ergänzend zum Verfahrensgang NZA 2011, 279. Das LAG hatte nach der Entscheidung des BAG vom 16. September 1999 der Berufung der Kirchengemeinde stattgegeben. Die Beschwerde von Herrn Schüth gegen die Nichtzulassung der Revision wies das BAG am 29. Mai 2000 als unzulässig zurück. Das BverfG lehnte es am 8. Juli 2002 ab, die Verfassungsbeschwerde von Herrn Schüth zur Entscheidung anzunehmen. 26 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 1620/03, Rn 67. 27 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 1620/03, Rn 69. 28 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 1620/03, Rn 71. 29 EGMR-Urteil vom 23. August 2010, Az. 1620/03, Rn 73 und 74. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 10 3.3. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Siebenhaar gegen Deutschland Einer katholische Gruppenleiterin eines evangelischen Kindergartens war aufgrund ihrer Mitgliedschaft und ihrer aktiven Werbung für die „Universale Kirche“ nach § 626 BGB außerordentlich gekündigt worden. Die Beschwerdeführerin beklagte vor dem EGMR, das BAG habe das Selbstbestimmungsrecht der evangelischen Kirche zum Nachteil ihres Rechts auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK bevorzugt.30 Dieser Auffassung folgte der EGMR nicht und erklärte, dass eine Erzieherin und Gruppenleiterin, die in der Kindertagesstätte einer evangelischen Kirchengemeinde tätig und zugleich aktives Mitglied der „Universalen Kirche“ sei, ihre arbeitsvertraglichen Loyalitätspflichten nicht erfülle. Das BAG habe auf vertretbare Weise die Interessen der Arbeitnehmerin mit denjenigen des kirchlichen Arbeitgebers abgewogen.31 Das BAG hatte erklärt, dass das Verhalten der Erzieherin keine hinreichende Gewähr mehr dafür biete, dass sie der arbeitsvertraglich übernommenen Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der evangelischen Kirche nachkomme. Sie trete öffentlich werbend für eine Glaubensgemeinschaft auf, deren Glaubenssätze erheblich von denen der evangelischen Kirche abwichen. Das BAG entschied , dass ein solches Verhalten eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB rechtfertige .32 Die Richter des BAG bezogen sich auch in dieser Entscheidung auf die Leitentscheidung des BVerfG von 1985 und betonten, dass es Angelegenheit der Kirchen sei, festzulegen, welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können. Dies richte sich ausdrücklich nach den Maßstäben der verfassten Kirchen. Die Arbeitsgerichte hätten im Streitfall die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen. Liege eine Verletzung von Loyalitätspflichten vor, so sei die weitere Frage, ob sie eine Kündigung des kirchlichen Arbeitsverhältnisses sachlich rechtfertige, nach den kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften gemäß § 1 KSchG und § 626 BGB zu beantworten .33 Das BAG bewertete die Tatsache, dass die Erzieherin Einführungskurse für die „Universale Kirche “ durchführte und damit die Lehren dieser Organisation aktiv werbend verbreitete, als einen erheblichen und groben Loyalitätsverstoß, denn die Lehren dieser Organisation stünden im Widerspruch zu den Lehren der evangelischen Kirche. Das BAG begründete seine Entscheidung auch mit dem starren Verhalten der Erziehern in einem klärenden Gespräch mit dem Dienstgeber . Dieser hätte davon ausgehen können, dass auch in Zukunft weitere derartige Verhaltensverstöße vorkommen könnten.34 Im Sinne des § 626 BGB sei die Weiterführung eines Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber unter diesen Umständen unzumutbar und eine außerordentliche, 30 EGMR-Urteil vom 3. Februar 2011, EzA § 611 BGB 2002 Kirchliche Arbeitnehmer Nr. 17 (Az: 18136/02). 31 EGMR-Urteil vom 3. Februar 2011, Az. 18136/01, Fn 34 und Orientierungssatz 1 und 2. 32 BAG-Urteil vom 21. Februar 2001, AP Nr. 29 zu § 611 BGB Kirchendienst, Az: 2 AZR 139/00, Leitsatz. 33 BAG-Urteil vom 21. Februar 2001, Az. 139/00, Rn 53. 34 BAG-Urteil vom 21. Februar 2001, Az. 139/00, Rn 59 a). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 11 fristlose Kündigung gerechtfertigt.35 Die Erzieherin sei zudem noch nicht allzu lange bei der Kirche beschäftigt gewesen und hätte aufgrund ihres jungen Alters gute Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.36 Der EGMR folgt unter Bezugnahme auf das BVerfG-Urteil von 1985 der Auffassung der deutschen Arbeitsgerichte. Er hält die Schlussfolgerungen der Gerichte nicht für unangemessen und verweist darauf, dass der Erzieherin hätte klar sein müssen, dass ihre Mitgliedschaft und Tätigkeit für die „Universale Kirche“ mit ihrem Einsatz für die evangelische Kirche unvereinbar sei.37 3.4. Entscheidung des EGMR über die Beschwerde Wasmuth gegen Deutschland Der Beschwerdeführer Wasmuth klagte vor deutschen Gerichten gegen die Verpflichtung, auf der Lohnsteuerkarte die Konfessionszugehörigkeit anzugeben. Aus dem Eintrag auf seiner Lohnsteuerkarte ging regelmäßig hervor, dass er keiner Religionsgemeinschaft angehört. Wasmuth wollte daher eine Lohnsteuerkarte erhalten, auf der ein solcher Eintrag nicht vorhanden ist. Sowohl das zuständige Finanzgericht als auch der Bundefinanzhof (BFH) wiesen seine Klagen ab. Das BVerfG nahm eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Wasmuth legte Beschwerde beim EGMR ein und machte geltend, dass die verpflichtende Angabe auf der Lohnsteuerkarte über seine Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die Kirchensteuern erheben darf, gegen die Art. 8, 9 und 14 EMRK verstoße. Der EGMR sah zwar einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit , aber dieser Eingriff sei nach deutschem Recht vorgesehen. Die Gewährleistung des Rechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften stelle einen legitimen Zweck dar und sei verhältnismäßig .38 Zur negativen Religionsfreiheit sagte der EGMR: – „Der Gerichtshof ruft insbesondere in Erinnerung, dass die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen , auch einen negativen Aspekt aufweist, nämlich das Recht des Einzelnen, nicht gezwungen zu sein, so zu handeln, dass daraus abgeleitet werden könnte, dass er solche Überzeugungen hat oder nicht hat. Es steht den staatlichen Behörden nicht frei, sich in die Gewissensfreiheit einer Person einzumischen, indem sie sich nach ihren religiösen Überzeugungen erkundigt oder sie zwingt, sie zu bekunden.“39 Nach Ansicht der Richter stellt die Angabe auf der Lohnsteuerkarte durchaus einen solchen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers, seine religiöse Überzeugung nicht zu erklären, dar. Ein solcher Eingriff verletze Art. 9 EMRK allerdings nicht, wenn er gesetzlich vorgesehen sei, einem 35 BAG-Urteil vom 21. Februar 2001, Az. 139/00, Rn 69. 36 BAG-Urteil vom 21. Februar 2001, Az. 139/00, Rn 65 b). 37 EGMR-Urteil vom 3. Februar 2011, Az. 18136/02, Rn 46. 38 EGMR-Urteil vom 17. Februar 2011, Az: 12884/03, Rn 55. Vgl. auch REICHOLD, Hermann, S. 325. 39 EGMR-Urteil vom 17. Februar 2011, Az: 12884/03, Rn 50. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 12 oder mehreren legitimen Zielen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 EMRK diene und in einer demokratischen Gemeinschaft notwendig sei, um dieses oder diese Ziele zu erreichen.40 4. Folgerungen In der wissenschaftlichen Literatur werden die Urteile des EGMR zu den Fällen Obst und Schüth kontrovers diskutiert. Die Positionen reichen von der Auffassung, der Gerichtshof habe lediglich eine Klarstellung der bereits gegebenen Rechtslage herbeigeführt41 bis hin zu der Einschätzung eines „Paradigmenwechsels“ in der bisherigen deutschen Rechtsprechung.42 Für JOUSSEN, HAMMER und GRABENWARTER/PABEL liegt der zentrale Gehalt im Fall Schüth in dem Vorwurf eines Abwägungsdefizits bei den deutschen Arbeitsgerichten. Die Gerichte hätten vor allem das Recht der Kirche betont, Loyalitätspflichten zu verlangen, ohne ausreichend die Rechte des Arbeitnehmers zu beachten. Damit deute der EGMR aber letztlich auf das Erfordernis einer Abwägung kollidierender Verfassunsgüter hin, was ohnehin Grundprinzip deutschen Verfassungsrechts sei. Das Abwägungserfordernis sei zudem im Kündigungsrecht durch § 626 BGB geregelt. Der Fall Obst, in dem der EGMR den Schlussfolgerungen der deutschen Arbeitsgerichte gefolgt sei, zeige, dass auch eine Interessenabwägung zugunsten der kirchlichen Interessen nicht automatisch eine Verletzung der Konvention darstelle. Demnach folge aus den Urteilen zu Schüth und Obst, dass die Umstände des Einzelfalls von den Arbeitsgerichten stets zu berücksichtigen seien und § 626 BGB mit seinem Abwägungsgebot eben auch für die Kirchen gelte. Neu an den beiden Urteilen sei lediglich die Mahnung und Erinnerung daran, dass die Gerichte auch in kirchlichen Fällen Abwägungen vorzunehmen hätten. Damit würden Kirchen zwar stärker zu einem „normalen“ Arbeitgeber, aber sie blieben dennoch besonders, weil sie aufgrund des verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts deutlich höhere Loyalitätsanforderungen an ihre Mitarbeiter stellen könnten als andere Arbeitgeber. Die häufige Auslegung des maßgeblichen BVerfG-Urteils von 1985 werde durch die EGMR-Urteile gerade gerückt. Für den EGMR gebe es bei der Interessenabwägung keinen Vorrang zugunsten der Kirchen . Die Gerichte würden nun genauer und präziser argumentieren müssen, ohne dass dabei zwangsläufig das Ergebnis anders ausfalle.43 GRABENWARTER, der Verfahrensbevollmächtigter des Bistums Essen vor dem EGMR im Fall Schüth war, und PABEL betonen, dass der EGMR weder die gesetzlichen Regelungen noch die zentrale Entscheidung des BVerfG zum kirchlichen Arbeitsrecht grundsätzlich in Frage stelle.44 Der EGMR nehme in seinen Urteilsbegründungen ausdrücklich Bezug auf das Grundsatzurteil des BVerfG von 1985. Damit unterstreiche der Gerichtshof, dass nach der Entscheidung des 40 EGMR-Urteil vom 17. Februar 2011, Az: 12884/03, Rn 52. 41 Vgl. JOUSSEN, Jacob, 173ff; HAMMER, Ulrich, 178ff; GRABENWARTER, Christoph; PABEL, Katharina, S. 178ff. 42 Vgl. MAYER, Udo R., S. 19ff. 43 JOUSSEN, Jacob, S. 175ff.; HAMMER, Ulrich, S. 283. 44 GRABENWARTER, Christoph; PABEL, Katharina, S. 70. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 13 BVerfG die Arbeitsgerichte nicht schrankenlos an die Vorgaben des kirchlichen Arbeitgebers für die Dienstverhältnisse gebunden seien. Entscheidend für den EGMR sei gewesen, dass die deutsche verfassungsgerichtliche Rechtsprechung eine Überprüfung ermögliche, ob bei der Anwendung der kirchlichen Vorgaben ein Widerspruch zu grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien auftrete und ob die Kirchen ihren Angestellten unangemessene Loyalitätspflichten auferlegten. Auch mit dem Urteil im Fall Schüth, in dem der EGMR eine Verletzung der EMRK feststellte, habe der Gerichtshof die Leitentscheidung des BVerfG nicht prinzipiell in Frage gestellt. Die vom Gerichtshof verlangte Abwägungspflicht der deutschen Arbeitsgerichte passe sich in das bestehende Rechtsschutzsystem ein.45 Allerdings könnte sich aus dem Fall Schüth ein Anknüpfungspunkt für kommende Gerichtsentscheidungen ergeben. Der EGMR sah in der Anforderung der Kirche an ihre Angestellten, nach einer Trennung oder Scheidung enthaltsam zu leben, Art. 8 EMRK in seinem Kerngehalt betroffen. Diese Anforderung könnte nun wegen ihrer Bedeutung für das Privat- und Familienleben kirchlicher Arbeitnehmer als unangemessen angesehen werden.46 Grundsätzlich rügt GRABENWARTER, dass der EGMR sich mit den Urteilen zu Obst, Schüth und Siebenhaar wie eine „(Super-)Revisionsinstanz“ verhalten und quasi als Arbeitsgericht entschieden habe. Es stehe zu befürchten, dass betroffene Arbeitnehmer, die vor den staatlichen Gerichten unterliegen, in Zukunft die Möglichkeit einer Individualbeschwerde in Straßburg in Anspruch nehmen. Es sei aber letztlich nicht Aufgabe des EGMR, fachgerichtliche Entscheidungen, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergangen seien und einer Grundrechtskontrolle unterliegen , nachzuprüfen.47 MAYER führt an, dass der EGMR in seinen Urteilen von einer abgestuften Loyalitätspflicht abhängig von der jeweiligen Funktion der Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen ausgehe. Die Entscheidungen würden demzufolge weitreichende Auswirkungen auf die zukünftige Behandlung von Loyalitätspflichten bei kirchlichen Beschäftigten haben und auch eine Klarstellung hinsichtlich § 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)48 bewirken, der den Kirchen generell erlaube, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses zu verlangen. „Diesem weiten Sanktionsrecht der Kirchen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (…) einen Riegel vorgeschoben.“49 Einig sind sich die Arbeitsrechtsexperten, dass die deutschen Arbeitsgerichte nach den Entscheidungen des EGMR zu Obst, Schüth und Siebenhaar den Einzelfall bei Kündigungen gegen kirchliche Mitarbeiter, die Loyalitätspflichten unterliegen, sehr viel genauer prüfen und die Interessen beider Seiten sehr viel ausführlicher abwägen müssen. Der Vorsitzende Richter am Landesarbeitsgericht Köln, JÜNGST, erklärte während einer Fachtagung an der Ruhr-Universität Bochum am 31. Januar 2011, dass das Abwägungsmaterial aber nur insoweit für die Gerichte vorhanden sei, wie es auch vorgetragen werde. Er stellte einen Kriterienkatalog vor, den die Parteien für ih- 45 GRABENWARTER, Christoph; PABEL, Katharina, S. 66. 46 GRABENWARTER, Christoph; PABEL, Katharina, S. 67. 47 GRABENWARTER, Christoph; PABEL, Katharina, S. 69. 48 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das zuletzt durch Artikel 15 Absatz 66 des Gesetzes vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160) geändert worden ist. 49 MAYER, Udo R., S. 20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-045/12 Seite 14 ren Vortrag vor den Arbeitsgerichten beachten sollten. Dieser Katalog enthält folgende Punkte: die konkrete Aufgabenstellung des gekündigten Arbeitnehmers; der konkrete Loyalitätsverstoß inklusive kollektivrechtlicher Abreden; die Erforderlichkeit der Loyalitätsverpflichtung des Arbeitnehmers für dessen Tätigkeit; die konkrete Darstellung des Verstoßes und dessen Bedeutung; die Umstände, die eine Hinnahme des Verstoßes als Glaubwürdigkeitsverlust des Arbeitgebers erscheinen ließen; die untauglichen Bemühungen des Arbeitgebers, das Verhalten abzustellen; die Darstellung, ob die Öffentlichkeit von dem Loyalitätsverstoß erfahren hat, und wenn ja, wie; die Frage nach den sonstigen Verhaltensweisen des Arbeitnehmers, die nicht im Einvernehmen mit den Vorgaben des Arbeitgebers stehen; und zuletzt die Auswirkungen der Kündigung für den Arbeitnehmers insbesondere im Hinblick auf zukünftige Beschäftigungsmöglichkeiten.50 Literaturliste GRABENWARTER, Christoph; PABEL, Katharina (2011). Das kirchliche Arbeitsrecht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Kirche und Recht (KuR), Heft 1, 2011, S. 55-70. HAMMER, Ulrich (2011). Europäische Wende im Kirchlichen Arbeitsrecht?: Arbeit und Recht (AuR), Heft 7, 2011, S. 278-285. JOUSSEN, Jacob (2011). Die Folgen des Mormonen- und Kirchenmusikerfalls für das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland: Recht der Arbeit (RdA), 2011, S. 173-178. MAYER, Udo R. (2010). Menschenrecht vor Gottesrecht. Zu dem Verhältnis des kirchlichen Arbeitsrechts zu den universellen Menschenrechten: Der Betriebsrat (dbr), Heft 12, 2010, S. 19-21. REICHOLD, Hermann (2011). Das deutsche Arbeitsrecht im Fokus des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte : Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht (EuZA) Bd. 4 (2011), S. 320-328. RICHARDI, Reinhard (2009). Arbeitsrecht in der Kirche. Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht, 5. Auflage, München: Beck. RISINI, Isabella; BÖHM, Benjamin (2011). Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht. Offene Fachtagung an der Ruhr-Universität Bochum vom 31.1.2011: Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBL) 2011, 878-880 (Ausgabe 14 vom 15.7. 2011). THÜSING, Gregor (2006). Kirchliches Arbeitsrecht. Tübingen: Siebeck. 50 RISINI, Isabella; BÖHM, Benjamin, S. 879.