© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 042/16 Die Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission Regelung der Beschlussfassung und Geltungsdauer Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Geltungsdauer und Bindung künftiger Mindestlohnkommissionen 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 4 1. Die Mindestlohnkommission Nach § 4 Absatz 1 des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz - MiLoG) errichtet die Bundesregierung eine ständige Mindestlohnkommission, die über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns befindet. Die alle fünf Jahre neu zu berufende Kommission besteht aus einer oder einem Vorsitzenden, sechs weiteren stimmberechtigten Mitgliedern, von denen jeweils drei von den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer vorgeschlagen werden, sowie zwei beratenden Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft ohne Stimmrecht (§ 4 Abs. 2 MiLoG).1 Die Berufung ist in den §§ 5 bis 7 MiLoG geregelt, die Rechtsstellung der Mitglieder in § 8 MiLoG. Über die Anpassung des allgemeinen Mindestlohns hat die Mindestlohnkommission erstmals bis zum 30. Juni 2016 mit Wirkung zum 1. Januar 2017 zu beschließen (§ 9 Abs. 1 MiLoG). Nach § 9 Abs. 2 MiLoG muss sie im Rahmen einer Gesamtabwägung prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, die Ziele des Mindestlohngesetzes zu erreichen. Bei der Festsetzung hat sie sich nachlaufend an der Tarifentwicklung zu orientieren. Der Beschluss ist nach § 9 Abs. 3 Mi- LoG schriftlich zu begründen. Die Sitzungen der Mindestlohnkommission sind nicht öffentlich (§ 10 Abs. 4 Satz 1 MiLoG). Ihre Beschlüsse werden nach § 10 Abs. 2 Satz 1 MiLoG mit einfacher Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder gefasst. Das Beschlussverfahren ist in § 10 Abs. 2 Satz 2 bis 4 MiLoG detailliert geregelt. Dabei kommt dem Vorsitz der Mindestlohnkommission im Falle einer Patt-Situation eine entscheidende Rolle zu. Die übrigen Verfahrensregelungen trifft die Mindestlohnkommission nach § 10 Abs. 4 Satz 2 MiLoG in einer Geschäftsordnung. 2. Die Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission Die Mindestlohnkommission (MLK) hat von ihrer Befugnis nach § 10 Abs. 4 Satz 2 MiLoG Gebrauch gemacht und sich am 27. Januar 2016 zur Ergänzung der Regelungen des Mindestlohngesetzes eine Geschäftsordnung gegeben: Geschäftsordnung (GO) der Mindestlohnkommission. Abrufbar im Internetauftritt der Mindestlohnkommission: http://www.mindestlohn-kommission.de/Shared- Docs/Downloads/DE/Geschaeftsordnung.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf : 31. März 2016). Im Folgenden zitiert als GO-MLK. Anlage Die Beschlussfassung über die Anpassung des Mindestlohns nach § 9 MiLoG ist in § 3 GO-MLK geregelt. Um die in § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG vorgesehene nachlaufende Orientierung an der Tari- 1 Die aktuellen Mitglieder werden im Internetauftritt der Mindestlohnkommission vorgestellt: http://www.mindestlohn -kommission.de/DE/Kommission/Mitglieder/mitglieder_node.html;jsessionid =C9ABC571BD14601D31FE462E9AC61939.1_cid333 (letzter Abruf: 31. März 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 5 fentwicklung zu gewährleisten, regelt § 3 Abs. 1 Satz 2 GO-MLK, dass die Anpassung des Mindestlohns ab dem Jahr 2018 „im Regelfall gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf der Basis der Stundenverdienste in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren“ festgesetzt wird. Hiervon kann die Mindestlohnkommission nach § 3 Abs. 2 GO-MLK nur abweichen, „wenn besondere, gravierende Umstände aufgrund der Konjunktur- oder Arbeitsmarktentwicklung vorliegen und die Kommission daher im Rahmen der in § 9 Abs. 2 MiLoG beschriebenen Gesamtabwägung zum Ergebnis kommt, dass die nachlaufende Orientierung am Tarifindex in dieser Situation nicht geeignet ist, die Ziele des § 9 Abs. 2 MiLoG zu erreichen.“ Für eine entsprechende Abweichung ist außerdem eine Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder erforderlich. Für die bis zum 30. Juni 2016 zu beschließende erste Mindestlohnanpassung zum 1. Januar 2017 soll nach § 3 Abs. 3 GO-MLK unter Zugrundelegung der Entwicklung des Tarifindex seit Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 entsprechend verfahren werden. 3. Kritik und rechtliche Würdigung Nach Bekanntwerden der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission wurde verschiedentlich Kritik an dieser Regelung geäußert. Die vorgenommene enge Bindung an den Tarifindex des Statistischen Bundesamtes werde dem Zweck des Mindestlohngesetzes nicht gerecht und entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers, weil eine Gesamtabwägung entgegen der gesetzlichen Forderung nicht stattfinde. Die Vertreter der Sozialpartner entzögen sich vielmehr „ihrer originären Aufgabe, nämlich der Verhandlung von Löhnen“.2 Die Mindestlohnkommission werde danach „im Regelfall wie ein Notariat arbeiten, das alle zwei Jahre öffentlich verfügbare Daten zur Tarifentwicklung in eine Mindestlohnerhöhung umrechnet.“3 In rechtlicher Hinsicht stellt sich zum einen die Frage, ob die Festlegung des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Kommissionsmitglieder für die Abweichung vom Tarifindex in § 3 Abs. 2 GO-MLK mit der Bestimmung des § 10 Abs. 2 Satz 1 MiLoG vereinbar ist, wonach die Beschlussfassung zur Anpassung des allgemeinen Mindestlohns mit einfacher Mehrheit möglich sein soll. Eine weitere wesentliche Frage bezieht sich daran anknüpfend darauf, ob die hiermit verbundene enge Bindung an den Tarifindex und die damit einhergehende Einengung der Entscheidungsfindung im Hinblick auf § 9 Abs. 2 MiLoG von der Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission gedeckt und vom Willen des Gesetzgebers getragen ist. 2 Mindestlohnkommission weicht ihrem Auftrag aus. Fortschreibung der Lohnhöhe nach dem Index ist mutlos. Pressemitteilung der Fraktion der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU im Deutschen Bundestag vom 3. März 2016. Abrufbar im Internetauftritt der Fraktion CDU/CSU: https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen /mindestlohnkommission-weicht-ihrem-auftrag-aus (Letzter Abruf: 31. März 2016). 3 Mindestlohn ohne Verhandlung. Geschäftsordnung soll Basar verhindern. In: FAZ vom 2. März 2016. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 6 3.1. Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission Nach § 10 Abs. 4 Satz 2 MiLoG gibt sich die Mindestlohnkommission für „die übrigen Verfahrensfragen “, soweit sie also nicht im Mindestlohngesetz geregelt sind, eine Geschäftsordnung. Die Mindestlohnkommission ist in ihren Entscheidungen unabhängig; die Mitglieder unterliegen nach § 8 Abs. 1 MiLoG bei der Wahrnehmung ihrer Tätigkeit keinen Weisungen. Dies gilt auch für die Gestaltung des die Bestimmungen des Mindestlohngesetzes ergänzenden Binnenrechts der Kommission durch die Geschäftsordnung, die gerade auch Ausfluss der gesetzlich zugestandenen Autonomie ist. Die Regelungen der Geschäftsordnung dürfen dabei jedoch den Vorschriften des in der Normenhierarchie vorrangigen Mindestlohngesetzes nicht widersprechen4 und dürfen der Mindestlohnkommission auch keine neuen Befugnisse einräumen.5 3.2. Einführung eines Zweidrittelquorums § 10 Abs. 2 MiLoG sieht die für Beschlüsse zur Anpassung des Mindestlohns die einfache Mehrheit der Stimmen der anwesenden stimmberechtigten Mitglieder vor und stellt ein abgestuftes Verfahren zur Verfügung, das dem Vorsitzenden letztendlich die entscheidende Rolle zuweist. Diesen Grundsatz greift auch § 2 Abs. 3 GO-MLK für die „allgemeine Beschlussfassung“ auf. Im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über die Mindestlohnanpassung nach § 9 MiLoG führt § 3 Abs. 2 GO-MLK jedoch das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit aller stimmberechtigten Mitglieder für die Abweichung vom Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ein. Diese Bestimmung scheint in Widerspruch zu der in § 10 Abs. 2 MiLoG getroffenen Regelung zu stehen. Dort ist jedoch lediglich die Mehrheit beschrieben, die zur Beschlussfassung mindestens erforderlich ist. Ein mit Zweidrittelmehrheit getroffener Beschluss erfüllt diese Voraussetzung ebenso. Damit lässt die Regelung Spielraum für eine entsprechende interne Verschärfung des Abstimmungsquorums . Wenn also die Mindestlohnkommission im Rahmen ihrer Autonomie in ihrer Geschäftsordnung binnenrechtlich festlegt, dass sie Beschlüsse im Sinne des § 9 MiLoG bei Abweichungen vom Tarifindex nur mit einem Mindestquorum von zwei Dritteln treffen möchte, widerspricht diese Bestimmung nicht den Vorgaben des § 10 Abs. 2 MiLoG. Ein gesetzgeberischer Wille, wonach diese Bestimmung sicherstellen soll, dass unter allen Umständen auch die dort vorgesehene knappere Mehrheit möglich sein müsse, ist weder dem Gesetz noch der Gesetzesbegründung zu entnehmen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass zur Gewährleistung der Unabhängigkeit die Sitzungen der Mindestlohnkommission nach § 10 Abs. 4 Satz 1 MiLoG grundsätzlich nicht öffentlich und der Inhalt der Beratung, zu der auch die Beschlussfassung und das Abstimmungsverhalten der Mitglieder zählen,6 vertraulich sind. „Die Mitglieder der Kommission sollen frei 4 Riechert/Nimmerjahn, Mindestlohngesetz, 1. Aufl. 2015, § 10 Rn. 25. 5 Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 10 Rn. 23. 6 Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 10 Rn. 25. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 7 von äußeren Einflüssen beraten und entscheiden können.“7 Öffentlich ist lediglich die nach § 9 Abs. 3 MiLoG erforderliche schriftliche Begründung des Beschlusses.8 Von der Vertraulichkeit erfasster Beratungsinhalt kann dabei auch eine Vereinbarung im konkreten Einzelfall sein, für die Abstimmung ein besonderes Quorum einhalten zu wollen. Aus der Autonomie der Mindestlohnkommission (§ 8 Abs. 1 MiLoG) folgt, dass sie im Binnenverhältnis eigene Vorstellungen entwickeln und umsetzen kann, wie sie ihren Aufgaben nach dem Mindestlohngesetz am besten gerecht wird. Es dürfte ihr daher auch nicht verwehrt sein, in Ausübung ihrer Autonomie in einer Geschäftsordnung nach § 10 Abs. 4 Satz 2 MiLoG eine entsprechende generelle Vereinbarung zu treffen und öffentlich zu machen. Anliegen des Gesetzes und der Einsetzung einer auf Vorschlag der Sozialpartner zu besetzenden Mindestlohnkommission ist unter anderem, eine möglichst breite Akzeptanz des Mindestlohnes bei Arbeitsnehmern und Arbeitgebern zu erreichen. Die Einigung auf die Einführung eines Zweidrittelquorums zur Abweichung vom Tarifindex schränkt die Schlüsselstellung des Vorsitzenden ein und stellt sicher , dass nicht nur Mitglieder eines Lagers zusammen mit dem Vorsitzenden einen entsprechenden Beschluss tragen, sondern dieser stets auch von mindestens einem Mitglied der jeweiligen Gegenseite unterstützt wird. Diese Regelung dürfte nicht nur das gegenseitige Vertrauen in der Mindestlohnkommission stärken, sondern erscheint auch in besonderer Weise zur Erreichung einer breiten Mindestlohnakzeptanz geeignet. 3.3. Enge Bindung an den Tarifindex 3.3.1. Regelung Wesentliches Ziel bei der im zweijährigen Rhythmus erfolgenden Entscheidung über die Anpassung der Mindestlohnhöhe ist, dass der Mindestlohn allen beteiligten Interessen gerecht wird. Dazu gibt § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG der Mindestlohnkommission einen Katalog von Kriterien an die Hand, die im Rahmen einer Gesamtabwägung zum Ausgleich gebracht werden müssen. Der Mindestlohn muss danach geeignet sein, – zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen , – faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie – Beschäftigung nicht zu gefährden. Gleichzeitig hat sich die Mindestlohnkommission bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung zu orientieren (§ 9 Abs. 2 Satz 3 MiLoG). § 3 Abs. 1 Satz 1 GO-MLK nimmt die Regelung des § 9 Abs. 2 MiLoG auf, wonach die Mindestlohnkommission sich nachlaufend an der Tarifentwicklung zu orientieren habe, um die in § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG genannten Ziele zu erreichen, und begründet damit den in § 3 Abs. 1 Satz 2 7 Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 10 Rn. 20. 8 Vgl. Greiner in: Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 38. Ed., Stand: 1. September 2015, § 10 MiLoG Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 8 GO-MLK formulierten Regelfall der Anpassung des allgemeinen Mindestlohns gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes. Von diesem Regelfall kann nach § 3 Abs. 2 GO-MLK nur unter „besonderen, gravierenden Umständen“ mit Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder abgewichen werden. Damit bindet sich die Mindestlohnkommission binnenrechtlich scheinbar enger an den Tarifindex, als es die Bestimmungen des Mindestlohngesetzes vorgeben, und schränkt ihren Entscheidungsspielraum entsprechend ein. Es wird daher zum Teil die Auffassung vertreten, dass die Mindestlohnkommission mit der Regelung des § 3 GO-MLK über das Maß an Orientierung hinausgehe, das der Gesetzgeber festgelegt habe. 3.3.2. Gesetzliche Wertung Das Gesetz sieht eine Gewichtung der einzelnen Kriterien des § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG nicht vor;9 in der Kommentarliteratur werden sie daher als gleichwertig interpretiert.10 Nach im Schrifttum vertretener Auffassung stellen die gesetzlichen Kriterien allerdings lediglich Leitlinien für die Gesamtabwägung dar, die in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit nicht überbewertet werden dürften .11 „Der Gehalt des § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG sowie das systematische Verhältnis zum Kriterienkatalog nach § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG erschließen sich nicht ohne Weiteres. Die Regelung war im ersten Diskussionsentwurf des Mindestlohngesetzes nicht enthalten, sondern wurde auf Betreiben der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer ergänzt, deren Bestreben es war, eine möglichst strenge Indexierung des Mindestlohns zu erreichen.“12 In der Gesetzesbegründung heißt es in Bezug auf den Stellenwert der Tarifentwicklung im Rahmen der Gesamtabwägung lediglich, sie sei „ein wichtiger Richtwert für die Anpassung des Mindestlohns “.13 Die nachlaufende Orientierung an der Tarifentwicklung soll, worauf in der Kommentarliteratur hingewiesen wird, eine direkte Determinierung von Tarifverhandlungen durch die Mindestlohnanpassungen verhindern.14 Daher handelt es sich bei der Gesamtabwägung, die 9 Heilmann in Düwell/Schubert, Mindestlohngesetz, 1. Aufl. 2015, § 9 Rn. 12. 10 So Greiner in: Beck’scher Online-Kommentar (Fn. 8), § 9 MiLoG Rn. 2 f. und Vogelsang in: Schaub, Arbeitsrechts -Handbuch, MiLoG Rn. 58; Vgl. auch die Gesetzesbegründung: Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 28. Mai 2014. Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 38. Franzen in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Auflage 2016, § 9 Mi- LoG Rn. 2 weist auf die Zielkonflikte zwischen den einzelnen Kriterien hin. 11 Lakies, Thomas; Mindestlohngesetz, 2. Aufl. 2015, § 9 Rn. 6. 12 Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 9 Rn. 23 mit Nachweisen aus den Stellungnahmen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (Ausschussdrucksache 18(11)148, S. 6,9 und 32,35). 13 Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 38. 14 Heilmann in Düwell/Schubert (Fn. 9), § 9 Rn. 16; vgl. auch Franzen in Erfurter Kommentar (Fn. 10), § 9 MiLoG Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 9 die Mindestlohnkommission vorzunehmen hat, gerade nicht um Lohnverhandlungen, wie sie zu den originären Aufgaben der Sozialpartner zählen. „Das Gesetz sieht aber „keinen Automatismus zwischen Tarifentwicklung und Höhe der Anpassung dergestalt vor, dass die Höhe der Anpassung der durchschnittlichen Tarifentwicklung entsprechen muss oder sie andererseits nicht über- oder unterschreiten darf.“15 Dies ist auch dem Beratungsbericht des federführenden Ausschusses für Arbeit und Soziales zu einem Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE. zu entnehmen: Nach Auffassung der Fraktion der CDU/CSU solle sich die Mindestlohnkommission „von einer Gesamtabwägung leiten lassen, statt lediglich eine Anpassung an den Lohnentwicklungsindex vorzunehmen.“16 § 9 Abs. 2 Satz 2 MiLoG erachtet die Tarifentwicklung mithin lediglich als Orientierungsparameter , dem allerdings eine herausgehobene Bedeutung zukommen dürfte. Letztentscheidend ist jedoch die vorzunehmende Gesamtabwägung,17 für die der Mindestlohnkommission freilich ein Prognosespielraum einzuräumen ist.18 3.3.3. Rechtliche Würdigung Ein Automatismus in dem beschriebenen Sinn wird auch nicht durch das in der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission vorgesehene Verfahren begründet, da ein Abweichen vom Tarifindex unter den in § 3 Abs. 2 GO-MLK geregelten Voraussetzungen möglich ist. Der in der Presse geäußerte Vorwurf, die Mindestlohnkommission werde lediglich wie ein Notariat tätig, geht daher fehl. Gleichwohl könnte die Geschäftsordnung der Tarifentwicklung für die Höhe des festzusetzenden Mindestlohns eine Bedeutung zusprechen, die sie nach dem System des Mindestlohngesetzes nicht hat, und zur Folge haben, dass eine vom Gesetz geforderte Gesamtabwägung aller Interessen nicht stattfinden könnte. Auf der Grundlage der dargestellten gesetzlichen Bestimmung erscheint es unbedenklich, wenn § 3 Abs. 1 GO-MLK der Entscheidung über die Mindestlohnanpassung zunächst den Tarifindex des statistischen Bundesamtes zugrunde legt. Auch die Einschränkung der Möglichkeit einer 15 Heilmann in Düwell/Schubert (Fn. 9), § 9 Rn. 16. 16 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) a) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 18/1558 – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) b) zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/590 – Mindestlohn in Höhe von 10 Euro pro Stunde einführen. Bundestagsdrucksache 18/2010 (neu) vom 2. Juli 2014, S. 21. 17 Heilmann in Düwell/Schubert (Fn. 9), § 9 Rn. 16; Lakies (Fn. 11), § 9 Rn. 6; Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 9 Rn. 24, Thüsing in: 18. Wahlperiode, Wortprotokoll der 67. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 14. März 2016, Protokoll-Nr. 18/67, S. 4. 18 Heilmann in Düwell/Schubert (Fn. 9), § 9 Rn. 18; Lakies (Fn. 11), § 9 Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 10 hiervon abweichenden Mindestlohnfestsetzung durch die materielle Voraussetzung des Vorliegens „besonderer, schwerwiegender Umstände aufgrund der Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung “, der die Bedeutung des Tarifindex als Hauptindikator hervorhebt, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken. Sie weist den in § 9 Abs. 2 Satz 1 MiLoG genannten Kriterien zwar eine gegenüber dem Tarifindex nachrangige Bedeutung zu, die aber - wie oben gesehen - vom gesetzgeberischen Willen getragen sein dürfte. Eine Berücksichtigung aller Aspekte im Rahmen einer Gesamtabwägung wird dadurch letztlich nicht beeinträchtigt. Eine spürbare Einschränkung des Entscheidungsspielraums der Mindestlohnkommission könnte allerdings das in § 3 Abs. 2 GO-MLK für eine Abweichung vom Tarifindex ebenfalls aufgestellte formelle Erfordernis des oben unter 3.2 dargestellten Quorums von zwei Dritteln der stimmberechtigten Mitglieder darstellen. Mindestens fünf der sieben stimmberechtigten Mitglieder (einschließlich des Vorsitzenden) müssen also der Abweichung zustimmen. Dies kann sich einerseits - wie oben erörtert - positiv auf die Akzeptanz der Mindestlohnanpassung auswirken, bedeutet andererseits aber auch, dass sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberseite geschlossen eine vom Tarifindex abweichende Anpassung und eine vernünftige Gesamtabwägung verhindern könnte. Dies erscheint im Hinblick auf die Bedeutung der Gesamtabwägung für die Mindestlohnanpassung bedenklich. Dem lässt sich entgegenhalten, dass ein Zweidrittelquorum gerade den Diskurs zwischen den verschiedenen Lagern erfordert, da abgesehen von dem Vorsitzenden eine Stimme der jeweils anderen Seite „gewonnen“ werden muss. Die Regelung könnte daher insgesamt sogar geeignet sein, den Prozess der Diskussion zu fördern und das Ergebnis der Gesamtabwägung zu stärken. 3.4. Fazit Die Mindestlohnkommission hat in Ausübung ihrer Unabhängigkeit und im Wissen um ihre Verpflichtung zur Entscheidung aufgrund einer Gesamtabwägung ihre Befugnis wahrgenommen und eine Geschäftsordnung verabschiedet. Letztlich wird es, worauf Thüsing anlässlich einer öffentlichen Sachverständigenanhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales19 zu Recht hinwies, darauf ankommen, wie verantwortungsvoll die Kommission mit ihrer Verpflichtung umgeht und wie sie ihre Geschäftsordnung in der Praxis umsetzt und mit Leben füllt. Gelingt es der Kommission , die Tarifentwicklungen als Ausgangspunkt einer ernst zu nehmenden Diskussion darüber zu sehen, ob dieser Indikator unter Abwägung aller gesetzlich geforderten Gesichtspunkte und unter Berücksichtigung der Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt, für die Anpassung des Mindestlohnes geeignet ist, die Ziele des Mindestlohngesetzes zu erreichen, dürfte sich die Regelung des § 3 GO-MLK als zulässige Ergänzung der Bestimmungen des Mindestlohngesetzes darstellen . Ein Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen ist insoweit nicht ersichtlich. Der Verpflichtung, eine Gesamtabwägung vorzunehmen, kann sich die Mindestlohnkommission im Übrigen schon deshalb nicht entziehen, weil sie ihren Beschluss nach § 9 Abs. 3 MiLoG 19 18. Wahlperiode, Wortprotokoll der 67. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales vom 14. März 2016, Protokoll-Nr. 18/67, S. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 042/16 Seite 11 schriftlich zu begründen hat. Die Begründung soll der Gesetzesbegründung zufolge auch „eine Auseinandersetzung mit den in Absatz 2 genannten Kriterien sowie die wesentlichen Entscheidungsgründe “ beinhalten.20 Eine Gesamtabwägung, die nicht tatsächlich stattgefunden hat, wird in der Begründung schwerlich nachzuzeichnen sein. Zu berücksichtigen ist abschließend, dass die endgültige Entscheidungsbefugnis bei der Bundesregierung liegt. Denn die Anpassung des Mindestlohns wird nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MiLoG nur verbindlich, wenn die Bundesregierung eine Rechtsverordnung erlässt. „Solange der Beschluss der Mindestlohnkommission nicht begründet ist, dürfte es regelmäßig an einer hinreichenden Grundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung fehlen.“21 4. Geltungsdauer und Bindung künftiger Mindestlohnkommissionen Des Weiteren ist zu klären, inwieweit die durch die aktuelle Mindestlohnkommission beschlossene Geschäftsordnungsregelung in der Lage ist, auch künftige Mindestlohnkommissionen zu binden. § 10 Abs. 4 Satz 2 MiLoG stellt klar, dass die Mindestlohnkommission sich zu den übrigen Verfahrensfragen eine Geschäftsordnung gibt. Über deren Geltungsdauer geben weder das Gesetz noch die Gesetzesbegründung Auskunft. Nach Riechert/Nimmerjahn „wirkt die erlassene Geschäftsordnung nach dem Grundsatz der Diskontinuität ausschließlich für die Amtszeit der Mindestlohnkommission nach § 4 Abs. 2 MiLoG. Die nachfolgende Mindestlohnkommission kann die Geschäftsordnung aber durch bestätigenden Beschluss ‚übernehmen‘. Ein lediglich stillschweigendes Zueigenmachen der alten Geschäftsordnung durch die neu besetzte Mindestlohnkommission ist nicht möglich.“22 Ende der Bearbeitung 20 Bundestagsdrucksache 18/1558, S. 38. 21 Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 9 Rn. 32. 22 Riechert/Nimmerjahn (Fn. 4), § 10 Rn. 26.