© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 041/20 Werkverträge in der Fleischindustrie Gesetzgeberische Maßnahmen zu Arbeitsbedingungen und Scheinselbständigkeit Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 2 Werkverträge in der Fleischindustrie Gesetzgeberische Maßnahmen zu Arbeitsbedingungen und Scheinselbständigkeit Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 041/20 Abschluss der Arbeit: 30. April 2020 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Allgemeines 4 2. Jüngere Gesetzgeberische Maßnahmen 4 2.1. Arbeitsbedingungen bei Arbeitnehmerentsendung 4 2.2. Scheinselbständigkeit 5 2.2.1. Sozialversicherungsrecht 6 2.2.2. Arbeitsrecht 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 4 1. Allgemeines Die fleischverarbeitende Industrie steht immer wieder in der Kritik wegen der verbreiteten Praxis der Nutzung von Werkverträgen mit Subunternehmern, die vielfach in Mittel- und Osteuropa ansässig sind. Meist stehen niedrige Entlohnung und schlechte Arbeitsbedingungen der entsandten Arbeitskräfte im Zentrum der Kritik. Einen historischen Abriss der Entwicklung der Werkvertragsnutzung und der Arbeitsbedingungen in der fleischverarbeitenden Industrie sowie die gesetzgeberischen Maßnahmen zu Verbesserung der Arbeitsbedingungen in dieser Branche geben Bosch, Gerhard; Hüttenhoff, Frederic; Weinkopf, Claudia: Kontrolle von Mindestlöhnen , Wiesbaden 2019, Auszug: Abschnitt 7: Fleischwirtschaft (S. 191-236). Das Gesamtwerk ist in der Bibliothek des Deutschen Bundestages digital verfügbar. - Anlage - Die Autoren, Mitarbeiter des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, stellen die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Kontrolle von Mindestlöhnen in Deutschland vor. Am Beispiel von drei Branchen, darunter die Fleischwirtschaft, bieten sie einen Überblick über Herausforderungen und Probleme bei der Durchsetzung und Einhaltung von Mindestlöhnen . Die Situation in der Fleischindustrie ist auch Gegenstand der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jutta Krellmann , Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/17280 – Werkverträge in der Fleischindustrie, Bundestagsdrucksache 19/17679 vom 6. März 2020. 2. Jüngere gesetzgeberische Maßnahmen 2.1. Arbeitsbedingungen bei Arbeitnehmerentsendung Die Situation der entsandten Arbeitnehmer konnte wesentlich verbessert werden durch die Aufnahme der Fleischindustrie in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG). Artikel 1 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes vom 24. Mai 20141 ergänzte insoweit die Aufzählung der Branchen in § 4 Abs. 1 Nr. 9 AEntG. Eine Definition der Branche enthält § 6 Abs. 10 AEntG: 1 BGBl. 2014 I, S. 538 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 5 „Im Falle eines Tarifvertrages nach § 4 Absatz 1 Nummer 9 findet dieser Abschnitt Anwendung in Betrieben und selbständigen Betriebsabteilungen, in denen überwiegend geschlachtet oder Fleisch verarbeitet wird (Betriebe der Fleischwirtschaft) sowie in Betrieben und selbständigen Betriebsabteilungen, die ihre Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen überwiegend in Betrieben der Fleischwirtschaft einsetzen. Das Schlachten umfasst dabei alle Tätigkeiten des Schlachtens und Zerlegens von Tieren mit Ausnahme von Fischen . Die Verarbeitung umfasst alle Tätigkeiten der Weiterverarbeitung von beim Schlachten gewonnenen Fleischprodukten zur Herstellung von Nahrungsmitteln sowie deren Portionierung und Verpackung. Nicht erfasst ist die Verarbeitung, wenn die Behandlung , die Portionierung oder die Verpackung beim Schlachten gewonnener Fleischprodukte direkt auf Anforderung des Endverbrauchers erfolgt.“ Ein weiterer Schritt zu Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie erfolgte durch das als Artikel 30 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17. Juli 2017 erlassene Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch), das am 25. Juli 2017 in Kraft getreten ist. § 3 GSA Fleisch erstreckt die bis dahin lediglich für das Baugewerbe geltende Nachunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge nach § 28e Abs. 3a, Abs. 3b Satz 1, Abs. 3c Satz 1, Abs. 3e, Abs. 3f Satz 1 und 2, Abs. 4 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) auf Unternehmer der Fleischwirtschaft, die andere Unternehmer mit Tätigkeiten des Schlachtens oder der Fleischverarbeitung im Sinne des § 6 Abs. 10 Satz 2 bis 4 AEntG beauftragen. Nach Angaben der Bundesregierung liegen „erste Hinweise von der zuständigen Berufsgenossenschaft vor, dass sich in der gesetzlichen Unfallversicherung die Zahlungsmoral der fleischwirtschaftlichen Dienstleistungsunternehmen in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber dem Zeitraum der Jahre 2014 bis 2016 signifikant verbessert hat.“ Dies lasse erkennen, dass die Regelung die beabsichtigte generalpräventive Wirkung erfülle.2 Daneben ordnet das GSA Fleisch die Verpflichtung des Arbeitgebers zur unentgeltlichen Gestellung von Arbeitskleidung und persönlicher Schutzausrüstung (§ 4 GSA Fleisch), ein Aufrechnungsverbot gegenüber dem unpfändbaren Teil des Arbeitsentgelts (§ 5 Abs. 2 GSA Fleisch) sowie eine Dokumentation der täglichen Arbeitszeit jeweils am selben Tag (§ 6 GSA Fleisch) an. 2.2. Scheinselbständigkeit Wie nicht selten im Niedriglohnsektor werden in der Fleischindustrie auch sogenannte Solo- Selbständige auf der Grundlage von Einzelwerkverträgen eingesetzt. Dabei handelt es sich jedoch oft um Scheinselbständigkeit. 2 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jutta Krellmann, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/17280 – Werkverträge in der Fleischindustrie, Bundestagsdrucksache 19/17679 vom 6. März 2020, S. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 6 „Von Scheinselbständigkeit spricht man immer dann, wenn Beschäftigungsverhältnisse (teils irrtümlich , teils absichtlich) formal als selbständige Rechtsverhältnisse bezeichnet und behandelt werden, obwohl sie in der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses als abhängige Beschäftigung angesehen werden müssen. In diesen Fällen wenden die Arbeitgeber das Arbeitsrecht und das Sozialversicherungsrecht nicht an und vermeiden so die damit verbundenen Kosten. Scheinselbständige sind Personen, mit denen zwar ein Vertrag als Werkunternehmer, Selbständiger, Honorarkraft oder freier Mitarbeiter geschlossen wurde, die tatsächlich aber ohne unternehmerische Eigenverantwortlichkeit und Dispositionsmöglichkeiten tätig sind und nur unselbständige Arbeitsleistungen erbringen.“3 Sie sind daher im Rechtssinne Arbeitnehmer. Wenn die Vertragsverhältnisse in ihrer tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung als abhängige Beschäftigung angesehen werden müssen, finden auf sie auch die arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen Anwendung. Die Sozial- und Arbeitsgerichte stellen für die Frage, ob solche Rechtsverhältnisse in Wirklichkeit abhängige Beschäftigungs-verhältnisse sind, wesentlich auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung ab und haben eine Reihe von Kriterien erarbeitet, die für oder gegen die Annahme eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses sprechen. 2.2.1. Sozialversicherungsrecht Für den Bereich des Sozialversicherungsrechts ist die Abgrenzung von abhängig Beschäftigten und Scheinselbständigen in den §§ 7 ff SGB IV geregelt. Gemäß § 7 Abs. 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Um zu erreichen, dass die Gruppe der Scheinselbständigen wieder in die Sozialversicherungspflicht genommen wird, wurden durch das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 19. Dezember 19984 Maßnahmen beschlossen, die es den Sozialversicherungsträgern erleichtern sollten, die Scheinselbständigkeit zu bekämpfen. So wurde in § 7 Abs. 4 SGB IV ein Kriterienkatalog aufgenommen. Bei Vorliegen von mindestens zwei der vier dort aufgeführten Kriterien wurde eine lohnabhängige Beschäftigung unterstellt. Bei diesem Katalog handelt es sich jedoch nicht um eine Auslegungsregel, sondern um eine gesetzliche Vermutung. Maßgebender Anknüpfungspunkt für das Bestehen oder Nichtbestehen der Sozialversicherungspflicht blieb auch nach dem neuen Gesetz die abhängige Beschäftigung, § 7 Abs. 1 SGB IV. Allein die Feststellung einer abhängigen Beschäftigung sollte dem Sozialversicherungsträger durch den Katalog erleichtert werden. Das Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20. Dezember 19995 ergänzte und präzisierte den in § 7 Abs. 4 SGB IV vorhandenen Katalog um ein weiteres Kriterium. Nunmehr wurde vermutet , dass eine abhängige Beschäftigung vorlag, wenn drei der fünf Kriterien erfüllt waren. 3 Viethen, Peter: Grundlagen des Arbeitsrechts, in: BMAS (Hrsg.): Übersicht über das Arbeitsrecht/Arbeitsschutzrecht , 13. Aufl. 2019, Kapitel, Rn. 39. 4 BGBl. 1998 I, S. 3843 ff. 5 BGBl. 2000 I, S. 2 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 7 Ab 2003 bestimmte § 7 Abs. 4 SGB IV lediglich, dass Personen, die einen Gründerzuschuss nach § 421 Abs. 1 SGB III beantragt hatten, für die Dauer ihrer Förderung widerlegbar als Selbständige beurteilt wurden. Mit Wirkung vom 1. Juli 2009 wurde Abs. 4 ersatzlos gestrichen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt es bei der Prüfung wesentlich auf das Kriterium der Weisungsgebundenheit an. Entscheidend ist aber stets das Gesamtbild der Vertragsdurchführung . Eine instruktive Darstellung der Abgrenzungskriterien sowohl der Finanzverwaltung als auch des Bundessozialgerichts bietet: Industrie- und Handelskammer (IHK) Rhein-Neckar (o.D.): Scheinselbständigkeit: Abhängig beschäftigt oder selbständig?. Internetpublikation. Abrufbar im Internetauftritt der IHK Rhein-Neckar: https://www.rhein-neckar.ihk24.de/recht/arbeitsrecht/arbeitsrecht /scheinselbstaendigkeit-938372#titleInText2 (letzter Abruf: 30. April 2020). 2015/2016 unternommene Bestrebungen, die vom BSG erarbeiteten Kriterien für die Annahme einer Scheinselbständigkeit in Gesetzesform zu giessen und erneut acht Kriterien dafür in § 7 Abs. 4 SGB IV aufzunehmen, wurden nicht realisiert. 2.2.2. Arbeitsrecht Die sozialversicherungsrechtliche Einordnung eines Vertragsverhältnisses hat aber keine unmittelbaren rechtlichen Auswirkungen auf die Einordnung unter den Begriff des Arbeitnehmers im Arbeitsrecht, der bisher allein durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geprägt war. Eine Legaldefinition des Arbeitnehmerbegriffs wurde erstmals durch Artikel 2 des Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze vom 21. Februar 20176 wurde mit § 611a Abs. 1 BGB eingeführt: „Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen. Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.“ Mit dieser gesetzlichen Definition sollen missbräuchliche Gestaltungen des Fremdpersonaleinsatzes durch vermeintlich selbständige Tätigkeiten verhindert und die Rechtssicherheit erhöht werden . Dafür hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgegriffen. Auch Satz 4 dieser Regelung spiegelt die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung wieder, wonach die Abgrenzung des Arbeitsverhältnisses von anderen Vertragsverhältnissen im Wege einer 6 BGBl. 2017 I, S. 258 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 041/20 Seite 8 Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist. Durch eine solche wertende Betrachtung kann - so die Gesetzesbegründung - den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung getragen werden. § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB stellt für den Fall, dass sich der Vertrag und seine Durchführung widersprechen , klar, dass für die rechtliche Einordnung als Arbeitsverhältnis die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses maßgebend ist. Auch dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. ***