© 2017 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 039/17 Paritätische Finanzierung in der Sozialversicherung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 2 Paritätische Finanzierung in der Sozialversicherung Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 039/17 Abschluss der Arbeit: 29. Juni 2017 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Kompetenzrechtliche Vorgaben des Grundgesetzes 5 3. Parität als verfassungsrechtliche Gewährleistung? 6 3.1. Sozialstaatsprinzip 6 3.2. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG 6 4. Übereinkommen über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit 7 5. Fazit 8 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 4 1. Einleitung Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Klärung von rechtlichen Fragen im Hinblick auf die Möglichkeit des Gesetzgebers, vom Prinzip der paritätischen Finanzierung abzuweichen und die Beitragsaufteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Sozialversicherungszweigen frei zu gestalten. Die Beiträge werden grundsätzlich vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils zur Hälfte getragen . Die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung hat der Arbeitgeber allein zu tragen. Diese sind abhängig von Gefahrklassen, die für den Betrieb gelten. Die Bemessung und die Tragung der Beiträge sind in den Vorschriften der einzelnen Versicherungszweige geregelt und zwar: - für die Gesetzliche Krankenversicherung im Fünften Buch Sozialgesetzbuch1 (§§ 220, 241 ff SGB V) und im Zweiten Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte2 (§§ 37 ff., 47, 48 KVLG 1989), - für die Soziale Pflegeversicherung im Elften Buch Sozialgesetzbuch3 (§§ 55, 57-59 SGB XI), - für die Gesetzliche Rentenversicherung im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch4 (§§ 157 ff., 168 ff. SGB VI) und im Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte5 (§§ 68, 70 ALG), - für die Gesetzliche Unfallversicherung im Siebten Buch Sozialgesetzbuch6 (§§ 150, 151 sowie §§ 152 ff. SGB VII) und - für die Arbeitsförderung im Dritten Buch Sozialgesetzbuch7 (§§ 341 ff., 346, 347 SGB III). 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1228) geändert worden ist. 2 Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477, 2557), das durch Artikel 6 Absatz 6 des Gesetzes vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1228) geändert worden ist. 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 1014, 1015), das zuletzt durch Artikel 1c des Gesetzes vom 4. April 2017 (BGBl. I S. 778) geändert worden ist. 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 (BGBl. I S. 754, 1404, 3384), das zuletzt durch Artikel 18 des Gesetzes vom 12. Mai 2017 (BGBl. I S. 1121) geändert worden ist. 5 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte vom 29. Juli 1994 (BGBl. I S. 1890, 1891), das durch Artikel 6 Absatz 5 des Gesetzes vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1228) geändert worden ist. 6 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254), das zuletzt durch Artikel 1b des Gesetzes vom 4. April 2017 (BGBl. I S. 778) geändert worden ist. 7 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. März 1997, BGBl. I S. 594, 595), das durch Artikel 6 Absatz 8 des Gesetzes vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1228) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 5 Für das Jahr 2017 gelten folgende Beitragssätze: - in der Rentenversicherung 18,7 Prozent, - in der Arbeitslosenversicherung 3,0 Prozent, - in der Pflegeversicherung 2,55 Prozent (zuzüglich 0,25 Prozent für Kinderlose), - in der Krankenversicherung 14,6 Prozent (ermäßigter Beitragssatz 14,0 Prozent), - in der Arbeitslosenversicherung 3,0 Prozent. Von der paritätischen Regelung gab es in der Vergangenheit bereits Abweichungen, etwa durch die Einführung des Sonder- beziehungsweise Zusatzbeitrags in der Gesetzlichen Krankenversicherung nach § 242 SGB V. Seit dem Jahr 2015 müssen Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen einen kassenindividuellen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag zahlen.8 Eine weitere Abweichung vom Grundsatz der Parität gibt es historisch bedingt bei der Pflegeversicherung durch die Beibehaltung des Buß- und Bettags als Feiertag im Bundesland Sachsen. Dort beträgt der Beitragssatz des Arbeitgebers 0,775 Prozent und der des Arbeitnehmers 1,775 Prozent.9 Seit dem 1. April 2004 tragen die in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversicherten Rentner den Beitrag zur Pflegeversicherung allein.10 Davor gab es eine paritätische Verteilung, bei der der Rentenversicherungsträger die Hälfte des Beitrages zahlte. 2. Kompetenzrechtliche Vorgaben des Grundgesetzes Das gegenwärtige Recht der Sozialversicherung stützt sich auf die Kompetenzzuweisung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Grundgesetz (GG). Danach steht dem Bund auf dem Gebiet der Sozialversicherung die konkurrierende Gesetzgebung zu. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) versteht den Begriff „Sozialversicherung“ als weit gefassten Gattungsbegriff, der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt und dem Wandel sozialer Verhältnisse angepasst werden könne.11 Allerdings darf der Begriff der Sozialversicherung nicht im Sinne einer umfassenden Kompetenz für die soziale Sicherheit verstanden werden.12 Wesentlich für die Sozialversicherung ist die Verteilung des Bedarfs auf eine 8 Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz - GKV-FQWG). Das Gesetz ist in wesentlichen Teilen am 1. Januar 2015 in Kraft getreten. 9 Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung: BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 11. 6. 2003 - 1 BvR 190/00 u.a. 10 Durch Art. 6 Nr.- 1 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ist § 59 Abs. 1 Satz. 1 SGB XI geändert worden. 11 BVerfGE 75, 108 (146). 12 BVerfGE 11, 111 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 6 „organisierte Vielheit“, das heißt auf eine Solidargemeinschaft.13 Zu dieser Solidargemeinschaft zählt nicht nur der Kreis der Versicherten, sondern es sind vor allem die Arbeitgeber in Auswirkung des für sie geltenden Fürsorgeprinzips einbezogen.14 3. Parität als verfassungsrechtliche Gewährleistung? 3.1. Sozialstaatsprinzip Zu den fundamentalen Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 Abs. 1 GG zählt auch das Sozialstaatsprinzip . Es ist über Art. 79 Abs. 3 GG von der sog. Ewigkeitsgarantie erfasst. Da soziale Problemlagen stets dem Wandel unterliegen, wird der Gesetzgeber primär auf der Ebene des einfachen Rechts tätig, um sozialen Ausgleich und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung klargestellt, dass sich dem Grundgesetz - insbesondere dem Sozialstaatsprinzip - keine Garantie des bestehenden Sozialversicherungssystems entnehmen lässt.15 Sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers sind hinzunehmen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlerhaft noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind. Aus Art. 20 Abs. 1 GG ergeben sich insoweit Grenzen, als das Sozialstaatsprinzip fordert, über den Schutz des sozial besonders Schwachen hinaus durch soziale Sicherung und sozialen Ausgleich die persönliche Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens zu schützen .16 Nach einem Urteil des Thüringer Landessozialgerichts „gibt es keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass Sozialversicherungsbeiträge für Beschäftigte immer paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu zahlen sind.“ Es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums eine andere Regelung zu treffen.17 3.2. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG Nicht einschlägig im Hinblick auf Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Sozialversicherungsrechtliche Positionen genießen den Eigentumsschutz nach Art. 14 GG, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und der Sicherung seiner Existenz dienen.18 Strikt zu unterscheiden sind diese sozialversicherungsrechtlichen Positionen jedoch von der Beitragserhebung („Trennungsprinzip “). Das Vermögen als solches ist jedenfalls kein Eigentum im Sinne der Eigentumsgarantie. Eine Verletzung des Eigentumsrechts liegt ausnahmsweise erst dann vor, wenn der Betroffene 13 BVerfGE 11, 105 (112). 14 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 74, Rn. 171. 15 BVerfG, Beschluss vom 18. 7. 2005 - 2 BvF 2/01. 16 BVerfGE 11, 105 (117); 28, 324 (348). 17 Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 26. November 2013 – L 6 KR 433/12 –, Rn. 22, juris. 18 Vgl. BVerfGE 69, 272 (301); 100, 1 (33 f.), ständige Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 7 durch öffentlich- rechtliche Geldleistungspflichten übermäßig belastet ist und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigt sind, dass die Geldleistungspflichten eine erdrosselnde Wirkung haben.19 4. Übereinkommen über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit Art. 71 Nr. 2 des Übereinkommens Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO/IAO) über die Mindestnormen sozialer Sicherheit20 formuliert das Gebot der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung folgendermaßen: „Die Gesamtsumme der von den geschützten Arbeitnehmern aufzubringenden Beiträge darf 50 von Hundert der Gesamtsumme der für den Schutz der Arbeitnehmer und ihrer Ehefrauen und Kinder bestimmten Mittel nicht übersteigen. Zur Feststellung, ob diese Bedingung erfüllt ist, können alle von einem Mitglied nach dem Übereinkommen gewährten Leistungen mit Ausnahme der Familienleistungen und, sofern hierfür ein besonderer Zweig besteht , die Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten berücksichtigt werden.“ Allerdings hat die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen nur mit der Maßgabe ratifiziert , dass die in den Teilen II bis X des Übereinkommens bezeichneten Verpflichtungen übernommen werden. Art. 71 Nr. 2 gehört zu Teil XIII des Übereinkommens und ist nicht Bestandteil des Zustimmungsgesetzes geworden. Der deutsche Gesetzgeber ist mithin nicht daran gebunden. In Deutschland bedürfen ILO-Übereinkommen wie andere völkerrechtliche Verträge zu ihrer innerstaatlichen Wirksamkeit nach Art. 59 GG der Zustimmung des Gesetzgebers. „Sie binden nur die Völkerrechtssubjekte, d.h. die Staaten. Sollen die Regelungen auch gegenüber dem Bürger gelten, so müssen sie – in der Regel durch Gesetz – in nationales Recht umgesetzt werden.“21 Soweit ILO-Normen nationales Recht geworden sind, ist bei Klagen wegen Verstößen zunächst die nationale Rechtsprechung, in Deutschland also je nach Zusammenhang die Arbeitsgerichtsbarkeit oder die Sozialgerichtsbarkeit, zuständig. 19 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, z.B. BVerfGE 82, 159 (190); 95, 267 (300). 20 Übereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 28. 6. 1952 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit, dem die Bundesrepublik teilweise beigetreten ist (vgl. Zustimmungsgesetz vom 18. 9. 1957, BGBl II, 1321). 21 Thüsing, Gregor: International Framework Agreements: rechtliche Grenzen und praktischer Nutzen. In: RdA 2010, S. 78-93 (81). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 039/17 Seite 8 5. Fazit Es gibt keinen verfassungsmäßigen Grundsatz, der besagt, dass Sozialversicherungsbeiträge für Beschäftigte immer paritätisch vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu zahlen sind. Das Bundessozialgericht (BSG) vertritt die Auffassung, dass die paritätische Aufteilung der Sozialversicherungsbeiträge „kein fester, unverrückbarer Grundsatz des Sozialversicherungsrechts“ sei.22 Im deutschen Recht existiert auch kein geschriebenes Sozialfinanzverfassungsrecht, obgleich das Beitragsrecht gleich dem Steuerrecht den Einzelnen finanziell belastet. Geht es also um die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Beitragserhebungen und Beitragslasten, kann man sich nur mit der Rechtsprechung zu diesem Thema behelfen, die dem Beitrags- und Leistungsgerecht durch den Gleichheitssatz, das Eigentumsrecht, das Sozialstaatsprinzip etc. eine rechtliche Ordnung gibt, letztlich aber nur den Einzelfall beleuchtet.23 Grundsätzlich ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums im Interesse der sozialen Sicherung neue Regelungen zu schaffen, soweit er sich an die verfassungsrechtlichen Vorgaben und Grundprinzipien hält. *** 22 BSG, Urteil vom 30. September 1999 - B 8 KN 1/98 P R. 23 Vor allem das Beitragsrecht bleibt in der Rechtsprechung noch weitgehend ungeklärt, so auch Kirchhof, in NZS 2015, 8.