© 2015 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 038/15 Leistungsfähigkeit der sogenannten Riester-Rente aus sozialpolitischer Sicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 2 Leistungsfähigkeit der sogenannten Riester-Rente aus sozialpolitischer Sicht Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 038/15 Abschluss der Arbeit: 29. April 2015 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Demografisch bedingter Reformbedarf in der Alterssicherung 4 2. Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung 4 3. Beitragssatz- und Niveausicherungsziele der gesetzlichen Rentenversicherung 5 4. Beabsichtigter Ausgleich der Niveauminderung durch zusätzliche kapitalgedeckte Alterssicherung 6 5. Erwartungen im Vorfeld der Reform und ihre Erfüllung 7 6. Verbreitung der sogenannten Riester-Rente und Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme 8 7. Sozialpolitische Beurteilung der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 4 1. Demografisch bedingter Reformbedarf in der Alterssicherung Die Diskussion über erforderliche Einschnitte in der umlagefinanzierten Rentenversicherung aufgrund der demografischen Entwicklung mit gesunkener Geburtenrate und längerer fernerer Lebenserwartung wurde bereits seit Mitte der 1980er Jahre geführt und mündete zunächst im Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992).1 Den Auswirkungen aus dem sich ändernden Altersaufbau der Bevölkerung sollte durch eine Reform im bestehenden System der gesetzlichen Rentenversicherung begegnet werden. Hierzu wurden unter anderem Rentenanpassung, Beitragssatzbestimmung und Bundeszuschuss in einen selbstregulierenden Mechanismus eingebunden sowie die Altersgrenzen für vorzeitige Altersrenten schrittweise angehoben. Die aus dem RRG 1992 folgenden Lasten wurden auf die Beitragszahler, die Rentenbezieher und den Bund gleichermaßen verteilt.2 Die konjunkturelle Situation erforderte Mitte der 90er Jahre weitergehende Einschnitte zur Dämpfung des Beitragssatzanstiegs, beispielsweise durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) und das Rentenreformgesetz 1999 (RRG 1999).3 Simulationsberechnungen prognostizierten dennoch einen weiteren Beitragssatzanstieg bis zum Jahr 2030, der dem Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken, entgegenstand.4 Als Ausweg wurde nach herrschender Meinung einer Verlagerung der Alterssicherung auf kapitalgedeckte Systeme der Vorzug gegeben .5 2. Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung Das Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensergänzungsgesetz, AVmEG) und das Altersvermögensgesetz (AVmG)6 sahen erstmals Beitragssatz- und Sicherungsniveauziele und damit einen Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung hin zu einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik bei gleichzeitiger Einführung einer zusätzlichen kapitalgedeckten , staatlich geförderten Altersversorgung vor. Die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung orientierten sich nicht mehr wie zuvor an den zu erwartenden Ausgaben, vielmehr 1 Clemens, Johannes: Die gesetzliche Rentenversicherung im Prozess einer veränderten Alterssicherungspolitik. In: Eichenhofer-Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, 2012, Luchterhand, Kapitel 4, Rd. 1; BGBl. 1989 I, S. 2261. 2 Bundestags-Drucksache 11/4124. 3 Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) BGBl. 1996 I, S. 1461 und Rentenreformgesetz 1999 (RRG 1999), BGBl. 1997 I, S. 2998. 4 Prognos-Gutachten 1998: Auswirkungen veränderter ökonomischer und rechtlicher Rahmenbedingungen auf die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland. DRV-Schriften Band 9, Frankfurt am Main, 1998. 5 U. a. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/1997, Ziff. 399 ff., Bundestags-Drucksache 13/6200. 6 BGBl. 2001 I, S. 403 und BGBl. 2001 I, S. 3858, 3877. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 5 bestimmt seitdem der den Beitragszahlern zumutbare Beitragssatz die Rentenhöhe. Durch eine modifizierte Rentenanpassung sinkt seitdem allmählich das Rentenniveau zugunsten eines stabilen Beitragssatzes.7 3. Beitragssatz- und Niveausicherungsziele der gesetzlichen Rentenversicherung Nach den in § 154 Abs. 3 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) gesetzlich festgelegten Beitragssatz- und Niveausicherungszielen soll der Beitragssatz bis zum Jahr 2020 nicht über 20 vom Hundert und bis zum Jahr 2030 nicht über 22 vom Hundert hinausgehen. Das aus dem Verhältnis aus der um einen Altersvorsorgeanteil verminderten verfügbaren Standardrente eines Versicherten , der 45 Jahre Beiträge aus einem durchschnittlichen Verdienst gezahlt hat, zum Durchschnittseinkommen ermittelte Nettorentenniveau sollte zunächst 67 vom Hundert nicht unterschreiten , nachdem zuvor zur Lebensstandardsicherung noch 70 vom Hundert als angemessen angesehen wurden.8 Zu diesem Zweck wirkt sich seitdem in der Formel für die Anpassung der Renten auch die zusätzliche Belastung der Beitragszahler durch höhere Aufwendungen für die Altersvorsorge aus. Mit dem im Rahmen der Agenda 2010 in der 15. Wahlperiode nachfolgenden Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz )9 vom 21. Juli 2004 wurde in der Formel für die Anpassung der Renten der auf lange Sicht ebenfalls niveausenkende Nachhaltigkeitsfaktor, der die Relation von Rentnern zu Beitragszahlern wiedergibt, eingeführt. Das bisherige Niveausicherungsziel, wonach ein Nettorentenniveau von 67 vom Hundert nicht unterschritten werden sollte, war aufgrund des gleichzeitig mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz im Deutschen Bundestag beratenen Gesetzes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz)10 neu zu formulieren. Wegen des auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts11 zurückzuführenden Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkommen war das Nettorentenniveau als Sicherungsziel für die gesetzliche Rentenversicherung nicht mehr bestimmbar, da sich der steuerfreie Betrag der Rente nunmehr nach dem Jahr des Rentenzugangs richtet und somit keine einheitliche Besteuerung aller Rentenbezieher mehr erfolgt. Für das Sicherungsniveau wird deshalb seit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz die um den allgemeinen Beitragsanteil zur Krankenversicherung und den Beitrag zur Pflegeversicherung geminderte Standardrente ohne Berücksichtigung der auf sie entfallenden Steuern herangezogen. Diese verfügbare Standardrente vor Steuern ist ins Verhältnis zum Durchschnittsentgelt zu setzen, das 7 Schmähl, Winfried: Von der Rente als Zuschuss zum Lebensunterhalt zur ‚Zuschuss-Rente, in: Wirtschaftsdienst , Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 92. Jahrgang, Heft 5, Mai 2012. 8 § 154 Abs. 3 SGB VI in der Fassung des AVmG. 9 BGBl. 2004 I, S. 1791. 10 BGBl. 2004 I, S. 1427 11 Urteil vom 6. März 2002, Az. 2 BvL 17/99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 6 ohne Berücksichtigung der darauf entfallenden Steuern um den Arbeitnehmersozialbeitrag einschließlich des Aufwands zur zusätzlichen Altersvorsorge zu mindern ist. Bis zum Jahr 2020 soll das so bezeichnete Sicherungsniveau vor Steuern 46 vom Hundert und 43 vom Hundert bis zum Jahr 2030 nicht unterschreiten.12 Mit den neu formulierten Sicherungszielen ist eine nochmalige deutliche Niveausenkung verbunden . Das zuvor gebräuchliche Nettorentenniveau ist mit dem Sicherungsniveau vor Steuern nicht vergleichbar. Die mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz neu geregelten Beitragssatz- und Sicherungsniveauziele bedeuten eine noch stärkere Orientierung an der Beitragssatzstabilität hinsichtlich der beabsichtigten Begrenzung der Lohnnebenkosten.13 4. Beabsichtigter Ausgleich der Niveauminderung durch zusätzliche kapitalgedeckte Alterssicherung Zur Schließung der durch die allmähliche Absenkung des Rentenniveaus neu entstehenden Versorgungslücke wird seit dem Jahr 2002 eine über die bisherigen Alterssicherungssysteme hinausgehende betriebliche und private Altersvorsorge durch die Zahlung einer Zulage bzw. steuerlich gefördert und insoweit eine zusätzliche kapitalgedeckte Alterssicherung aufgebaut.14 Der Abschluss einer zusätzlichen betrieblichen oder privaten Altersvorsorge ist jedoch nicht obligatorisch . Die aus Steuermitteln finanzierte Zulage beträgt für einen zertifizierten Altersvorsorgevertrag jährlich 154 Euro und erhöht sich um eine Kinderzulage für kindergeldberechtigte Kinder von jeweils 185 Euro bzw. 300 Euro für nach 2007 geborene Kinder, soweit hierfür mindestens vier Prozent des Bruttoeinkommens - höchstens 2.100 Euro abzüglich der Zulage(n) - aufgewendet werden. Die gesetzlichen Regelungen sind in den §§ 79 bis 99 im XI. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (EStG) enthalten. Altersvorsorgeverträge müssen zur Zertifizierung bestimmte Kriterien erfüllen, die im Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen (Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz – AltZertG) geregelt sind. Damit soll das mit der staatlichen Förderung verfolgte Ziel, die Rente aus den umlagefinanzierten öffentlich-rechtlichen Alterssicherungssystemen durch eine zusätzliche monatliche und lebenslänglich laufende Altersvorsorge zu ergänzen, erreicht werden.15 Die von den Finanzmarktunternehmen als Riester-Rente bezeichneten Altersvorsorgeverträge werden beispielsweise als klassische Rentenversicherungen, fondsgebundene Rentenversicherungen, Fondssparpläne, Banksparpläne, Bausparverträge oder Sparpläne mit Genossenschaftsanteilen angeboten. 12 § 154 Abs. 3 Nr. 2 SGB VI. 13 Vgl. Regierungserklärung zur Agenda 2010, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 15/32, S. 2489 (C, D). 14 Hüfken, Hartmut: Die Finanzierung und Finanzbeziehungen der Rentenversicherung. In: Eichenhofer-Rische- Schmähl (Hrsg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, 2012, Luchterhand, Kapitel 23, Rd. 40. 15 Wernsmann, Rainer: Die steuerliche Förderung der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge. In: Eichenhofer -Rische-Schmähl (Hrsg.). Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI. Köln, 2012, Luchterhand , Kapitel 32, Rd. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 7 Das Finanzamt prüft nach § 10a EStG automatisch, ob und um gegebenenfalls wie viel die Steuerersparnis höher ausfällt als die Zulagenförderung. Ist die Steuerersparnis größer als die Zulagen , so zahlt das Finanzamt den Teil der Steuerersparnis, der die Zulagen übersteigt, als Steuerrückzahlung aus. Darüber hinaus bleiben in der Ansparphase auch die Zinsen und Erträge steuerfrei . Dieser umfassenden steuerlichen Entlastung in der Ansparphase steht die volle Besteuerung der Leistungen in der Auszahlungsphase gegenüber. Die nachgelagerte Besteuerung gem. § 22 EStG bedeutet insoweit, dass Alterseinkünfte erst versteuert werden, wenn sie dem Steuerpflichtigen ausgezahlt werden, also im Alter. 5. Erwartungen im Vorfeld der Reform und ihre Erfüllung Mit dem Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge sollte die Alterssicherung auf eine breitere finanzielle Grundlage gestellt werden, die es ermöglicht, die Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards im Alter zu gewährleisten.16 Mit der Ergänzung der gesetzlichen Rente durch eine zusätzliche kapitalgedeckte Rente wurde eine dauerhafte Anhebung des Gesamtversorgungsniveaus angestrebt.17 Es wurde erwartet, dass jede Rentnerin und jeder Rentner mit der Rentenreform mehr Rente erhalten wird als nach altem Recht.18 Im Vordergrund stand die Einführung einer zusätzlichen gesicherten Altersvorsorge in Form einer zweckgebundenen Leibrentenversicherung für das Alter und nicht ein beliebiges Renditesparen . Deshalb sollten durch die staatliche Zertifizierung nur Produkte gefördert werden, für die der Finanzanbieter die Garantie übernimmt, dass alle vom Sparer eingezahlten Beträge plus alle staatlichen Förderungen als Mindestkapital zu Beginn der Leibrentenzahlungen zur Verfügung stehen.19 Für die Bewertung, ob die mit der Teilprivatisierung der Alterssicherung verbundenen Ziele bisher erreicht worden sind, ist von Bedeutung, dass ursprünglich eine wesentlich geringere Niveausenkung - nämlich des Nettorentenniveaus von 70 auf 67 % - vorgesehen war. Die mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz verbundene weitere weitaus stärkere Absenkung des Sicherungsniveaus vor Steuern von 52,6 auf 46 % bis zum Jahr 2020 bzw. auf 43 % bis zum Jahr 2030 ohne Anhebung der Förderung der privaten Altersvorsorge kann nicht für die Prüfung der Zielerreichung herangezogen werden. Derzeit beträgt das Sicherungsniveau vor Steuern etwa 48,9 %.20 Im aktuellen Alterssicherungsbericht geht die Bundesregierung davon aus, dass die Absenkung des Sicherungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung durch zusätzliche Vorsorge ausgeglichen werden kann. Die Dämpfung der Rentensteigerung und der Einfluss des Übergangs auf 16 Bundestags-Drucksache 14/4595, S. 2, 86. 17 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/133: 12753 D. 18 Bundesrat – 763. Sitzung – 11. Mai 2001, Plenarprotokoll S. 230 C. 19 Riester, Walter. Die Riester-Rente – Was wollte der Gesetzgeber, wo besteht Änderungsbedarf? Eine Antwort auf die Kritik des DIW. In: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW Berlin, 2/2012, S. 43 ff. 20 Rentenversicherung in Zeitreihen. DRV-Schriften Band 22, Deutsche Rentenversicherung Bund, Oktober 2014, S. 258. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 8 die nachgelagerte Besteuerung auf das Netto-Gesamtversorgungsniveau werde kompensiert, wenn ein geförderter Altersvorsorgevertrag bedient und die Steuerersparnis aus der Steuerfreistellung der Rentenversicherungsbeiträge für eine zusätzliche private Altersvorsorge verwendet wird. In den dem Alterssicherungsbericht zugrunde liegenden Modellfällen wird unterstellt, dass ab dem Jahr 2002 auf dem Altersvorsorgevertrag Beiträge in Höhe des jeweiligen Mindesteigenbeitrags und der Zulage eingehen werden. Die eingezahlten Beiträge inklusive der Zulagen werden zur Prognose des Gesamtversorgungsniveaus über den gesamten Zeitraum mit 4 % verzinst und 10 % der eingezahlten Beiträge als Verwaltungskosten berücksichtigt.21 Dagegen weist die Bundesregierung aktuell darauf hin, dass Prognosen über die tatsächlichen Renditen von risikobehafteten Fonds oder Versicherungsprodukten über einen längeren Zeitraum grundsätzlich nicht möglich sind und ihr zurzeit keine Erhebungen zur durchschnittlichen Kapitalrendite von geförderten Altersvorsorgeverträgen vorliegen.22 6. Verbreitung der sogenannten Riester-Rente und Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme Die Absenkung des Rentenniveaus betrifft alle Versicherten unabhängig davon, ob tatsächlich eine zusätzliche Altersvorsorge getroffen worden ist. Bisher haben rund 16 Millionen Berechtigte entsprechende Verträge angeschlossen.23 Dies entspricht weniger als der Hälfte der für eine Förderung in Frage kommenden Personen. Aktuellen Schätzungen zufolge gibt es zwischen 37 und 42 Millionen Personen, die die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge in Anspruch nehmen könnten.24 Eine volle Zulage für Altersvorsorgeaufwendungen, die mindestens 4 % des Bruttoeinkommens bis zur Höchstgrenze betragen, erhalten zurzeit jedoch nur rund 6 Millionen Berechtigte.25 Aus der Beratungspraxis der Verbraucherzentrale NRW sind vier Faktoren dafür maßgeblich, keinen entsprechend geförderten Altersvorsorgevertrag abschließen zu wollen:26 Komplexität: Vielen Verbrauchern erschienen die Regeln der Riester-Rente zu kompliziert . Beispielsweise sei den wenigsten Ratsuchenden bekannt, dass es mit dem Sonderausgabenabzug neben der Zulagenförderung eine zweite Förderkomponente gibt. Es gebe nur wenig Kenntnis über den Zusammenhang beider Förderkomponenten und ob der Sonderausgabenabzug überhaupt relevant ist. 21 Bundestags-Drucksache 17/11741 22 Bundestags-Drucksachen 18/3628, S. 6 und 18/3672, S. 27. 23 Drs. 18/3628 S. 3 24 Vgl. Fasshauer, S., Toutaoui, N. (2009): Die Anzahl des förderberechtigten Personenkreises der Riester-Rente – eine Annäherung. Deutsche Rentenversicherung, 64 (6), 478–486. 25 Plenarprotokoll 18/53. 26 Oelmann, Annabell und Scherfling, Ralf. Riester-Rente – Reformen und ein staatliches Basisprodukt sind dringend erforderlich. In: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW Berlin, 2/2012, S. 245 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 9 Anrechnung auf die Grundsicherung im Alter: Verbraucher mit niedrigen Einkommen seien verunsichert, ob sie in der Rentenphase von der Riester-Rente profitieren werden. Die Anrechnung der zusätzlichen Altersversorgung auf die Grundsicherung schrecke einige Verbraucher ab. Misstrauen: Durch die Finanzmarktkrisen der letzten Jahre hätten viele Anleger bereits Geld verloren. Die Verbraucher seien zudem nachhaltig durch die oft undifferenzierte Berichterstattung zur Altersversorgung in den Medien verunsichert. Unbekannte Produktvielfalt: Vielen Verbrauchern sei es in dem intransparenten Markt nicht möglich, das beste Produkt und den passenden Anbieter zu identifizieren. Seit der Einführung der Riester-Rente haben über 2.000 Anbieter über 4.300 Produkte angeboten. Selbst professionellen Verbraucherorganisationen, die Produktvergleiche anstellen, ist es schier unmöglich, einen vollständigen Überblick über die Wahloptionen zu erlangen und das beste Produkt auf dem Markt herauszufiltern. Die hohe Anzahl der Wahloptionen erschwert deshalb individuell eine optimale Entscheidung zu treffen.27 Die staatliche Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge wird von Frauen und Personen mit höherer Bildung eher in Anspruch genommen. Dagegen gehen niedrige Haushaltseinkommen mit geringerer Verbreitung der so genannten Riester-Rente einher. Gleiches gilt für Personen mit Migrationshintergrund . Aufgrund des Kinderzuschlags erhöhen Kinder die Wahrscheinlichkeit des Abschlusses eines Altersvorsorgevertrags. Die staatlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge, durch die der Aufbau privater Renten unterstützt wird, ist im letzten Jahrzehnt zwar stetig gewachsen , hat sich aber keineswegs sozialpolitisch ausreichend entwickelt.28 7. Sozialpolitische Beurteilung der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge Zur zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge wird regelmäßig und kontrovers im politischen Raum, von der Wissenschaft, den Finanzmarktunternehmen und aus Sicht des Verbraucherschutzes sowie von sonstigen Experten Stellung bezogen. Die Meinungen über die Vor- und Nachteile der Riester-Rente sind so unterschiedlich wie die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen. Befürworter weisen darauf hin, dass aufgrund der staatlichen Förderung kaum eine andere Geldanlage eine so hohe Rendite ermöglicht, während Gegner ausführen, dass nicht zuletzt aufgrund der Kosten ein hohes Alter erreicht werden muss, um das eingezahlte Geld wieder herauszubekommen .29 27 Köppe, Stephan. Wohlfahrtsmärkte - Die Privatisierung von Bildung und Rente in Deutschland, Schweden und den USA. 2014, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 138-140. 28 Geyer, Johannes. Riester-Rente - Rezept gegen Altersarmut? In: DIW Wochenbericht 47/2011 S. 16 ff. 29 Oelmann, Annabell und Scherfling, Ralf. Riester-Rente – Reformen und ein staatliches Basisprodukt sind dringend erforderlich. In: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW Berlin, 2/2012, S. 245 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 10 Eine umfassende – ökonomische, politische und soziale Dimensionen gleichermaßen einbeziehende – wissenschaftliche Analyse der Niveausenkung in der gesetzlichen Rentenversicherung bei Aufbau einer staatlich geförderten zusätzlichen Alterssicherung steht bisher aus.30 Zwar gibt es zahlreiche Studien über Abschlüsse und die Zulagenzahlung, die auf den Datensätzen der bei der Deutschen Rentenversicherung Bund eingerichteten Zentralen Zulagenstelle (ZfA) und Umfrageergebnissen beruhen. Hierzu gehören insbesondere repräsentative Datenerhebungen wie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) sowie die Befragung Sparen und Altersvorsorge in Deutschland (SAVE). Die vorhandenen Daten sind jedoch für die volkswirtschaftliche und sozialpolitische Bewertung aufgrund fehlender Vergleichbarkeit und zeitlicher Verzögerung durch die Frist zur Beantragung der Zulagen nur bedingt aussagekräftig und zum Teil widersprüchlich .31 Die der Wissenschaft gegenwärtig zugänglichen Daten scheinen jedoch nicht geeignet , um die Reform der Alterssicherung aus dem Jahr 2001 im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse zu bewerten, da in den vorhandenen Datensätzen der Zentralen Zulagenstelle Schlüsselvariablen fehlen und die Aussagekraft diese ergänzender Umfrage-Daten begrenzt ist.32 Letztlich kann erst in der Auszahlungsphase endgültig beurteilt werden, ob die Senkung des Rentenniveaus durch die zusätzliche private Vorsorge ausreichend kompensiert wird. Prognosen sind problematisch, da die verfügbaren Daten über bisherige Renditen und Kosten eine Aussage für alle Riester-Produkte nicht zulassen. Aufgrund der Forschungslage ist eine abschließende Bewertung nur für einzelne Aspekte möglich, da zu einigen zentralen Fragen keine oder nur lückenhafte Daten vorliegen oder verfügbare Daten teils widersprüchliche Schlüsse zulassen. Grundsätzlich bleibt es zudem schwierig, den Nutzen zu bestimmen, bevor eine signifikante Anzahl an Rentnerinnen und Rentnern Leistungen aus den geförderten Produkten bezieht. Deshalb ist beispielsweise noch die weitere Forschung über die Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von Förderung und auch das Ruhenlassen von Verträgen notwendig, um eventuell sozialpolitisch gegensteuern zu können. Dabei sollte insbesondere herausgearbeitet werden, ob finanzielle Problemlagen oder Informationsdefizite ausschlaggebend sind.33 Mitunter wird die Frage gestellt, ob eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge grundsätzlich sinnvoll ist.34 Für die Riester-Rente wurde bei ihrer Einführung vor allem vorgetragen, dass die Verzinsung des eingezahlten Kapitals höhere Rentenleistungen ermögliche und die kapitalgedeckte Alterssicherung weniger demografieanfällig sei. Allerdings bestehen durchaus Risiken 30 Bode, Ingo und Wilke, Felix. Private Vorsorge als Illusion – Rationalitätsprobleme des neuen deutschen Rentenmodells . 2014, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 12. 31 So auch Schröder, Carsten. Riester-Rente – Verbreitung. Mobilisierungseffekte und Renditen. In: WISO-Diskurs, 11/2011, Friedrich-Ebert-Stiftung. S. 9. 32 Corneo, Giacomo und Schröder, Carsten. Bewertung der Riester-Rente: Volkswirtschaftliche Kriterien und Anforderungen an die Daten. In: Zeitschrift für Sozialreform, 2/2012, S. 235. 33 Blank, Florian. Die Riester-Rente – Überblick zum Stand der Forschung und sozialpolitische Bewertung nach zehn Jahren, in: Sozialer Fortschritt 6/2011, S. 109 ff. 34 Joebges, Heike; Meinhardt, Volker, Rietzler, Katja und Zwiener, Rudolf. Auf dem Weg in die Altersarmut – Bilanz der Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente. In: IMK-Report 73. 9/2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 038/15 Seite 11 durch die Anfälligkeit einer kapitalgedeckten Rente von der kurzfristigen Entwicklung des Finanzmarktes . Die anvisierte ursprüngliche effektive Verzinsung der Riester-Produkte von vier Prozent ist derzeit nicht generell gegeben und so nicht für alle kalkulierbar. Das aktuell niedrige Zinsniveau setzt die private und betriebliche Alterssicherung unter Druck. Durch die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen scheint eine kapitalgedeckte Alterssicherung heute deutlich weniger attraktiv als zur Zeit der Einführung der Riester-Rente. So musste der Garantiezins in der Lebensversicherung von 3,25 % im Jahr 2001 auf zurzeit 1,25 % gesenkt werden. Die Gesamtverzinsung von privaten Versicherungsverträgen ist seit dem Jahr 2008, in dem sie noch 5,07 % betragen hat, auf 3,79 % im Jahr 2015 zurückgegangen.35 Vergleichbare Werte dürften für die als betriebliche Altersversorgung abgeschlossenen Direktversicherungen gelten. Auch die behauptete größere Unabhängigkeit gegenüber der demografischen Entwicklung ist zu hinterfragen, da auch die Leistungsansprüche aus kapitalgedeckten Systemen aus dem künftigen Sozialprodukt zu befriedigen sind.36 Ebenso folgen aus der Verlängerung der Lebenserwartung, die im Umlageverfahren zu Beitragserhöhung oder Rentenminderung führen muss, auch in der kapitalgedeckten Altersvorsorge längere Rentenlaufzeiten und damit bei konstanten Prämien niedrigere effektive Rentenleistungen. Insbesondere für Geringverdiener und untere Einkommensgruppen könnten die bisher für die Zahlung der Zulagen verwandten Mittel deshalb zur Finanzierung einer Mindestrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beitragen.37 Gemessen an den ursprünglichen Zielsetzungen erfüllt die Riester-Rente die in sie gesetzten Erwartungen wohl in Zeiten niedriger Zinsen nicht. So ist die Verbreitung zu gering und ein Ausgleich der Niveausenkung in der gesetzlichen Rentenversicherung bisher in der Breite eher nicht erreicht worden.38 35 Gesamtverzinsung aufgrund Daten der Assekurata Assekuranz Rating-Agentur GmbH. 36 U. a. Bode, Ingo und Wilke, Felix. Private Vorsorge als Illusion – Rationalitätsprobleme des neuen deutschen Rentenmodells. 2014, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 100 ff. 37 Hagen, Kornelia; Kleinlein, Axel. Zehn Jahre Riester-Rente: Kein Grund zum Feiern. In: Riester-Rente - Grundlegende Reform dringend geboten. DIW Wochenbericht 47/2011 S. 12. 38 So auch Prof. Dr. Frank Nullmeier von der Universität Bremen in einem Vortrag anlässlich eines Fachgesprächs der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen am 23. März 2015.