© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 037/21 Die Übermittlung von Sozialdaten nach dem SGB X Die richterliche Anordnung gemäß § 73 SGB X Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 2 Die Übermittlung von Sozialdaten nach dem SGB X Die richterliche Anordnung gemäß § 73 SGB X Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 037/21 Abschluss der Arbeit: 8. Juli 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Rechtsgrundlagen des Sozialdatenschutzes 4 3. Sozialdaten und Sozialgeheimnis 4 4. Befugnisse für die Übermittlung von Sozialdaten 6 4.1. Übermittlungsgrundsätze, § 67d SGB X 7 4.2. Datenübermittlung für Aufgaben der Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, § 68 SGB X 7 4.3. Datenübermittlung für die Erfüllung sozialer Aufgaben, § 69 SGB X 9 4.3.1. Erforderlichkeit der Daten und Überprüfung des Ersuchens 9 4.3.2. Übermittlung zur Erfüllung von Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch, § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X 10 4.3.3. Übermittlung zur Aufgabenerfüllung im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren, § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X 11 4.4. Datenübermittlung für die Durchführung eines Strafverfahrens, § 73 SGB X 12 4.4.1. Verbrechen oder sonstige Straftat von erheblicher Bedeutung, § 73 Abs. 1 SGB X 13 4.4.2. Übermittlungsbefugnis wegen einer anderen Straftat, § 73 Abs. 2 SGB X 14 4.4.3. Richterliche Anordnung, § 73 Abs. 3 SGB X 14 4.5. Beschränkungen der Datenübermittlung 15 5. Rechtliche Aspekte in Hinblick auf eine Streichung der richterlichen Anordnung in § 73 Abs. 3 SGB X und Bedeutung der Norm für den Kinder- und Jugendschutz 16 5.1. Keine unmittelbare unions- und verfassungsrechtliche Pflicht für richterliche Anordnung 16 5.2. Diskussion im Gesetzgebungsverfahren 17 5.3. Zu berücksichtigende Aspekte bei einem Absehen vom Richtervorbehalt 17 5.4. Bedeutung des § 73 SGB X für den Kinder- und Jugendschutz 18 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 4 1. Fragestellung Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurden gefragt, ob eine Neuregelung des § 73 SGB X dahingehend möglich wäre, dass der Richtervorbehalt nach § 73 Abs. 3 SGB X entfiele. Sollte eine derartige Neuregelung problematisch sein, wurde um Prüfung gebeten, ob eine Abstufung nach dem Unrechtsgehalt der jeweiligen Straftat erfolgen könne. Hintergrund der Anfrage sei die Erfahrung von Ermittlungsbeamten, dass die Einholung eines richterlichen Beschlusses zur Übermittlung von Sozialdaten zu Verzögerungen beim Schutz eines Kindes vor weiteren Straftaten führe. Nachfolgend werden zunächst die einschlägigen Rechtsgrundlagen des Sozialdatenschutzes dargestellt . Dabei wird unter anderem näher auf das Sozialgeheimnis und einzelne Befugnisnormen zur Übermittlung von Sozialdaten nach dem SGB X unter punktueller Bezugnahme auf den Kinderschutz und den Schutzauftrag bei Kindesgefährdungen eingegangen. Im Anschluss werden sowohl rechtliche Aspekte einer etwaigen Neuregelung als auch die Bedeutung des § 73 SGB X für den Kinderschutz dargelegt. 2. Rechtsgrundlagen des Sozialdatenschutzes Die am 25. Mai 2018 in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)1 ist gemäß Art. 288 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Art. 99 Abs. 2 DSGVO unmittelbar geltendes Recht. Sie findet damit grundsätzlich ohne weitere nationale Umsetzungsakte Anwendung in den Mitgliedstaaten. Neben zahlreichen Vorgaben und Begriffsdefinitionen legt die DSGVO den Mitgliedstaaten ergänzende Regelungsgebote auf oder enthält Öffnungsklauseln, die den Mitgliedstaaten eigene Gestaltungsspielräume gewähren.2 Diese Öffnungsklauseln erlauben bereichsspezifische Regelungen, die für den Sozialdatenschutz insbesondere in § 35 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (nachfolgend SGB I) und den in §§ 67 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) Zehntes Buch (X) - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (nachfolgend SGB X) zu finden sind. Die Vorschriften des Sozialdatenschutzes gelten für alle Sozialleistungsbereiche. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind zudem die Bestimmungen zum Sozialdatenschutz der §§ 61 bis 68 Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (nachfolgend SGB VIII), insbesondere die Beschränkungen gemäß §§ 64, 65 Abs. 2 SGB VIII zu berücksichtigen. 3. Sozialdaten und Sozialgeheimnis § 35 Abs. 1 SGB I konkretisiert das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen im Zusammenhang mit seinen 1 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung). 2 Greve, NVwZ 2017, S. 737. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 5 Sozialdaten. § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB I enthält die Legaldefinition des Sozialgeheimnisses. Danach hat jeder Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten von den Leistungsträgern nicht unbefugt verarbeitet werden. Sozialdaten sind personenbezogene Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DSGVO3, die von einer in § 35 SGB I genannten Stelle im Hinblick auf ihre Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch verarbeitet werden, § 67 Abs. 2 SGB X. Zu den in § 35 SGB I genannten Stellen gehören in erster Linie die Sozialleistungsträger (§§ 12, 18 ff. SGB I), das heißt die für die einzelnen Sozialleistungen zuständigen Leistungsträger sowie ihre Verbände und Arbeitsgemeinschaften. Auch andere Stellen werden erfasst, sofern sie Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch wahrnehmen, § 35 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 6 SGB I.4 Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch sind solche nach den einzelnen Büchern des Sozialgesetzbuchs (SGB I bis SGB XII) und nach den in § 68 SGB I genannten Gesetzen (zum Beispiel das Bundesausbildungsförderungsgesetz) sowie die in § 67 Abs. 3 SGB X genannten Aufgaben.5 Zu diesen Aufgaben gehören beispielsweise die Aufgaben der Jugendhilfe nach § 2 SGB VIII und auch der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII. Die Voraussetzungen für eine befugte Verarbeitung von Sozialdaten ergeben sich aus der DSGVO, den Vorschriften des Zweiten Kapitels des SGB X (§§ 67 ff. SGB X) sowie zusätzlich aus den jeweils gegebenenfalls anwendbaren Sozialgesetzbüchern, vgl. § 35 Abs. 3 SGB I. Der Sozialdatenschutz wird jedem gewährt, also jeder natürlichen Person, über die Sozialdaten im Zusammenhang mit einem Versicherungs- oder Sozialrechtsverhältnis, der Erbringung von Sozialleistungen oder der Erfüllung anderer Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch oder diesen gleichgestellten Aufgaben bekannt geworden sind. Dies betrifft nicht nur die unmittelbar Leistungsberechtigten , sondern gegebenenfalls auch die Angehörigen.6 § 35 Abs. 2 Satz 1 SGB I stellt klar, dass die Datenschutzregelungen des SGB X und der übrigen Bücher des Sozialgesetzbuchs die Verarbeitung von Sozialdaten abschließend regeln, soweit 3 Nach Art. 4 Nr. 1 DSGVO sind „personenbezogene Daten“ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. 4 Kipker in: Plagemann, Münchener Anwaltshandbuch Sozialrecht, 5. Auflage 2018, § 48 Datenschutz, Rn. 7. 5 Paulus in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Auflage 2018, § 35 (Stand: 30.06.2021), Rn. 8. 6 Gutzler in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition Stand: 1. März 2021, § 35, Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 6 nicht die DSGVO unmittelbar gilt.7 Insbesondere gehen die sozialrechtlichen Regelungen zur Datenübermittlung auch den strafprozessualen Eingriffsrechten nach der Strafprozessordnung (StPO) vor.8 Soweit eine Übermittlung von Sozialdaten nicht zulässig ist, besteht gemäß § 35 Abs. 3 SGB I keine Auskunftspflicht, keine Zeugnispflicht und keine Pflicht zur Vorlegung oder Auslieferung von Schriftstücken, nicht automatisierten Dateisystemen und automatisiert verarbeiteten Sozialdaten . 4. Befugnisse für die Übermittlung von Sozialdaten Die Übermittlung von Sozialdaten ist eine Form der Datenverarbeitung, Art. 4 Nr. 2 DSGVO. Die Art. 6 DSGVO (Rechtmäßigkeit der Verarbeitung) und Art. 9 DSGVO (Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten)9 enthalten Vorgaben für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von personenbezogenen Daten im Sinne eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt.10 Nach Art. 6 Abs. 1 DSGVO ist die Verarbeitung nur dann rechtmäßig, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung zur Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere bestimmte Zwecke gegeben hat oder mindestens einer der in Art. 6 Abs. 1 lit. b) bis f) DSGVO genannten Rechtfertigungsgründe vorliegt. Solche Rechtfertigungsgründe liegen etwa vor, wenn die Verarbeitung zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt (Art. 6 Abs. 1 lit. c DSGVO) oder die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde (Art. 6 Abs. 1 lit. e DSGVO). Art. 6 Abs. 2 DSGVO eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit spezifischere Bestimmungen in Bezug auf die Verarbeitung zur Erfüllung von Art. 6 Abs. 1 lit. c und e DSGVO beizubehalten oder einzuführen . Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. c und e DSGVO sind durch Unionsrecht oder nationales Recht festzulegen, Art. 6 Abs. 3 DSGVO. Gleiches gilt für die Verarbeitung von Sozialdaten der besonderen Kategorien im Sinne des Art. 9 DSGVO, da Art. 6 Abs. 2 und 3 DSGVO auch insoweit gelten.11 Die bereichsspezifischen Regelungen für den Sozialdatenschutz gemäß §§ 67 ff. SGB X enthalten ein ausdifferenziertes System der zulässigen Verwendungsmöglichkeiten von Sozialdaten. 7 Kunkel, ZKJ 2020, S. 89, 91. 8 LG Oldenburg, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 6 Qs 35/17 –, Rn. 12 (juris). 9 Personenbezogene Daten besonderer Kategorien sind gemäß Art. 9 Abs. 1 DSGVO solche, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie genetische Daten, biometrische Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person. 10 Bieresborn, NZS 2017, S. 926. 11 Bieresborn, NZS 2017, S. 926, 927. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 7 Nach § 67b Abs. 1 Satz 1 SGB X ist die Übermittlung von Sozialdaten durch die in § 35 SGB I genannten Stellen (s. hierzu 3.) nur zulässig, soweit die Vorschriften der §§ 67b ff. SGB X oder eine andere Rechtsvorschrift des Sozialgesetzbuches dies erlauben oder anordnen.12 Die Befugnisse zur Datenübermittlung sind in den §§ 67d ff. SGB X näher geregelt. Diese sind in der Regel sowohl von der Art und dem Umfang der zu übermittelnden Daten als auch davon, für welche Aufgabenerfüllung die Daten übermittelt werden sollen, abhängig. Zudem sind Übermittlungsbeschränkungen für bestimmte Daten zu beachten. 4.1. Übermittlungsgrundsätze, § 67d SGB X Die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung an einen Dritten trägt die übermittelnde Stelle. Erfolgt die Übermittlung auf Ersuchen des Dritten, ist dieser für die Richtigkeit der Angaben in seinem Ersuchen verantwortlich, § 67d Abs. 1 SGB X. Bei der Übermittlung von Sozialdaten sind zudem die etwaige Betroffenheit Dritter sowie deren Interesse an der Geheimhaltung zu berücksichtigen. Sind mit Sozialdaten, die übermittelt werden dürfen, weitere personenbezogene Daten der betroffenen Person oder eines Dritten so verbunden, dass eine Trennung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist, so ist die Übermittlung auch dieser Daten nur zulässig, wenn schutzwürdige Interessen der betroffenen Person oder eines Dritten an deren Geheimhaltung nicht überwiegen, § 67d Abs. 2 SGB X. 4.2. Datenübermittlung für Aufgaben der Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, § 68 SGB X Nach § 68 Abs. 1 SGB X dürfen Sozialleistungsträger (und die sonstigen in § 35 SGB I genannten Stellen) im Einzelfall zur Erfüllung von Aufgaben der Polizeibehörden, der Staatsanwaltschaften und Gerichte, der Behörden der Gefahrenabwehr und der Justizvollzugsanstalten an diese bestimmte Sozialdaten übermitteln. Die Übermittlung setzt ein Auskunftsersuchen voraus. Eine richterliche Anordnung ist hingegen nicht erforderlich. Mit Polizeibehörden sind sowohl die mit der Gefahrenabwehr befassten Ordnungs- und Schutzpolizeibehörden gemeint als auch die der Strafverfolgung dienende Kriminalpolizei, als Unterfall einer Polizeibehörde.13 Für die Staatsanwaltschaften ergibt sich die gesetzliche Aufgabenerfüllung aus § 161 Strafprozessordnung (StPO)14, das heißt aus der Ermittlungsbefugnis der Staatsanwaltschaft bei Verdacht einer Straftat. 12 Daneben ist eine Verarbeitung zulässig, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung zur Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere bestimmte Zwecke gegeben hat, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 lit. a DSGVO. 13 Bösenberg/Woltjen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, § 68 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 14. Mai 2018), Rn. 37. 14 Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition Stand: 1. März 2021, SGB X, § 68, Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 8 Übermittelt werden dürfen nur bestimmte Daten, und zwar Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort , derzeitige Anschrift der betroffenen Person, ihr derzeitiger oder zukünftiger Aufenthaltsort sowie Namen, Vornamen oder Firma und Anschriften ihrer derzeitigen Arbeitgeber, § 68 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die Übermittlung ist ausgeschlossen, soweit Grund zu der Annahme besteht, dass dadurch schutzwürdige Interessen der betroffenen Person beeinträchtigt werden, § 68 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die Prüfung obliegt der zu übermittelnden Stelle (vgl. § 67d Abs. 1 Satz 1 SGB X). Ob schutzwürdige Interessen bestehen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.15 Nach der Gesetzesbegründung werden schutzwürdige Belange in der Regel beeinträchtigt, wenn der Betroffene ein aus seiner Sicht berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung hat.16 Zu den in der Literatur beispielhaft aufgeführten Verletzungen schutzwürdiger Interessen gehört etwa die Resozialisierung bei Bekanntgabe bestimmter Adressen. Nicht schutzwürdig gilt hingegen der Schutz vor Strafverfolgung.17 Der Sozialleistungsträger müsse etwa Polizei und Staatsanwaltschaft auf deren Ersuchen hin Mitteilung machen, wenn eine gesuchte Person vorspricht.18 Das Ersuchen darf zudem nicht länger als sechs Monate zurückliegen. Zudem besteht keine Übermittlungspflicht , wenn sich die ersuchende Stelle die Sozialdaten auch auf andere Weise beschaffen kann, § 68 Abs. 1 Satz 2 SGB X. Die Entscheidung über das Übermittlungsersuchen ist dem Leiter oder der Leiterin der ersuchten Stelle, dessen oder deren allgemeinem Stellvertreter oder allgemeiner Stellvertreterin oder einer besonders bevollmächtigten bediensteten Person vorbehalten, § 68 Abs. 2 SGB X. Für die Durchführung einer nach Bundes- oder Landesrecht zulässigen Rasterfahndung ist neben den in § 68 Abs. 1 SGB X genannten Daten die Übermittlung von Angaben zur Staats- und Religionsangehörigkeit , früherer Anschriften der betroffenen Personen, von Namen und Anschriften früherer Arbeitgeber der betroffenen Personen sowie von Angaben über an betroffene Personen erbrachte oder demnächst zu erbringende Geldleistungen zulässig, soweit sie zur Durchführung der Rasterfahndung erforderlich ist, § 68 Abs. 3 SGB X. 15 Bieresborn in: Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 68, Rn. 8. 16 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialgesetzbuchs (SGB) - Verwaltungsverfahren - Drucksache 8/2034 -, Bundestagdrucksache 8/4022 vom 14. Mai 1980, S. 84. 17 Bösenberg/Woltjen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 68 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 14. Mai 2018), Rn. 51 f.; Kunkel, ZFSH/SGB 2000, S. 643, 645. 18 Kunkel, ZFSH/SGB 2000, S. 643, 645. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 9 Die Vorschrift ist eine Ausgestaltung der grundgesetzlich garantierten Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG für den Bereich des Sozialrechts (§ 3 Abs. 1 SGB X) unter besonderer Berücksichtigung des in § 35 Abs. 1 SGB I normierten Sozialgeheimnisses.19 Die Strafverfolgungsbehörden können folglich für die eigene Aufgabenerfüllung, namentlich für die Strafverfolgung, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 SGB X die dort genannten Daten ohne richterlichen Beschluss verlangen. 4.3. Datenübermittlung für die Erfüllung sozialer Aufgaben, § 69 SGB X § 69 SGB X ist die zentrale Norm für die Datenübermittlung zur Aufgabenerfüllung der Sozialleistungsträger und ihnen gleichgestellter Stellen nach § 35 SGB I und § 69 Abs. 2 SGB X.20 Die Regelung soll vor allem die ordnungsgemäße und reibungslose Zusammenarbeit dieser Stellen gewährleisten. Ermöglicht wird die Datenübermittlung sowohl zur eigenen Aufgabenerfüllung der ersuchten Stelle als auch zur Erfüllung von Aufgaben einer anderen, ersuchenden Stelle. Laut Gesetzesbegründung beruht die Vorschrift auf der Überlegung, dass die nach dem Sozialgesetzbuch erhobenen oder bekannt gewordenen Sozialdaten, von Ausnahmen abgesehen, für die Erfüllung der sich aus diesem Gesetzbuch ergebenden Aufgaben bestimmt sind. Insoweit berücksichtigt sie, dass diese Aufgaben nicht von einer einheitlichen Sozialverwaltung, sondern von einer Vielzahl verschiedener Stellen durchgeführt werden. Zudem soll sie dem Umstand Rechnung tragen, dass auch bestimmte andere Stellen oder Einrichtungen vergleichbare soziale Aufgaben haben.21 4.3.1. Erforderlichkeit der Daten und Überprüfung des Ersuchens Die Übermittlung der Sozialdaten nach § 69 Abs. 1 SGB X muss erforderlich und verhältnismäßig sein; nur solche Daten dürfen übermittelt werden, die zur Durchführung des Verfahrens erforderlich sind. Wie ausgeführt trägt die übermittelnde Stelle die Verantwortung für die Zulässigkeit für die Datenübermittlung , § 67d SGB X; dies schließt den Umfang der Übermittlung ein. Der übermittelnde Sozialleistungsträger ist daher zur Prüfung verpflichtet, ob der ersuchte Datenumfang tatsächlich zur Aufgabenerfüllung der anfragenden Stelle erforderlich ist. Dafür ist es notwendig, dass in den Auskunftsersuchen die erforderlichen Angaben über den Zweck und die Erforderlichkeit der Datenübermittlung enthalten sind, damit die ersuchte Stelle einordnen kann, ob und 19 Bösenberg/Woltjen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, § 68 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 14. Mai 2018), Rn. 29. 20 Fromm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 69 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 2. Mai 2018), Rn. 7. 21 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialgesetzbuchs (SGB) - Verwaltungsverfahren - Drucksache 8/2034 -, Bundestagdrucksache 8/4022 vom 14. Mai 1980, S. 84. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 10 nach welcher Vorschrift und in welchem Umfang Daten übermittelt werden dürfen. Den anfragenden Stellen dürfen nur die Daten übermittelt werden, die sie für ihre Aufgabenerledigung auch tatsächlich benötigen.22 4.3.2. Übermittlung zur Erfüllung von Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch, § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X Nach § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X ist die Übermittlung von Sozialdaten zulässig für die Erfüllung der Zwecke, für die die Daten erhoben worden sind (Alt. 1), für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe der übermittelnden Stelle nach dem Sozialgesetzbuch, das heißt für die Erfüllung einer sogenannten Eigenaufgabe (Alt. 2) und für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe des Dritten, an den Daten übermittelt werden, wenn er eine in § 35 SGB I genannte Stelle ist, das heißt für die Erfüllung einer sogenannten Fremdaufgabe (Alt. 3). In allen drei Fällen ist die Übermittlung zur Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach dem Sozialgesetzbuch durch eine in § 35 Abs. 1 SGB I genannte Stelle (siehe hierzu unter 3.) erforderlich, sei es zur Erfüllung eigener Aufgaben der übermittelnden Stelle und beziehungsweise oder zur Erfüllung von Aufgaben einer anderen in § 35 SGB I genannten Stelle.23 Die Datenübermittlung gemäß § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB X folgt dem Grundsatz der Zweckbindung . Die Daten dürfen folglich zu dem Zweck verwendet, und damit auch übermittelt werden, zu dem sie erhoben wurden.24 Bei § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 SGB X handelt es sich um die Übermittlung zur Erfüllung einer anderen eigenen gesetzlichen Aufgabe als die, für deren Erfüllung die zu übermittelnden Daten erhoben worden sind. Die gesetzliche Aufgabe verliert ihre Eigenheit nicht dadurch, dass sie auch der Erfüllung von Aufgaben Dritter dient.25 § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 SGB X erlaubt ferner die Datenübermittlung an einen anderen Sozialleistungsträger , sofern dieser die Sozialdaten zur Erfüllung eigener Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch benötigt.26 So kann beispielsweise das Jugendamt nach § 64 Abs. 1 SGB VIII in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 oder Alt. 2 SGB X zur Erfüllung eigener Aufgaben Informationen an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft weitergeben. Das Jugendamt darf etwa, wenn es nach Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen 22 Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition 1. März 2021, SGB X § 69, Rn. 5. 23 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 69 SGB X, Rn. 8, 17. 24 Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition 1. März 2021, SGB X § 69, Rn. 8. 25 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 69 SGB X, Rn. 23. 26 Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition 1. März 2021, SGB X § 69, Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 11 nach § 8a Abs. 1 SGB VIII das Gefährdungsrisiko eingeschätzt hat, auch die Polizei einschalten, wenn deren sofortiges Tätigwerden erforderlich ist und die Erziehungsberechtigten nicht mitwirken (§ 8a Abs. 3 Satz 2 SGB VIII), zum Beispiel um eine sofortige Verweisung eines gewalttätigen Vaters aus der Wohnung des Kindes zu erreichen. Ferner kommt hier auch eine Strafanzeige in Betracht, wenn die dann einsetzenden polizeilichen Ermittlungen geeignet sind, einen Gefährder zukünftig von seinem Verhalten abzuhalten oder wenn sogar mit einer Festnahme zu rechnen ist.27 Inwieweit das Jugendamt in Erfüllung eigener Aufgaben an einem Strafverfahren mitwirkt und Daten an Polizei und Staatsanwaltschaft gemäß § 69 SGB X übermittelt, entscheidet es nach eigenem Ermessen unter Berücksichtigung des Kindeswohls.28 Jedoch ist zu berücksichtigen, dass im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII eine Datenübermittlung nach § 69 SGB X nur zulässig ist, soweit dadurch der Erfolg einer zu gewährenden Leistung nicht in Frage gestellt wird, § 64 Abs. 2 SGB VIII. Ob der Erfolg einer Leistung in Frage gestellt wird, muss im Einzelfall eine Fachkraft entscheiden.29 Der Erfolg einer zu gewährenden Leistung ist in Frage gestellt, wenn eine Prognose ergibt, dass sie wegen der Weitergabe der Daten nicht oder nicht mehr erbracht wird oder erbracht werden kann. Dies kann beispielsweise bei einer möglichen Strafanzeige der Fall sein, wenn die Weitergabe der Daten dazu führt, dass der Klient seine Kooperation mit dem Jugendamt aufgibt, diese aber für den Erfolg der Hilfe unabdingbare Voraussetzung ist.30 4.3.3. Übermittlung zur Aufgabenerfüllung im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren, § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X gestattet die Datenübermittlung für die Durchführung von Gerichtsverfahren einschließlich Strafverfahren, die im Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung nach dem Sozialgesetzbuch stehen. Ob auch die Staatsanwaltschaft von den in § 35 Abs. 1 SGB X genannten Stellen die Übermittlung von Sozialdaten verlangen kann, wenn diese für ein Ermittlungsverfahren benötigt werden, ist strittig.31 27 Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Auflage 2018, § 64 SGB VIII (Stand: 15. Dezember 2020), Rn. 13.1. 28 LG Oldenburg, Beschluss vom 25. Juli 2017 - 6 Qs 35/17 -, Rn. 16 (juris); Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VIII, 2. Auflage 2018, § 64 SGB VIII (Stand: 15. Dezember 2020), Rn. 13.3. 29 Winkler in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition Stand: 1. März 2021, SGB VIII, § 64, Rn. 8. 30 Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Auflage 2018, § 64 (Stand: 28. Juni 2021), Rn. 24. 31 Bejahend: Bieresborn in: Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 69, Rn. 29; Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm /Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition 1. März 2021, SGB X § 69, Rn. 11; verneinend: Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 69 SGB X, Rn. 34; Fromm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 69 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 2. Mai 2018), Rn. 37. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 12 Die Vorschrift soll den Gerichten, insbesondere im Hinblick auf ihre zum Teil bestehende Pflicht zur Ermittlung von Amts wegen, Entscheidungskompetenz einräumen.32 Das gerichtliche Verfahren muss im Zusammenhang mit der Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach dem Sozialgesetzbuch durch eine in § 35 SGB I genannte Stelle stehen. Ein Zusammenhang liegt etwa vor, wenn eine der in § 35 SGB I genannten Stellen in Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben den Anstoß zu einem gerichtlichen Verfahren gegeben hat oder an dem Verfahren - beispielsweise als Beklagte - notwendig beteiligt ist.33 Ein eigenes Interesse der Justiz an der Strafverfolgung ist nicht ausreichend.34 Auch hier gelten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII die Übermittlungsbeschränkungen nach § 64 Abs. 2 SGB VIII (siehe die Ausführungen unter 4.3.2.). 4.4. Datenübermittlung für die Durchführung eines Strafverfahrens, § 73 SGB X § 73 SGB X ermöglicht die Übermittlung von Sozialdaten für die Durchführung eines Strafverfahrens . Anders als § 69 SGB X ist ein Zusammenhang mit der Erfüllung sozialer Aufgaben nicht erforderlich ; die Übermittlungsbefugnis des § 73 SGB X steht ausschließlich im Zeichen des staatlichen Strafverfolgungsinteresses.35 Strafverfahren ist das in der StPO geregelte Verfahren der Strafverfolgungsbehörden zur Verhängung einer Strafe nach dem Strafgesetzbuch oder sondergesetzlicher Strafnormen. Ausgeschlossen ist damit eine Übermittlung für Zwecke der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten oder für Zwecke der Strafvollstreckung.36 Die Übermittlung bedarf der vorherigen richterlichen Anordnung, § 73 Abs. 3 SGB X. Nach der Gesetzesbegründung geht die Vorschrift davon aus, dass § 161 StPO, der insbesondere auch für den Richter gilt, nicht nur als Ausdruck der allgemeinen Amtshilfepflicht zu verstehen sei, sondern in seinem Kern auch an Art. 92 GG (Gerichtsorganisation) anknüpfe, so dass eine über § 68 SGB X hinausgehende Regelung erforderlich sei. Sie trage außerdem dem Gedanken Rechnung, 32 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 69 SGB X, Rn. 33. 33 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 69 SGB X, Rn. 35; Fromm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK- SGB X, 2. Auflage 2017, § 69 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 2. Mai 2018), Rn. 36. 34 Kepert/Kunkel, Datenschutz bei Wahrnehmung des Schutzauftrags nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG - Rechtsgutachten zu datenschutzrechtlichen Fragestellungen bei Wahrnehmung des Schutzauftrags nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, in: Geschäftsstelle der Kommission Kinderschutz, Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz - Band II Materialien, Stand Dezember 2019, S. 54, abrufbar unter https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Publikationen /Abschlussbericht_Kommission-Kinderschutz_Band-II.pdf (zuletzt abgerufen am 6. Juli 2021). 35 Mrozynski, SGB I, 6. Auflage 2019, § 35, Rn. 68. 36 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 73 SGB X, Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 13 dass der Schutz des Sozialgeheimnisses grundsätzlich nicht geringer sein dürfe als der des Steuergeheimnisses nach § 30 Abgabenordnung (AO).37 Bezüglich Art und Umfang der zu übermittelnden Sozialdaten differenziert die Norm nach dem Typus beziehungsweise der Schwere der Straftat, auf den sich die konkrete Ermittlungstätigkeit bezieht. 4.4.1. Verbrechen oder sonstige Straftat von erheblicher Bedeutung, § 73 Abs. 1 SGB X Gemäß § 73 Abs. 1 SGB X ist die Übermittlung von Sozialdaten zulässig, soweit sie zur Durchführung eines Strafverfahrens wegen eines Verbrechens oder wegen einer sonstigen Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Verbrechen sind gemäß § 12 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Die Erstreckung der Übermittlungsbefugnis auf Straftaten von erheblicher Bedeutung erfolgte erst später. Der Gesetzgeber führte hierzu aus, dass die bei Vergehen nur eingeschränkt mögliche Datenübermittlung das Erfordernis einer möglichst umfassenden Sachaufklärung in Strafverfahren nur unzureichend berücksichtige. Defizite ergäben sich insbesondere bei der Verfolgung der Wirtschaftskriminalität, aber auch bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Bei Straftaten von erheblicher Bedeutung, die nicht Verbrechen seien, müsse deshalb umfassend die Übermittlung von Sozialdaten möglich sein.38 Der Begriff „Straftat von erheblicher Bedeutung“ wird im StGB nicht definiert. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung im Einzelfall schwierig sein kann.39 Der Gesetzgeber hatte dieses Problem auch erkannt, verzichtete jedoch bewusst auf eine Eingrenzung auf bestimmte Straftatbestände, da beispielsweise der Straftatbestand des Betrugs Bagatellfälle mit sehr geringen Schadenssummen ebenso wie Betrugsfälle in Millionenhöhe umfasse. Eine sachliche Differenzierung der Erheblichkeit von Straftaten könne daher nicht allein über die Straftatbestände erfolgen.40 Anhaltspunkte für eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ können 37 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialgesetzbuchs (SGB) - Verwaltungsverfahren - Drucksache 8/2034 -, Bundestagdrucksache 8/4022 vom 14. Mai 1980, S. 86. 38 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 12/5187 -, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften (Zweites Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs - 2. SGBÄndG), Bundestagsdrucksache 12/6334 vom 2. Dezember 1993, S. 10. 39 Bösenberg/Woltjen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 73 SGB X 1. Überarbeitung (Stand: 14. Mai 2018), Rn. 31. 40 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 12/5187 -, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialgesetzbuchs über den Schutz der Sozialdaten sowie zur Änderung anderer Vorschriften (Zweites Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs - 2. SGBÄndG), Bundestagsdrucksache 12/6334 vom 2. Dezember 1993, S. 10. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 14 etwa der eingetretene Schaden beziehungsweise die Auswirkungen der Tat (Schadenshöhe, Opfer ) oder ein besonderes öffentliches Interesse sein.41 Abgeschwächt wird die Problematik der unbestimmten Begrifflichkeit nach in der Literatur vertretener Auffassung durch die Tatsache, dass eine Übermittlung ausschließlich aufgrund richterlicher Anordnung erfolgen kann, § 73 Abs. 3 SGB X, wodurch die Entwicklung einer sachgerechten Auslegungspraxis erwartet werden könne.42 Im Falle des § 73 Abs. 1 SGB X dürfen sämtliche Sozialdaten uneingeschränkt übermittelt werden , soweit sie zur Durchführung des konkreten Strafverfahrens erforderlich sind. Dabei beschränkt sich die Übermittlungsbefugnis nicht auf Daten des im Strafverfahren Beschuldigten, sondern es dürfen grundsätzlich auch Daten Dritter wie potenzieller Zeugen übermittelt werden .43 4.4.2. Übermittlungsbefugnis wegen einer anderen Straftat, § 73 Abs. 2 SGB X § 73 Abs. 2 SGB X regelt die Übermittlung von bestimmten Sozialdaten bei „anderen Straftaten“, und somit Straftaten, die weder Verbrechen noch von erheblicher Bedeutung sind. Die Übermittlungsbefugnis ist in diesem Fall auf bestimmte Sozialdaten beschränkt, nämlich auf die in § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB X genannten Angaben (Name und Vorname sowie früher geführte Namen, Geburtsdatum, Geburtsort, derzeitige und frühere Anschriften der betroffenen Person sowie Namen und Anschriften ihrer derzeitigen und früheren Arbeitgeber) sowie auf die Angaben über erbrachte oder demnächst zu erbringende Geldleistungen. 4.4.3. Richterliche Anordnung, § 73 Abs. 3 SGB X Die Übermittlungen nach § 73 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X sind gemäß § 73 Abs. 3 SGB X nur auf Grund einer richterlichen Anordnung zulässig. Anders als nach § 69 Abs. 1 SGB X obliegt die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung damit nicht dem übermittelnden Sozialleistungsträger (§ 67d Abs. 1 SGB X), sondern dem anordnenden Richter. Dieser hat zu überprüfen, ob der Anfangsverdacht für eine Straftat nach § 152 StPO vorliegt, der Umfang des Übermittlungsersuchens der jeweiligen Qualifikation der Straftat (Verbrechen, Vergehen von besonderer Bedeutung, sonstige Bedeutung) entspricht und die Datenübermittlung für die Aufklärung der Straftat erforderlich ist und den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit entspricht.44 Im Rahmen 41 Bieresborn in: Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 73, Rn. 4; Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 73 SGB X, Rn. 18. 42 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 73 SGB X, Rn. 19. 43 Bieresborn in: Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 73, Rn. 6. 44 Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition Stand: 1. März 2021, SGB X, § 73, Rn. 10; Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 73 SGB X, Rn. 34, 36. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 15 der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird insbesondere die Höhe der Strafe, mit der die aufzuklärende Straftat bedroht ist, und das Interesse des Betroffenen an der Geheimhaltung privater und intimer Daten (auch im Hinblick auf eine etwaige öffentliche Verhandlung) zu berücksichtigen sein.45 Die richterliche Anordnung ist für die ersuchte Stelle verbindlich. Hat sie Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anordnung, kann sie Beschwerde nach § 304 StPO einlegen.46 4.5. Beschränkungen der Datenübermittlung Bestehen besondere gesetzliche Übermittlungsbeschränkungen, kann auch eine eigentlich nach den §§ 68 ff. SGB X zulässige Datenübermittlung ausgeschlossen sein. Dies gilt auch für die Übermittlung auf richterliche Anordnung nach § 73 SGB X. So schränkt § 76 SGB X die Übermittlung besonders sensibler Daten ein. Gemäß § 76 Abs. 1 SGB X dürfen etwa Sozialdaten, die einer in § 35 SGB I genannten Stelle von einem Arzt oder einer Ärztin oder einer anderen in § 203 StGB genannten Person zugänglich gemacht worden sind, nur unter den Voraussetzungen übermittelt werden, unter denen die der Geheimhaltungspflicht unterliegende Person selbst übermittlungsbefugt wäre. So soll gewährleistet werden, dass sowohl das Arztgeheimnis als auch die sonstigen in § 203 StGB geschützten Berufsgeheimnisse weiter gewahrt bleiben, wenn sie an eine dem Sozialdatenschutz unterliegende Stelle weitergeleitet werden. Damit ist eine Übermittlung solcher Sozialdaten regelmäßig nur mit Einwilligung der betroffenen Person möglich.47 Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ist neben dem bereits erläuterten § 64 Abs. 2 SGB VIII, der die Datenübermittlung nach § 69 SGB X eingeschränkt, insbesondere § 65 Abs. 1 SGB VIII zu berücksichtigen. Danach dürfen Sozialdaten, die dem Mitarbeiter eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind, von diesem nur bei Vorliegen einer Einwilligung oder in eng begrenzten Fällen weitergegeben oder übermittelt werden, etwa wenn die Übermittlung an das Familiengericht zur Erfüllung des Kinderschutzes nach § 8a Abs. 2 SGB VIII erforderlich ist oder beim Wechsel einer Fachkraft. 45 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialgesetzbuchs (SGB) - Verwaltungsverfahren - Drucksache 8/2034 -, Bundestagdrucksache 8/4022 vom 14. Mai 1980, S. 86. 46 Rombach in: Hauck/Noftz, SGB, September/20, § 73 SGB X, Rn. 41; Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm /Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition Stand: 1. März 2021, SGB X, § 73, Rn. 10. 47 Westphal in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 60. Edition Stand: 1. März 2021, SGB X, § 76, Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 16 5. Rechtliche Aspekte im Hinblick auf eine Streichung der richterlichen Anordnung in § 73 Abs. 3 SGB X und Bedeutung der Norm für den Kinder- und Jugendschutz Eine Diskussion darüber, ob der Vorbehalt der richterlichen Anordnung in § 73 Abs. 3 SGB X gestrichen oder die Anordnungsbefugnis auf die Staatsanwaltschaft erstreckt werden sollte, insbesondere hinsichtlich einer Verbesserung des Kinder- und Jugendschutzes wird - soweit hier bekannt - in der rechtwissenschaftlichen Literatur nicht geführt. 5.1. Keine unmittelbare unions- und verfassungsrechtliche Pflicht für richterliche Anordnung Weder unions- noch verfassungsrechtliche Bestimmungen schreiben einen Richtervorbehalt im Sinne des § 73 Abs. 3 SGB X unmittelbar zwingend vor. Wie oben ausgeführt, ist die DSGVO unmittelbar anwendbar. Ergänzend enthält sie Öffnungsklauseln , die den Mitgliedstaaten nationale Regelungen erlauben. Weder den unmittelbar geltenden Regelungen noch den Vorgaben für die nationalen Regelungen ist zu entnehmen, dass für die Übermittlung von Sozialdaten eine richterliche Anordnung zwingend geboten ist. Gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO müssen personenbezogene Daten auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden. Art. 5 Abs. 1 lit. b DSGVO bestimmt, dass die Daten für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden müssen und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden dürfen. Zweckänderungen, also die Verarbeitung der Daten zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem sie erhoben werden, können unter anderem rechtmäßig sein, wenn sie auf einer Rechtsvorschrift der Mitgliedstaaten beruhen, die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zur Sicherstellung der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung , einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit darstellen, Art. 6 Abs. 4 DSGVO. Eine zwingende Vorgabe, diese Anforderungen mittels richterlicher Anordnung sicherzustellen, lässt sich den Bestimmungen nicht entnehmen. Das Grundgesetz sieht zwar vereinzelt Richtervorbehalte vor. So dürfen Wohnungsdurchsuchungen gemäß Art. 13 Abs. 2 GG grundsätzlich nur durch einen Richter angeordnet werden. Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG stellt die Freiheitsentziehung einer Person ebenfalls unter den Vorbehalt einer richterlichen Anordnung. Eine vergleichbare Vorgabe für die Übermittlung von Sozialdaten enthält das Grundgesetz nicht. Jedoch ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dort Prüfungsmaßstab, wo Deutschland ein Gestaltungmaßstab bei der nationalen Umsetzung insbesondere im bereichsspezifischen Datenschutzrecht eingeräumt ist.48 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet dem Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden , wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden . Es gewährt seinen Trägern unter anderem Schutz gegen die unbegrenzte Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder individualisierbaren Daten. Diese Verbürgung darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des 48 Greve, NVwZ 2017, S. 737, 744; Bieresborn, NZS 2017, S. 887. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 17 Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, wobei die Einschränkung nicht weiter gehen darf als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist.49 Jedoch lässt sich auch hieraus nicht die zwingende Vorgabe einer richterlichen Anordnung im Sinne des § 73 Abs. 3 SGB X entnehmen. Auch aus diesen Vorgaben lässt sich jedoch nicht die zwingende Vorgabe einer richterlichen Anordnung im Sinne des § 73 Abs. 3 SGB X entnehmen. 5.2. Diskussion im Gesetzgebungsverfahren Während der Beratungen im Gesetzgebungsverfahren hatte sich der federführende 11. Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung auch mit der Frage befasst, ob auch die Staatsanwaltschaft anordnungsbefugt sein soll. Auf Antrag der Fraktion der CDU/CSU hatte die Ausschussmehrheit letztlich eine Erstreckung auf die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf deren Weisungsgebundenheit abgelehnt.50 Auch der vom Bundesrat unter anderem zu dieser Frage angerufene Vermittlungsausschuss entschied sich letztlich gegen eine Erstreckung der Anordnungsbefugnis auf die Staatsanwaltschaft .51 Die Diskussion wurde bei nachfolgenden Änderungen, zum Beispiel bei der oben dargestellten Erweiterung der unbeschränkten Datenübermittlung auch auf Vergehen von erheblicher Bedeutung, nicht wieder aufgegriffen. 5.3. Zu berücksichtigende Aspekte bei einem Absehen vom Richtervorbehalt Zwar ist weder der DSGVO noch dem Grundgesetz die zwingende Vorgabe eines Richtervorbehalts zu entnehmen. Jedoch wären bei einer Neuregelung grundsätzlich die im Gutachten dargestellten datenschutzrechtlichen Grundsätze und Regelungen zu beachten. Zudem ist zu berücksichtigenden, dass nach der derzeitigen Rechtslage dem Richter die Prüfung obliegt, ob die Voraussetzungen für eine Datenübermittlung nach § 73 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X vorliegen. Dabei ist insbesondere auch der verfassungsmäßige Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Zwischenschaltung einer unabhängigen Instanz in Form des Gerichts soll eine Abwägung ermöglichen zwischen dem Ermittlungsinteresse der Strafverfolgung einerseits und dem Diskretionsinteresse des Sozialleistungsträgers andererseits. Gleichzeitig soll eine möglichst objektive Prüfung der materiell-rechtlichen Übermittlungsvoraussetzungen gesichert werden.52 49 BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2000 - 2 BvR 1741/99 -, Rn. 51 (juris). 50 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialgesetzbuchs (SGB) - Verwaltungsverfahren - Drucksache 8/2034 -, Bundestagdrucksache 8/4022 vom 14. Mai 1980, S. 86 51 Vgl. Unterrichtung durch den Bundesrat Sozialgesetzbuch (SGB) - Verwaltungsverfahren -, - Drucksachen 8/2034, 8/4022 - hier: Anrufung des Vermittlungsausschusses, Bundestagsdrucksache 8/4216 vom 16. Juni 2012, S. 5 und Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Sozialgesetzbuch (SGB) - Verwaltungsverfahren -, - Drucksachen 8/2034, 8/4022, 8/4216 -, Bundestagsdrucksache 8/4330 vom 26. Juni 1980. 52 Mörsberger in: Wiesner, 5. Auflage 2015, SGB X § 73, Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 18 Bei einer Änderung der Norm wäre folglich zu klären, welche Stelle für die Prüfung der Übermittlungsvoraussetzungen verantwortlich sein soll. Der Systematik der §§ 67 ff. SGB X folgend dürfte dies nach hiesiger Auffassung dann der übermittelnden Stelle obliegen, entsprechend der Regelung nach § 67d SGB X, gemäß der die übermittelnde Stelle die Verantwortung für die Zulässigkeit für die Datenübermittlung trägt. Da die Datenübermittlung nach § 73 SGB X gerade nicht im Zusammenhang mit einer sozialen Aufgabe steht, sondern allein dem Zweck der Strafverfolgung dient, wäre es Aufgabe der Sozialleistungsträger, die strafprozessualen Voraussetzungen und die Erforderlichkeit der Daten für das Ermittlungsverfahren zu prüfen. Auch war es ein Anliegen des Gesetzgebers, dass der Schutz des Sozialgeheimnisses grundsätzlich nicht geringer sein dürfe als der des Steuergeheimnisses nach § 30 Abgabenordnung (AO), siehe oben unter 4.4. Dies müsste folglich auch weiterhin sichergestellt sein. Auch ist darauf hinzuweisen, dass Teile der Literatur die Unbestimmtheit des Begriffs „Straftat von erheblicher Bedeutung“ als problematisch sehen, diese jedoch aufgrund des Richtervorbehalts als vertretbar erachten (siehe unter 4.4.1.). Hinsichtlich einer mögliche Differenzierung nach der Schwere der Straftat oder dem Umfang der zu übermittelnden Daten ist darauf hinzuweisen, dass in § 73 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X bereits eine derartige Differenzierung enthalten ist. Der eingeschränkte Umfang der nach § 68 SGB X und § 73 Abs. 2 SGB X zu übermittelnden Sozialdaten ähneln sich zudem. Daher ist fraglich, ob die Abschaffung des Richtervorbehalts für die Übermittlung nach § 73 Abs. 2 SGB X wegen einer anderen Straftat eine wesentliche Veränderung brächte. 5.4. Bedeutung des § 73 SGB X für den Kinder- und Jugendschutz Unabhängig von den rechtlichen Anforderungen einer Neuregelung, dürfte § 73 SGB X für den präventiven Kinder- und Jugendschutz allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Kinderschutz und auch der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung gemäß § 8a SGB VIII sind Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch, die insbesondere den Jugendämtern obliegen, die für die Aufgabenerfüllung im Rahmen der rechtlichen Vorgaben beispielsweise auch die Polizei hinzuziehen können. Zentrale Übermittlungsnorm für die Erfüllung dieser Aufgaben ist § 69 SGB X (siehe 4.3.). Die Datenübermittlung nach § 73 SGB X steht demgegenüber in keinem Zusammenhang mit der Erfüllung einer sozialen Aufgabe. Hier geht es allein um die Verwirklichung des Strafanspruchs des Staates. Dies geht auch aus einem Rechtsgutachten zu datenschutzrechtlichen Fragestellungen bei Wahrnehmung des Schutzauftrags nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG53 hervor, dass die Kommission Kinderschutz beim Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg in Auftrag gegeben hatte. Im Gutachten werden unter anderem die Regelungen zur Datenübermittlung im Verhältnis zwischen öffentlichen Trägern der Jugendhilfe und der Polizei sowie der Justiz untersucht. Dabei 53 Kepert/Kunkel, Datenschutz bei Wahrnehmung des Schutzauftrags nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG - Rechtsgutachten zu datenschutzrechtlichen Fragestellungen bei Wahrnehmung des Schutzauftrags nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, in: Geschäftsstelle der Kommission Kinderschutz, Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, Abschlussbericht der Kommission Kinderschutz - Band II Materialien, Stand Dezember 2019, abrufbar unter https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Publikationen /Abschlussbericht_Kommission-Kinderschutz_Band-II.pdf (zuletzt abgerufen am 6. Juli 2021). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 037/21 Seite 19 wurden auch Vorschläge für gesetzliche Neuregelungen für eine Verbesserung des Kinderschutzes aufgenommen. Nach den Ausführungen des Gutachtens ist § 73 SGB X als Übermittlungsnorm kaum geeignet für die Wahrnehmung des Schutzauftrags im Sinne eines präventiven Handelns. Allenfalls bei einer Änderung oder Auslegung der Norm dahingehend, dass auch eine Übermittlungsbefugnis an die Führungsaufsichtsstellen erfasst wird, um einen wirksamen Schutz von Kindern vor erneuten Übergriffen durch unter Führungsaufsicht stehende Personen zu gewährleisten, wäre eine Datenübermittlung nach § 73 SGB X im Bereich des Kinderschutzes für ein mit dem Kinderschutzfall zusammenhängenden Strafverfahren möglich.54 Auch wird der Richtervorbehalt in keiner Weise als problematisch im Hinblick auf den Kinderschutz und den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung in dem Gutachten problematisiert; keine der vorgeschlagenen Neuregelungen betrifft § 73 Abs. 3 SGB X. Auch § 68 SGB X (Übermittlung für Aufgaben der Polizeibehörden, der Staatsanwaltschaften) sei aufgrund des eng gefassten Datensatzes, welcher übermittlungsfähig ist, kaum geeignet für eine Wahrnehmung des Schutzauftrags.55 Zentrale Rechtsnorm für die umfassende Datenübermittlung vom Jugendamt an die Polizei bei Wahrnehmung des Schutzauftrags stellt laut dem Gutachten vielmehr § 69 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 SGB X in Verbindung mit § 8a Abs. 3 S. 2 SGB VIII dar. Wie unter 4.3.2. dargestellt, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Erziehungsberechtigten hinzuwirken, soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden etwa anderer Leistungsträger oder der Polizei notwendig ist, § 8a Abs. 3 S. 1 SGB VIII. So könnten beispielsweise die Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe eine Kindeswohlgefährdung aufgrund einer körperlichen Misshandlung oder eines sexuellen Missbrauchs ohne Unterstützung durch die Polizei regelmäßig nicht abwenden. So könne auch ein Kind, das stationär in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht sei, weiterhin dem Zugriff des Täters ausgesetzt sein. In diesen Fällen sei es regelmäßig zur Erfüllung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII notwendig, die erforderlichen Daten im Sinne des § 64 SGB VIII der Polizei zu übermitteln.56 Einer Datenübermittlung nach § 73 SGB X bedarf es in diesen Fällen jedoch nicht. *** 54 Ebenda, S. 52 ff. 55 Ebenda, S. 51 f. 56 Ebenda, S. 55.