© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Ausweitung der Bild- und Tonübertragung und des schriftlichen Verfahrens zwecks Infektionsvermeidung im Arbeitsgerichtsverfahren und im Zivilprozess Vereinbarkeit von Änderungsvorschlägen mit prozessualen Verfahrensgrundsätzen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 2 Ausweitung der Bild- und Tonübertragung und des schriftlichen Verfahrens zwecks Infektionsvermeidung im Arbeitsgerichtsverfahren und im Zivilprozess Vereinbarkeit von Änderungsvorschlägen mit prozessualen Verfahrensgrundsätzen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Abschluss der Arbeit: 26. Juni 2020 Fachbereiche: WD 6: Arbeit und Soziales (Gliederungspunkte 2. bis 4.) WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung (Gliederungspunkt 5.) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verfahrensgrundsätze und geltende Rechtslage im arbeitsgerichtlichen Verfahren 5 2.1. Verfahrensgrundsätze im arbeitsgerichtlichen Verfahren 6 2.2. Geltende Rechtslage 6 2.2.1. Zusammensetzung der Kammern 6 2.2.2. Mündliche Verhandlung und schriftliches Verfahren 7 2.2.3. Öffentlichkeit 8 2.2.4. Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung (Einsatz von Videokonferenztechnik) 8 2.3. Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite, § 114 ArbGG 10 3. Wesentliche Vorschläge des Eckpunktepapiers und des richterlichen Entwurfs 11 3.1. Vorschläge für alle Instanzen 12 3.2. Vorschläge für die zweite und dritte Instanz 13 3.3. Vorschlag nur für die dritte Instanz 13 4. Vereinbarkeit der Vorschläge im Arbeitsgerichtsprozess mit den Verfahrensgrundsätzen 13 4.1. Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) 13 4.2. Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG) 15 4.3. Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) 16 4.4. Grundsatz der Öffentlichkeit 18 4.4.1. Öffentlichkeit als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips 18 4.4.2. Öffentlichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK 20 4.4.3. Vereinbarkeit der Vorschläge mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit 21 4.4.3.1. Ausschluss der Öffentlichkeit bei mündlicher Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung 21 4.4.3.2. Zustellung des Urteils statt Verkündung 24 4.5. Grundsatz der Mündlichkeit 27 4.6. Unmittelbarkeit 29 4.7. Beratung der Richter 30 5. Übertragbarkeit der Vorschläge auf das allgemeine Zivilverfahren 30 5.1. Verfahrensgrundsätze und geltende Rechtslage im allgemeinen Zivilverfahren 30 5.2. Vereinbarkeit mit den Verfahrensgrundsätzen 32 6. Fazit 34 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 4 1. Einleitung Der Bundestag hat am 25. März 2020 eine epidemische Lage von nationaler Tragweite gemäß § 5 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) festgestellt.1 In der Folge hatten der Bund und die Länder umfangreiche Kontakt- und Reisebeschränkungen angeordnet. Auch an den Gerichten wurde der Geschäftsbetrieb aus Infektionsschutzgründen meist auf das Notwendigste beschränkt. Zahlreiche Termine wurden aufgehoben und Verfahren verschoben.2 Zudem wurde der Zugang zu Gerichtsgebäuden zum Teil für das Publikum grundsätzlich gesperrt .3 Vor diesem Hintergrund erstellte die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG) im März 2020 ein Eckpunktepapier zur „Sicherung des Justizgewährleistungsanpruchs in der Arbeitsgerichtbarkeit in Zeiten infektionsbedingter Reise- und Kontaktbeschränkungen mittels alternativer Kommunikationsformen in erster und zweiter Instanz sowie der Anordnung des schriftlichen Verfahrens in dritter Instanz“. Das Eckpunktepapier enthielt unter anderem Überlegungen und Anregungen dazu, wie die Kontinuität der Rechtspflege gesichert und die Arbeit der Arbeitsgerichte fortgesetzt werden könne.4 Etwa zeitgleich wurde ein als "Referentenentwurf“ bezeichnetes Papier mit konkreten Vorschlägen zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) bekannt. Laut Presseberichten handelte es sich bei diesem Entwurf um einen Vorschlag eines Landesarbeitsgerichtspräsidenten .5 In der Folge legte auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit vor. Auf Grundlage einer vom Bundeskabinett beschlossenen Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen6 brachten 1 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht der 154. Sitzung am 25. März 2020, Plenarprotokoll 19/154, S. 19169 C. 2 Rebehn, DRiZ 2020, S. 162, 163. 3 Siehe zum Beispiel Arbeitsgericht Berlin und Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Pressemitteilung Nr. 15/20 vom 19.03.2020, https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung .909414.php (zuletzt abgerufen am 31. Mai 2020). 4 Legal Tribune Online (LTO), Interview mit BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt: "Es ist nicht das Ziel, Online-Gerichte zu etablieren", 8. April 2020, https://www.lto.de/recht/justiz/j/interview-bag-praesidentin-schmidt-verhandlungen -arbeitsrecht-digital/ (zuletzt abgerufen am 31. Mai 2020). 5 LTO, Nach Vorschlägen der BAG-Präsidentin Öffentlichkeit an Arbeitsgerichten bald ausgeschlossen?, 15. April 2020, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bmas-referentenentwurf-arbgg-sgg-oeffentlichkeit-video-verhandungen / (zuletzt abgerufen am 31. Mai 2020); LTO, Coronakrise: Plant die Regierung "Online-Gerichte"?, 2. April 2020, https://www.lto.de/recht/justiz/j/corona-online-gerichte-courts-justiz-video-verfahren-arbeitsgerichtegerichtssaal -oeffentlichkeit/ (zuletzt abgerufen am 31. Mai 2020). 6 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II), Bearbeitungsstand: 27. April 2020, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-sozialschutzpaketii .pdf?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am 2. Juni 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 5 die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD den Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II)7 ein, der unter anderem auch eine Anpassung des Arbeitsgerichtsgesetzes vorsah. Das Gesetz8 wurde am 20. Mai 2020 vom Deutschen Bundestag beschlossen und trat am 29. Mai 2020 in Kraft.9 Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurden um eine Einschätzung gebeten , inwieweit die in dem Eckpunktepapier und dem richterlichen Entwurf vorgeschlagenen Änderungen mit den Prozessgrundsätzen, insbesondere den Justizgrundrechten und dem Öffentlichkeitsprinzip , vereinbar seien. Ferner wurde um eine Prüfung der Frage gebeten, inwieweit die für die Arbeitsgerichtsbarkeit vorgeschlagenen Änderungen auf die Zivilprozessordnung (ZPO) übertragbar wären. Die Bearbeitung in Hinblick auf die Arbeitsgerichtsbarkeit (Gliederungspunkte 2. bis 4.) erfolgte durch den Fachbereich WD 6; die Prüfung der Übertragbarkeit der Vorschläge auf den allgemeinen Zivilprozess (Gliederungspunkt 5.) übernahm der Fachbereich WD 7. Ergänzend wird darauf verwiesen, dass an dieser Stelle eine Erörterung der Umsetzbarkeit der Vorschläge in der Praxis, insbesondere in Hinblick auf die etwa notwendige technische Ausstattung der Gerichte und Verfahrensbeteiligten, nicht möglich ist. 2. Verfahrensgrundsätze und geltende Rechtslage im arbeitsgerichtlichen Verfahren Nachfolgend werden zunächst die relevanten grundsätzlich geltenden Bestimmungen des ArbGG beschrieben. Sodann wird ein kurzer Überblick über die Regelungen des mit dem Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) vom 20. Mai 2020 eingefügten § 114 ArbGG gegeben. 7 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II), Bundestagsdrucksache 19/18966 vom 5. Mai 2020. 8 Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) vom 20. Mai 2020, BGBl. I 2020, S. 1055. 9 Artikel 20 Abs. 1 des Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz- Paket II) vom 20. Mai 2020, BGBl. I 2020, S. 1055. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 6 2.1. Verfahrensgrundsätze im arbeitsgerichtlichen Verfahren Das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren10 ist ein Zivilprozessverfahren. Gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG sind die Vorschriften der ZPO vor den Amtsgerichten und über die Verweisung nach § 495 ZPO auch die des Landgerichts im erstinstanzlichen Verfahren anzuwenden, soweit das ArbGG nicht etwas anderes bestimmt, insbesondere nicht die Anwendung bestimmter Vorschriften der ZPO ausdrücklich ausschließt.11 Für das Verfahren vor den Landesarbeitsgerichten verweist § 64 Abs. 6 ArbGG ebenfalls auf die Vorschriften der ZPO; gleiches gilt für das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht nach § 72 Abs. 5 ArbGG. Das Zivilverfahrensrecht gründet auf bestimmten Verfahrensgrundsätzen (Prozessmaximen), die die wichtigen Entscheidungen für die Gestaltung des Verfahrens enthalten (siehe zur ausführlichen Erörterung unten unter 4.). Diese gelten mit Modifikationen auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren, wobei die Sondervorschriften des ArbGG vor allem der Beschleunigung des Verfahrens und der Hervorhebung des Mündlichkeitsgrundsatzes dienen.12 2.2. Geltende Rechtslage 2.2.1. Zusammensetzung der Kammern Die Gerichte für Arbeitssachen sind mit Berufsrichtern und mit ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber besetzt, § 6 Abs. 1 ArbGG. Die Beteiligung der ehrenamtlichen Richter, deren Stimme das gleiche Gewicht hat wie die der Berufsrichter, erfolgt zu dem Zweck, dass ihre Erfahrungen aus dem Berufsleben und ihre besondere Sachkenntnis bei der Rechtsfindung Berücksichtigung finden.13 Die Kammern der Arbeitsgerichte und der Landesarbeitsgerichte sind mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern (§§ 16 Abs. 2, 35 Abs. 2 ArbGG), die Senate des Bundesarbeitsgerichts mit einem Vorsitzenden, zwei berufsrichterlichen Beisitzern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 41 Abs. 2 ArbGG) besetzt. 10 Das Arbeitsgerichtsgesetz unterscheidet zwei verschiedene Verfahrensarten, das Urteilsverfahren (vgl. §§ 2, 46 ff. ArbGG) und das Beschlussverfahren (vgl. §§ 2a, 80 ff. ArbGG). Grundsätzlich gilt das Urteilsverfahren für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten, die in so naher Beziehung zum Arbeitsverhältnis stehen, dass sie überwiegend durch dieses bestimmt werden, während das Beschlussverfahren kollektivrechtliche Streitigkeiten betrifft (Ahrendt in: Grobys/Panzer-Heemeier, StichwortKommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage, Edition 12/2020, Arbeitsgerichtsverfahren , Rn. 1). 11 Hamacher in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition, Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 46, Vor, Rn. 1. 12 Thomas Kloppenburg in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, ArbGG, § 46, Rn. 3; Hamacher in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition , Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 46, Vor, Rn. 1. 13 Poeche in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition, Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 6, Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 7 2.2.2. Mündliche Verhandlung und schriftliches Verfahren Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit § 128 Abs. 1 ZPO verhandeln die Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich. Der darin zum Ausdruck kommende Grundsatz der Mündlichkeit gilt gleichfalls gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG für das Berufungsverfahren vor den Landesarbeitsgerichten sowie gemäß § 72 Abs. 5 ArbGG für das Revisionsverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht. Dabei gilt das Mündlichkeitsprinzip im Verfahren vor den Arbeitsgerichten, insbesondere in der ersten Instanz, stärker als im allgemeinen Zivilprozess. So finden etwa die Vorschriften über den frühen ersten Termin zur mündlichen Verhandlung und das schriftliche Vorverfahren (§§ 275 bis 277 ZPO) auf das arbeitsgerichtliche Verfahren nach § 46 Abs. 2 Satz 2 ArbGG keine Anwendung.14 Vielmehr beginnt die erstinstanzliche arbeitsgerichtliche mündliche Verhandlung mit der sogenannten Güteverhandlung, einer Verhandlung vor dem Vorsitzenden (ohne ehrenamtliche Richter )15 zum Zwecke der gütlichen Einigung der Parteien, § 54 Abs. 1 Satz 1 ArbGG.16 In dieser hat der Vorsitzende das gesamte Streitverhältnis mit den Parteien unter freier Würdigung aller Umstände zu erörtern und kann zur Aufklärung des Sachverhalts alle Handlungen vornehmen, die sofort erfolgen können, § 54 Abs. 1 Satz 2 und 3 ArbGG. Eine Aufforderung an den Beklagten, sich auf die Klage schriftlich zu äußern, hat dagegen nach § 47 Abs. 2 ArbGG vor der Güteverhandlung in der Regel nicht zu erfolgen. Verstärkt wird das Mündlichkeitsprinzip auch dadurch, dass § 46 Abs. 2 Satz 2 ArbGG die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Entscheidung im schriftlichen Verfahren bei Zustimmung der Parteien) nach § 128 Abs. 2 ZPO und im vereinfachten Verfahren nach § 495a ZPO (Bestimmung des Verfahrens nach Ermessen des Gerichts bei einem Streitwert bis 600 Euro) in der ersten Instanz ausschließt. In der zweiten Instanz darf jedoch nach § 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 128 Abs. 2 ZPO mit Zustimmung der Parteien eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren ergehen. Gleiches gilt für das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht, § 72 Abs. 5 ArbGG. 14 BAG, Urteil vom 2. Juli 2008 - 10 AZR 355/07 -, Rn. 24 (zitiert nach juris). 15 Hamacher in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition, Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 54, Rn. 12. 16 Etwa zwei Drittel aller arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten im Urteilsverfahren werden in der Güteverhandlung oder in unmittelbarem Anschluss hieran durch Vergleich erledigt; lediglich circa sechs Prozent der Urteilsverfahren wurden 2018 bundesweit in der ersten Instanz streitig entschieden (Fuhlrott/Oltmanns, Arbeitsrecht Aktuell 2020, S. 222, 223 unter Hinweis auf die Ergebnisse der Statistik der Arbeitsgerichtsbarkeit 2018 des BMAS). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 8 2.2.3. Öffentlichkeit Gemäß § 52 ArbGG sind die Verhandlungen vor Gericht einschließlich der Beweisaufnahme und der Verkündung der Entscheidung öffentlich. Das Arbeitsgericht kann die Öffentlichkeit für die Verhandlung oder für einen Teil der Verhandlung ausschließen, wenn durch die Öffentlichkeit eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, insbesondere der Staatssicherheit, oder eine Gefährdung der Sittlichkeit zu besorgen ist oder wenn eine Partei den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt , weil Betriebs-, Geschäfts- oder Erfindungsgeheimnisse zum Gegenstand der Verhandlung oder der Beweisaufnahme gemacht werden. Ferner kann das Gericht die Öffentlichkeit zum Schutze der Privatsphäre eines Prozessbeteiligten oder eines Zeugen entsprechend § 171b Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ausschließen. Im Güteverfahren kann es die Öffentlichkeit auch aus Zweckmäßigkeitsgründen ausschließen. 2.2.4. Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung (Einsatz von Videokonferenztechnik ) Gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 bzw. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit § 128a Abs. 1 ZPO17 kann das Gericht im Urteils- und Beschlussverfahren der ersten und zweiten Instanz den Parteien , ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Nach § 128a Abs. 2 ZPO kann das Gericht auf Antrag gleichfalls gestatten, dass sich ein Zeuge, ein Sachverständiger oder eine Partei während einer Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. Die 2002 eingeführte Vorschrift18 lockert das Erfordernis der körperlichen Präsenz bei einer mündlichen Verhandlung durch die Möglichkeit der Nutzung moderner, insbesondere digitaler Videokonferenztechnik in der mündlichen Verhandlung (§ 128a Abs. 1 ZPO) und in der Beweisaufnahme (§ 128a Abs. 2 ZPO).19 Erklärungen und Prozesshandlungen sind trotzdem als solche wie in einer mündlichen Verhandlung als abgegeben anzusehen.20 Erforderlich bleibt jedoch die Anwesenheit des Gerichts (im arbeitsgerichtlichen Verfahren Richter und ehrenamtliche Richter) im Sitzungssaal, während die anderen Verfahrensbeteiligten sich an einem anderen Ort aufhalten dürfen. Das Gericht ist befugt, vorhandene Videotechnik zu nutzen; eine Verpflichtung der Justiz, entsprechende technische Ausrüstungen vorzuhalten, begründet die Vorschrift jedoch nicht.21 17 Die Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung ist auch in weiteren Verfahrensordnungen bereits enthalten: § 91a FGO, § 102a VwGO, § 110a SGG. 18 Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001, BGBl. I 2001, S. 1887. 19 Von Selle in: Vorwerk/Wolf, Beck‘scher Online-Kommentar ZPO, 36. Edition, Stand: 1. März 2020, § 128a, Rn. 1. 20 Francken, NZA 2020, S. 681, 682. 21 Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 128a, Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 9 Ziel der Regelung ist die Entlastung der Prozessbeteiligten von Reise- und Zeitaufwand und die damit einhergehende Beschleunigung des Verfahrens.22 Seit 201323 kann das Gericht den Einsatz von Videokonferenztechnik auch nach pflichtgemäßem Ermessen von Amts wegen anordnen; ein Antrag der Parteien oder deren Einverständnis ist grundsätzlich nicht mehr erforderlich. Die Initiative kann aber auch weiterhin aufgrund eines entsprechenden Antrags von einer Partei ausgehen.24 Der Einsatz von Ton- und Bildtechnik während einer Vernehmung erfordert nach § 128a Abs. 2 ZPO den Antrag eines Verfahrensbeteiligten . Das Gericht trifft seine Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung nach pflichtgemäßen Ermessen. Es hat bei seiner Entscheidung den Einfluss des Verlusts des persönlichen Eindrucks auf die mündliche Verhandlung und die Beweiswürdigung gegenüber den Vorteilen der Videovernehmung (insbesondere Zeit- und Kostenersparnis) abzuwägen.25 Der Einsatz des Videoverfahrens kann von den Beteiligten weder verhindert noch erzwungen werden, da die entsprechende Entscheidung des Gerichts unanfechtbar ist (§ 128a Abs. 3 Satz 2 ZPO).26 Eine Pflicht zur Teilnahme an einer Verhandlung per Videokonferenz besteht nach dem Wortlaut der Vorschrift („gestatten“) nicht. Es bleibt den Beteiligten (Parteien und Zeugen) somit unbenommen in der mündlichen Verhandlung persönlich zu erscheinen.27 § 128a ZPO enthält keine Vorgaben zur technischen Ausstattung, fordert aber, die Verfahrenshandlungen der abwesenden Verfahrensbeteiligten zeitgleich in Bild und Ton in den Sitzungssaal und umgekehrt die dort stattfindende Verhandlung an den Aufenthaltsort der Verfahrensbeteiligten zu übertragen, da nur die wechselseitige visuelle und akustische Wahrnehmbarkeit eine der herkömmlichen mündlichen Verhandlung adäquate Verhandlungssituation gewährleistet.28 22 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates - Drucksache 17/1224 - Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren, Bundestagsdrucksache 17/12418 vom 20. Februar 2013, S. 14; Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 128a, Rn. 1. 23 Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25. April 2013, BGBl. I 2013, S. 935. 24 Hamacher in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition, Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 46, Rn. 2 Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 128a ZPO, Rn. 1, 3. 25 Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128a, Rn. 6, 13; vgl. hierzu auch Leopold, NZS 2013, S. 847, 851 ff. mit umfassender Darstellung der Aspekte der Ermessensausübung. 26 Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 128a ZPO, Rn. 11. 27 Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 128a ZPO, Rn. 3; Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128a, Rn. 4, 9. 28 Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128a, Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 10 Die zugeschalteten Prozessbeteiligten müssen folglich die ganze Verhandlung und alle Beteiligten sehen und hören können. Der Ort, an dem sich die Verfahrensbeteiligten für die Ton- und Bildübertragung befinden, muss nach wohl überwiegender Ansicht weder ein Gerichtssaal noch öffentlich zugänglich sein.29 Der Grundsatz der Öffentlichkeit bezieht sich nur auf den Gerichtssaal, die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit bleibt durch die zeitgleiche Übertragung dorthin erhalten.30 Das Gericht muss sich aber weiterhin an der Gerichtsstelle aufhalten (§ 219 ZPO), an der auch die Gerichtsöffentlichkeit (§ 52 ArbGG, § 169 GVG) herzustellen ist. Den Zuhörern im Gerichtssaal muss nur die Ton-, nicht aber auch die Bildübertragung zugänglich sein.31 Die Aufzeichnung der Videokonferenz durch das Gericht oder die Parteien ist unzulässig (§ 128a Abs. 3 S. 1 ZPO).32 2.3. Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite, § 114 ArbGG Laut Gesetzesbegründung sollen die Regelungen des § 114 Abs. 1 ArbGG es ermöglichen, bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Gestaltung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens vorübergehend anzupassen, um einen umfassenden Gesundheitsschutz der beteiligten Personen zu gewährleisten.33 Die Regelungen sind bis zum 31. Dezember 2020 befristet. § 114 ArbGG lautet wie folgt: „§ 114 Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite (1) Das Gericht kann abweichend von § 128a der Zivilprozessordnung einem ehrenamtlichen Richter bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus beizuwohnen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet. 29 Von Selle in: Vorwerk/Wolf, Beck‘scher Online-Kommentar ZPO, 36. Edition, Stand: 1. März 2020, § 128a, Rn. 5 mwN; Gesetzentwurf des Bundesrates, Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren, Bundestagsdrucksache 17/1224 vom 24. März 2010, S. 12; a.A. Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufllage 2020, § 128a, Rn. 3. 30 Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128a, Rn. 2. 31 Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 128a ZPO, Rn. 6; Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128a, Rn. 3; Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128a, Rn. 5. 32 Schultzky, NJW 2003, S. 313, 317. 33 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II), Bundestagsdrucksache 19/18966 vom 5. Mai 2020, S. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 11 (2) Absatz 1 gilt entsprechend für die Beratung, Abstimmung und Verkündung der Entscheidung . Satz 1 gilt auch, wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erfolgt. Die an der Beratung und Abstimmung Teilnehmenden haben durch geeignete Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen; die getroffenen Maßnahmen sind zu protokollieren. (3) Das Gericht soll den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes im Falle des § 128a der Zivilprozessordnung von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Satz 1 gilt entsprechend für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen.“ Unzumutbar im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 1 ArbGG ist nach der Gesetzesbegründung das persönliche Erscheinen bei der Gerichtsstelle für einen ehrenamtlichen Richter beispielsweise, wenn damit eine längere Anreise verbunden ist.34 Nach § 114 Abs. 3 ArbGG soll das Gericht bei Vorliegen einer epidemischen Lage - abweichend von § 128a Abs. 1 und 2 ZPO („kann“) - den Parteien, ihren Prozessbevollmächtigten und Beiständen gestatten, per Bild- und Tonübertragung an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Hierdurch soll nach der Gesetzesbegründung die Nutzung der Videokonferenztechnik gestärkt werden.35 Die im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehene Möglichkeit, dass das Bundesarbeitsgericht nach vorheriger Anhörung auch ohne Zustimmung der Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen kann, wenn das Landesarbeitsgericht die Berufung zurückgewiesen hat, wurde im Gesetzgebungsverfahren gestrichen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Regelung nicht für zwingend erforderlich gehalten werde, da beim Bundesarbeitsgericht ausreichende Räumlichkeiten zur Verfügung stünden, um einen angemessenen Gesundheitsschutz auch bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu gewährleisten.36 3. Wesentliche Vorschläge des Eckpunktepapiers und des richterlichen Entwurfs Anlass für das im März verfasste Eckpunktepapier und den richterlichen Gesetzentwurf war die Sorge, dass sich die damals bundesweit geltenden Ausgangsbeschränkungen auf die Arbeit des Bundesarbeitsgerichts und der Arbeitsgerichtsbarkeit der Länder auswirken würden. Aufgrund 34 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II), Bundestagsdrucksache 19/18966 vom 5. Mai 2020, S. 30. 35 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II), Bundestagsdrucksache 19/18966 vom 5. Mai 2020, S. 30. 36 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) a) zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD - Drucksache 19/18966 - Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutzpaket II) und weiteren Anträgen, Bundestagsdrucksache 19/19204 vom 13. Mai 2020, S. 8 und 29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 12 der Bedeutung der mündlichen Verhandlung im arbeitsgerichtlichen Verfahren der ersten und zweiten Instanz sei die Arbeitsgerichtsbarkeit von den von den Landesjustizverwaltungen verfügten Beschränkungen stärker getroffen als diejenigen Gerichtsbarkeiten, in denen die schriftsätzliche Vorbereitung des Verfahrens und eine weiträumigere Terminierung stärker ausgeprägt seien. Gerade angesichts der derzeitigen Krise werde es voraussichtlich zu vermehrten Streitigkeiten über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen, die Zahlung von Arbeitsentgelten und die Anordnung von Kurzarbeit kommen. Eine verzögerte oder Nichtterminierung habe gravierende Auswirkungen , wenn es um existenzsichernde Dauerschuldverhältnisse gehe. Es sei daher für die Arbeitsgerichtsbarkeit besonders wichtig, einen zügigen und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten .37 Nachfolgend werden die wesentlichen Vorschläge des Eckpunktepapiers der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts und des Gesetzentwurfs eines Landesarbeitsgerichtspräsidenten kurz dargestellt . Dabei sollten alle vorgeschlagenen Regelungen auf die voraussichtliche Dauer des Infektionsgeschehens befristet werden. 3.1. Vorschläge für alle Instanzen – Zentraler Vorschlag war die Einführung der Möglichkeit für das Gericht, zur Vermeidung einer Weiterverbreitung von übertragbaren Krankheiten verbindlich anzuordnen, dass die mündliche Verhandlung im Wege der Videokonferenz stattfindet. Die Anordnung sollte dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden liegen und unanfechtbar sein. Die entsprechende Anordnung sollte den Parteien sowie ihren Bevollmächtigten, den ehrenamtlichen Richtern und den weiteren Prozessbeteiligten ermöglichen, ausschließlich im Wege der Videokonferenz in anderen Räumlichkeiten an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu können. Lediglich Parteien, Prozessbevollmächtige oder ehrenamtliche Richter, die sich die erforderliche technische Ausstattung nicht in zumutbarer Weise beschaffen könnten, sollten noch das Recht zur persönlichen Anwesenheit im Sitzungssaal haben. Nach hiesigem Verständnis der Vorschläge sollen sich dabei die Berufsrichter grundsätzlich weiterhin bei der Gerichtsstelle im Sinne des § 219 ZPO aufhalten. Es sollte außerdem bestimmt werden, dass eine ausschließlich im Wege der Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung kraft Gesetzes nicht öffentlich sei. Die Übertragung in Bild und Ton sollte nicht aufgezeichnet werden dürfen. – Im Einvernehmen mit den ehrenamtlichen Richtern sollte auch die Beratung der Kammer ausschließlich im Wege der Ton- und Bildübertragung vorgenommen werden können. 37 Siehe auch Legal Tribune Online (LTO), Interview mit BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt: "Es ist nicht das Ziel, Online-Gerichte zu etablieren", 8. April 2020, https://www.lto.de/recht/justiz/j/interview-bag-praesidentinschmidt -verhandlungen-arbeitsrecht-digital/ (zuletzt abgerufen am 31. Mai 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 13 3.2. Vorschläge für die zweite und dritte Instanz – Im Falle des schriftlichen Verfahrens nach § 128 Abs. 2 ZPO sollte die Verkündung des Urteils durch dessen Zustellung ersetzt werden. 3.3. Vorschlag nur für die dritte Instanz Das Bundesarbeitsgericht sollte auch ohne Zustimmung der Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, das heißt im schriftlichen Verfahren treffen können. 4. Vereinbarkeit der Vorschläge im Arbeitsgerichtsprozess mit den Verfahrensgrundsätzen Wie oben unter 2.1 erläutert, gelten im arbeitsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich die Prozessmaximen des Zivilverfahrens. Die Verfahrensgrundsätze stellen die übergeordneten Leitlinien dar, nach denen der Gesetzgeber das gerichtliche Verfahren ausgerichtet hat. Die Verfahrensgrundsätze ergeben sich teilweise aus dem Grundgesetz (GG); zu diesen sogenannten Justiz- oder Verfahrensgrundrechten gehören etwa das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).38 Für die Zivilgerichtsbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zudem den allgemeinen Justizgewährungsanspruch entwickelt.39 Ferner vermittelt Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) das Recht auf ein faires Verfahren. Der Ablauf des Verfahrens wird darüber hinaus unter anderem durch die Verfahrensgrundsätze der Öffentlichkeit , der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit bestimmt. 4.1. Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beinhaltet einerseits formelle Gewährleistungen. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann. Vor diesem Hintergrund müssen sich die jeweiligen Zuständigkeiten möglichst eindeutig aus allgemeinen Normen ergeben. Die sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit der Gerichte ist durch Gesetz zu regeln. Seitens der Gerichte sind die Zuständigkeiten der jeweiligen Spruchkörper und ihre Zusammensetzung sowie die Mitwirkung der einzelnen Richter ebenso im Voraus generell-abstrakt festzulegen (durch Geschäftsverteilungs- und Mitwirkungspläne ).40 38 Fritzsche-Brandt, JA 2009, S. 625; Schreiber, Jura 2007, S. 500. 39 Siehe hierzu noch unter 4.2. 40 BVerfG, Kammerbeschluss vom 20. Februar 2018 - 2 BvR 2675/17 -, Rn. 16 f. mwN, (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 14 Darüber hinaus hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt, der das Recht auf einen unabhängigen und unparteilichen Richter garantiert. Die sachliche Unabhängigkeit der Richter wird durch die in Art. 97 Abs. 1 GG ausgesprochene Weisungsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert und mit der in Art. 97 Abs. 2 GG gewährleisteten persönlichen Unabhängigkeit durch prinzipielle Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit abgesichert.41 Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisierte in seinen Stellungnahmen zu dem richterlichen Entwurf42 sowie zum Entwurf des Sozialschutz-Pakets II43, dass die Zuschaltung ehrenamtlicher Richter per Bild- und Tonübertragung das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletze. Die Regelung, dass sich ehrenamtliche Richter anders als der Vorsitzende an einem anderen Ort aufhalten und an der mündlichen Verhandlung mittels Bildund Tonübertragung beiwohnen können, findet sich auch in § 114 Abs. 1 ArbGG. Eine bloße Teilnahme der ehrenamtlichen Richter per Videozuschaltung an mündlichen Verhandlungen , Beratungen und Abstimmungen werde dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichstellung mit Berufsrichtern nicht gerecht, so der DGB. Das Gericht müsse sich als Einheit ein Bild von der mündlichen Verhandlung machen können und jederzeit reagieren und interagieren können. In der Verhandlung komme es auf die Wahrnehmung von Zwischentönen im persönlichen Kontakt an und auch die ehrenamtlichen Richter müssten in der Lage sein, feine Nuancen in der mündlichen Verhandlung wahrzunehmen. Dazu gehöre ebenso das uneingeschränkte Recht der ehrenamtlichen Richter, auf jede Situation in der mündlichen Verhandlung mit angemessenen Fragen reagieren zu können. Nur so werde nach Ansicht des DGB dem Prinzip der Unmittelbarkeit und dem verfassungsrechtlich garantierten Recht auf den gesetzlichen Richter und auf rechtliches Gehör Genüge getan. Soweit ersichtlich und hier bekannt, wurde eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter durch die Regelung mit Ausnahme des DGB weder in den sonstigen Stellungnahmen zu dem Gesetzentwurf oder dem Eckpunktepapier noch in der juristischen Literatur thematisiert. Auch nach hiesiger Auffassung dürfte die Teilnahme der ehrenamtlichen Richter von einem anderen Ort im Wege der Bild- und Tonübertragung nicht gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen. Es würden weder die Zuständigkeiten der betreffenden Richter noch deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beeinflusst. Da sich nach dem Eckpunktepapier und dem richterlichen Gesetzentwurf auch die Parteien an anderen Orten aufhielten und dort Verfahrenshandlungen vornehmen könnten, wären in diesen Fällen auch die Berufsrichter auf den Eindruck und die Kommunikation im Rahmen der Bild- und Tonübertagung beschränkt. Darüber hinaus 41 BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2012 - 2 BvR 610/12 -, Rn. 12 (zitiert nach juris). 42 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Referentenentwurf der Bundesregierung Gesetz zur Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 25.3.2020, 11. April 2020, https://www.dgb.de/downloadcenter/++co++36ed067c-7e53-11ea-824b-52540088cada, (zuletzt abgerufen am 2. Juni 2020). 43 DGB, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 11. Mai 2020 zum a) Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) - BT-Drs. 19/18966 - und weiteren Anträgen, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 19(11)637 vom 7. Mai 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 15 sollten nach den Vorschlägen auch die ehrenamtlichen Richter ein Recht zur persönlichen Anwesenheit im Sitzungssaal haben, sofern sie die erforderliche technische Ausstattung nicht in zumutbarer Weise beschaffen könnten. Ein faktischer Ausschluss von der mündlichen Verhandlung aufgrund fehlender technischer Ausrüstung wäre somit nicht gegeben. Im Übrigen obläge dem Vorsitzenden die ordnungsgemäße Führung der mündlichen Verhandlung auch bei einer Übertragung per Videotechnik. Ferner sollte die Anordnung der Videokonferenz nach dem Eckpunktepapier im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegen. Bei der Ermessensausübung wäre auch zu prüfen, ob die Bild- und Tonübertragung im konkreten Einzelfall geeignetes Mittel für die Durchführung der mündlichen Verhandlung wäre. 4.2. Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes auch in Hinblick auf die Zivilgerichtsbarkeit ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaats . Das Grundgesetz garantiere Rechtsschutz vor den Gerichten nicht nur gemäß Art. 19 Abs. 4 GG als Rechtsschutz gegen die vollziehende Gewalt, sondern umfassend darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Dieser sei Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG. Die grundgesetzliche Garantie des Rechtsschutzes umfasse demnach den Zugang zu den Gerichten, die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung.44 Hiervon erfasst werde auch der Anspruch auf Gerichtsschutz in angemessener Zeit.45 Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Bei deren Ausgestaltung steht dem Gesetzgeber grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Er hat einen Regelungsspielraum in Bezug auf die zuständige Gerichtsbarkeit sowie die Form und das Verfahren des Rechtsschutzbegehrens (Formen, Fristen, Parteiund Prozessfähigkeit, Prozessvertretung, Rechtsschutzbedürfnis, Prozesskostenregelung). Der Justizgewährungsanspruch garantiert weder eine bestimmte Besetzung der Gerichte noch die Einrichtung von Rechtsmittelverfahren.46 Der Gesetzgeber kann auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken . Solche Einschränkungen müssen mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung vereinbar sein und dürfen den einzelnen Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten . Darin findet die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers ihre Grenze. Der Rechtsweg darf 44 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02-, NJW 2003, S. 1924; BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 1992 - 1 BvL 1/89 -, Rn. 28 (zitiert nach juris); vgl. für das arbeitsgerichtliche Verfahren BAG, Beschluss vom 22. Juli 2008 - 3 AZN 584/08 (F) -, Rn. 19 (zitiert nach juris). 45 BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2009 - 1 BvR 2662/06 -, Rn. 20 (zitiert nach juris). 46 Papier in: Handbuch des Staatsrechts VIII, 3. Auflage 2010, § 176, Rn. 15 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 16 nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden .47 Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf gerichtliche Gebührenregelungen ausgeführt , dass eine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten nicht nur dann vorliegen könne, wenn das Kostenrisiko die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen übersteige , sondern auch, wenn es zu dem mit dem Verfahren angestrebten wirtschaftlichen Erfolg derart außer Verhältnis stehe, dass die Anrufung der Gerichte nicht mehr sinnvoll erscheine.48 Die Möglichkeit des Gerichts, die mündliche Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung verpflichtend anzuordnen, setzt nach dem Entwurf voraus, dass die Prozessbeteiligten die technischen Voraussetzungen hierfür in zumutbarer Weise schaffen können. Diese Formulierung greift die Zumutbarkeitsgrenze auf; die Prüfung im Einzelfall obliegt dem Gericht. Vor diesem Hintergrund dürfte die Möglichkeit der Anordnung einer Videokonferenz kein unzumutbares Hemmnis für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes darstellen. Da der Justizgewährungsanspruch keinen Anspruch auf eine bestimmte Verfahrensart gibt, gilt Gleiches für die Möglichkeit der Anordnung des schriftlichen Verfahrens durch das Bundesarbeitsgericht. Ergänzend wird darauf verwiesen, dass eine bereits angemerkte Ausprägung des Justizgewährungsanspruchs der Anspruch auf Gerichtsschutz in angemessener Zeit ist und die Vorschläge zu einer Verkürzung der Verfahrensdauer führen können. 4.3. Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) Das Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG steht in einem funktionalen Zusammenhang mit dem Justizgewährungsanspruch.49 Während der Justizgewährungsanspruch den Zugang zum Verfahren sichert, zielt das Recht auf rechtliches Gehör auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens: Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden, so das Bundesverfassungsgericht.50 Beide Prozessgrundrechte dienen jeweils der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes. Das Gebot der Effektivität gilt danach nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht, sondern auch für das Recht, im Verfahren gehört zu werden.51 Die Gewährung rechtlichen Gehörs ist für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar. Die Beteiligten sollen nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor der Entscheidung zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sichert den Beteiligten das Recht auf Information, das Recht auf Stellungnahme und das Recht auf 47 BVerfG, Beschluss vom 2. März 1993 - 1 BvR 249/92 -, Rn. 21 (zitiert nach juris). 48 BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 1992 - 1 BvL 1/89 -, Rn. 33 (zitiert nach juris). 49 BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2007 - 1 BvR 782/07 -, Rn. 13 (zitiert nach juris). 50 BVerfG, Beschluss vom 14. März 2007 - 1 BvR 2748/06 -, Rn. 7 (zitiert nach juris). 51 BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2006 - 1 BvR 2304/05 -, Rn. 12 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 17 Berücksichtigung der vorgetragenen Gesichtspunkte, sodass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können.52 Die nähere Ausgestaltung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bleibt grundsätzlich den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen. Dabei können die einfachrechtlichen Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs über das spezifisch verfassungsrechtlich gewährleistete Ausmaß hinausreichen . Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen , das sachangemessen ist, um dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden.53 Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Grenze dort, wo das rechtliche Gehör in unzumutbarer Weise erschwert wird.54 Genügt das einfache Verfahrensrecht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG nicht, so folgt das Recht auf Gehör unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht leitet daher aus Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung Anhörungspflichten dann her, wenn die einschlägige Verfahrensordnung das durch die Verfassung gewährleistete Minimum an rechtlichem Gehör nur unzureichend gewährleiste.55 Den Parteien ist Gelegenheit zu geben, umfänglich zum Sachverhalt und zu ihren Rechtsauffassungen vorzutragen und sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Art. 103 Abs. 1 GG begründet keinen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung oder persönliche Anhörung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll. Soweit das Gesetz keine verbindliche Entscheidung treffe, läge die Form der Anhörung grundsätzlich im Ermessen des Gerichts.56 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist das Anhörungsrecht des Betroffenen grundsätzlich auch im schriftlichen Verfahren gewahrt.57 Hat jedoch eine mündliche Verhandlung aufgrund einfachgesetzlicher Vorschriften stattzufinden, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung durch das Gericht.58 52 BVerfG, Beschluss vom 19. Januar 2006 - 2 BvR 1075/05 -, Rn. 24 (zitiert nach juris). 53 BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2007 - 1 BvR 782/07 -, Rn. 13 (zitiert nach juris). 54 Degenhart in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 103, Rn. 12. 55 BVerfG, Beschluss vom 09. Februar 1982 - 1 BvR 191/81 -, Rn. 27 (zitiert nach juris); BVerfG, Beschluss vom 1. Februar 1967 - 1 BvR 630/64 -, Rn. 13 (zitiert nach juris); Burghart in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 79. Lieferung Oktober 2019, Art. 103, Rn. 72. 56 BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2014 - 2 BvR 792/11 -, Rn. 8 (zitiert nach juris); BVerfG vom 8. Februar 1994 - 1 BvR 765/89 -, Rn. 32 (zitiert nach juris). 57 BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1960 - 2 BvR 37/60 -, Rn. 6 (zitiert nach juris); Burghart in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 79. Lieferung 10.2019, Art. 103, Rn. 458. 58 BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2015 - 1 BvR 366/15 -, Rn. 7 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 18 Die Beteiligten sind durch das Gericht so zu informieren, dass sie ihr Äußerungsrecht vollständig und effektiv wahrnehmen können.59 Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht ist zwar nicht gehalten, jedes Vorbringen in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Das zentrale Vorbringen der Parteien muss aber erkennbar verarbeitet sein.60 Eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch die Vorschläge ist nicht erkennbar. Den Parteien würde durch die Anordnung des Einsatzes von Videokonferenztechnik oder des schriftlichen Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht grundsätzlich nicht die Möglichkeit des Vortrags vor dem erkennenden Gericht genommen. Auch eine Einschränkung der Informationsrechte der Parteien und Berücksichtigungspflichten des Gerichts wäre nicht ersichtlich. Dem Gericht würde ein Ermessen hinsichtlich der Anordnung einer Videokonferenz oder des schriftlichen Verfahrens eingeräumt. In diese Abwägungsentscheidung wären wiederum die Eignung des Sachverhaltes für ein solches Verfahren und das mögliche Erfordernis des persönlichen Eindrucks einzustellen.61 Die verpflichtende Anordnung des Gerichts einer Videokonferenz würde nach den Vorschlägen voraussetzen, dass die Prozessbeteiligten die technischen Voraussetzungen hierfür in zumutbarer Weise schaffen können. Hierdurch soll in jedem Einzelfall eine unzumutbare Erschwerung der Gewährung rechtlichen Gehörs vermieden werden. 4.4. Grundsatz der Öffentlichkeit 4.4.1. Öffentlichkeit als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips Gemäß § 52 Satz 1 ArbGG ist die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Beweisaufnahme und der Verkündung der Entscheidung öffentlich. Das Grundgesetz ordnet die Öffentlichkeit mündlicher Gerichtsverhandlungen nicht ausdrücklich an.62 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der in § 169 GVG enthaltene Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen jedenfalls ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und entspricht dem allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie. Der 59 Remmert in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 89. EL Oktober 2019, Art. 103 Abs. 1, Rn. 79 f. 60 BVerfG, Beschluss vom 9. März 2015 - 1 BvR 2819/14 -, Rn. 15 (zitiert nach juris); Rauscher in: Münchener Kommentar zur ZPO, Einleitung, Rn. 250. 61 Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128a, Rn. 6; Leopold, NZS 2013, S. 847, 852 f. 62 In der Literatur ist umstritten, inwieweit dem Öffentlichkeitsgrundsatz dennoch Verfassungsrang zukommt (siehe hierzu von Coelln in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand : 58. EL Januar 2020, § 17a, Rn. 9). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 19 Verfassungsgrundsatz der Öffentlichkeit gilt danach aber nicht ausnahmslos. Die Öffentlichkeit könne aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls auch dort ganz oder teilweise ausgeschlossen werden, wo sie nach der Verfassung grundsätzlich geboten sei.63 Die Verfassungsgrundsätze des Rechtsstaats und der Demokratie bedürften näherer Ausformung durch das Gesetz, so das Bundesverfassungsgericht weiter. Dies gelte auch für die Bestimmung der Voraussetzungen und Modalitäten der Gerichtsöffentlichkeit. Der Gesetzgeber müsse bei der Ausgestaltung der Gerichtsöffentlichkeit deren Funktion sowie unterschiedliche Interessen berücksichtigen . Dabei sei auch zu beachten, dass Prozesse in der, aber nicht für die Öffentlichkeit stattfinden. Die Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen solle zur Gewährleistung von Verfahrensgerechtigkeit beitragen, wobei die Information über das Geschehen Voraussetzung einer Kontrolle in Verfolgung dieses Zweckes sei.64 Das Bundesverfassungsgericht betont, dass einer unbegrenzten Öffentlichkeit der Verhandlungen vor dem erkennenden Gericht gewichtige Interessen gegenüber stehen. Zu den entgegenstehenden Belangen gehören zum Beispiel das Persönlichkeitsrecht der am Verfahren Beteiligten (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG), der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege , insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung. Das Gerichtsverfassungsrecht berücksichtige gegenläufige Belange durch Ausnahmen von dem Grundsatz der Öffentlichkeit, die allgemein bestehen oder im Einzelfall vorgesehen werden können (vgl. § 169 Satz 2, §§ 170 ff. GVG, § 48 Jugendgerichtsgesetz).65 Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist in § 169 GVG nur als Öffentlichkeit im Raum der Gerichtsverhandlung vorgesehen.66 Eine derart beschränkte Öffentlichkeit genüge dem rechtsstaatlichen Interesse der öffentlichen Kontrolle des Gerichtsverfahrens sowie dem im Demokratieprinzip verankerten Grundsatz der Zugänglichkeit von Informationen.67 Öffentlich im Sinne des § 52 ArbGG beziehungsweise § 169 GVG ist eine Verhandlung, wenn beliebigen natürlichen Personen die Möglichkeit eröffnet wird, an der für Prozessparteien anberaumten mündlichen Verhandlung, an einer Beweisaufnahme und an der Verkündung der Entscheidung teilzunehmen. Es genügt, wenn der Ort des Geschehens frei zugänglich ist und der 63 BVerfG, Urteil vom 24. Januar 2001 - 1 BvR 2623/95 -, Rn. 66 (zitiert nach juris); BVerfG, Beschluss vom 14. März 2012 - 2 BvR 2405/11 -, Rn. 32 f. (zitiert nach juris). Nach früherer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien die Prinzipien der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung keine Verfassungsrechtsgrundsätze , sondern Prozessrechtsmaximen, die bestimmte Verfahrensarten beherrschten (BVerfG vom 7. März 1963 - 2 BvR 629/62 -, Rn. 9 [zitiert nach juris]). 64 BVerfG, Urteil vom 24. Januar 2001 - 1 BvR 2623/95 -, Rn. 68 (zitiert nach juris). 65 BVerfG, Urteil vom 24. Januar 2001 - 1 BvR 2623/95 -, Rn. 69 (zitiert nach juris). 66 BVerfG, Urteil vom 24. Januar 2001 - 1 BvR 2623/95 -, Rn. 70 (zitiert nach juris). 67 BVerfG, Urteil vom 24. Januar 2001 - 1 BvR 2623/95 -, Rn. 71 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 20 Termin für jedermann zugänglich bekannt gemacht ist.68 Eine Verhandlung kann daher auch im Dienstzimmer des Vorsitzenden stattfinden, wenn dieses die Teilnahme von Zuhörern ermöglicht .69 Dies bedeutet allerdings nicht, dass jedem Interessierten Zugang zu einer Verhandlung gewährt werden müsste. Vielmehr ist es ausreichend, wenn die Möglichkeit der Teilnahme als Zuhörer im Rahmen der zur Verfügung stehenden räumlichen Kapazitäten gewährt wird.70 Der Bundesgerichtshof (BGH) verweist darauf, dass selbst Teile eines Sitzungssaals für Zuhörer unzugänglich bleiben und deshalb Interessenten abgewiesen werden können, ohne dass dadurch notwendig Grundsätze zur Gewährleistung der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen verletzt werden. Vielmehr sei bei der Entscheidung des Gerichts über den Umfang einer im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse erforderlichen faktischen Begrenzung der Öffentlichkeit auch die Notwendigkeit einer geordneten und ungestörten Durchführung der Verhandlung zu berücksichtigen . Ebenso wichtig wie die Kontrolle der Gerichtsverhandlung durch die Öffentlichkeit ist, dass die äußere Ordnung des Verhandlungsablaufs durch die Öffentlichkeit unbeeinträchtigt bleibt.71 4.4.2. Öffentlichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK Die EMRK steht innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundgesetz. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus Art. 1 Abs. 2, 59 Abs. 2 GG jedoch die Pflicht, die EMRK und ihre Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes als Auslegungshilfe heranzuziehen. Hieraus folge zwar kein unmittelbarer Verfassungsrang der Konvention ; auch verlange die Heranziehung der Konvention als Auslegungshilfe keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit deren Gewährleistungen, sondern nur ein Aufnehmen von deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar sei.72 Gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen und unparteiischen , auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden. Die Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der 68 Rieker in: Natter/Gross, Arbeitsgerichtsgesetz, 2. Auflage 2013, § 52, Rn. 4. 69 BAG, Beschluss vom 22. September 2016 - 6 AZN 376/16 -, Rn. 6 (zitiert nach juris); Hamacher in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition, Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 52, Rn. 8. 70 Walther in: Graf, Beck’scher Online-Kommentar GVG, 7. Edition, Stand: 1. Februar 2020, § 169, Rn. 7. 71 Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 10. Januar 2006 - 1 StR 527/05, NJW 2006, S. 1220, 1221. 72 BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 58 mwN (zitiert nach juris); BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2014 - 2 BvR 792/11 -, Rn. 18 (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 21 Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens ein in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerter, fundamentaler Grundsatz. Diese Öffentlichkeit solle den Einzelnen vor einer geheimen Justiz schützen, die sich der öffentlichen Kontrolle entziehe und sei damit eines der Mittel, mit denen das Vertrauen in die Gerichte gewahrt werde. Indem sie die Rechtspflege transparent mache, trage sie dazu bei, das Ziel von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu erreichen: ein faires Verfahren, dessen Garantie einer der fundamentalen Grundsätze jeder demokratischen Gesellschaft sei.73 Bereits nach dem Wortlaut hindere Art. 6 Abs. 1 EMRK die Gerichte jedoch nicht daran, angesichts der Besonderheiten des betreffenden ihnen vorgelegten Falles von diesem Grundsatz abzuweichen . Bei einem ganz oder teilweise geschlossenen Verfahren müssten daher die Umstände des Falles strikt beachtet werden. Auch verlange Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht notwendigerweise eine Anhörung in allen Verfahren. Dies gelte insbesondere für Fälle, die keine Fragen bezüglich der Glaubwürdigkeit oder Kontroversen über den Sachverhalt aufwerfen und deshalb einer Anhörung bedürften, und bei denen die Gerichte auf der Grundlage der Vorträge der Parteien und anderer Beweisstücke fair und angemessen entscheiden könnten. Demnach gewähre Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht immer ein Recht auf eine öffentliche Verhandlung. Andere Erwägungen, einschließlich des Rechts auf ein Urteil innerhalb einer angemessenen Frist und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer zügigen Bearbeitung der terminierten Fälle, seien für die Entscheidung, ob öffentliche Verhandlungen erforderlich sind, zu berücksichtigen.74 4.4.3. Vereinbarkeit der Vorschläge mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit 4.4.3.1. Ausschluss der Öffentlichkeit bei mündlicher Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung Wie unter 3.1 dargestellt, sehen die Vorschläge unter anderem für alle Instanzen vor, dass die Verhandlung nicht öffentlich sei, falls sie im Wege der erweiterten Bild- und Tonübertragung erfolge . Ein so erfolgender genereller Ausschluss der Öffentlichkeit kraft Gesetzes könnte im Hinblick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz problematisch sein. Der Einsatz der Bild- und Tonübertragung im Rahmen der mündlichen Verhandlung nach § 128a ZPO gewährt - wie oben unter 2.2.4 dargelegt - eine öffentliche Verhandlung, sofern sich das erkennende Gericht weiterhin in einem der interessierten Öffentlichkeit zugänglichen Gerichtssaal befindet, in dem zumindest die Möglichkeit besteht, die Tonübertragung wahrzunehmen. Gleiches dürfte gelten, wenn auch die ehrenamtlichen Richter via zeitgleicher Bild- und Tonübertragung von einem anderen Ort aus an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, während der Vorsitzende sich bei der Gerichtsstelle befindet. 73 EGMR, Urteil vom 29 Oktober 1991 - Nr. 22/1990/213/275, NJW 1992, S. 1813. 74 EGMR, Urteil vom 2. Oktober 2018 - 40575/10, 67474/10 -, BeckRS 2018, 13523, Rn. 175 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 22 Zwar sind Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR zulässig und auch in § 52 ArbGG und §§ 169 ff. GVG in bestimmten Fällen gesetzlich vorgesehen; Art. 6 Abs. 1 EMRK lässt gleichfalls Ausnahmen ausdrücklich zu. Aufgrund der Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes als Teil des Rechtsstaatsprinzips bedarf es für einen Ausschluss jedoch grundsätzlich einer Abwägung der widerstreitenden Interessen. Die Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes soll vorliegend sowohl dem Gesundheits- und Lebensschutz (Art. 2 Abs. 2 GG) als auch der Gewährung von effektivem Rechtsschutz in angemessener Zeit (Justizgewährungsanspruch) und der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege dienen . Die Abhaltung von Gerichtsverfahren im Wege der Bild- und Tonübertragung unter Ausschluss der Öffentlichkeit wären grundsätzlich auch geeignet, die Kontakte zwischen den Verfahrensbeteiligten und damit auch deren Ansteckungsgefahr zu reduzieren. Prozesstermine könnten so auch bei weitgehenden Kontakteinschränkungen stattfinden. Fraglich erscheint jedoch, ob der generelle gesetzliche Ausschluss der Öffentlichkeit erforderlich ist oder ob Gesundheitsschutz und Sicherung der Funktionalität der Gerichte nicht durch alternative Maßnahmen erreicht werden könnten. In den Stellungnahmen zu den Entwürfen des Sozialschutz-Paketes II wird darauf hingewiesen, dass es mildere Mittel zur Gewährleistung des Infektionsschutzes gebe, wie zum Beispiel die Wahrung von Abstandsregeln und Einhaltung von Hygienemaßnahmen (Desinfektionsmittel, Mundschutzpflicht, Plexiglaswände zwischen Beteiligten). In diesem Zusammenhang werden auch die größeren Sitzungssäle bei den obersten Bundesgerichten angeführt. In Betracht käme auch eine Terminierung nur von besonders eiligen Verfahren (zum Beispiel Kündigungsschutzund Leistungsklagen). Zur Einhaltung der Abstandsregeln sei an eine Verlegung der Sitzungen in andere öffentliche Gebäude zu denken. Auch bliebe die Möglichkeit, einen Teil der für die Öffentlichkeit vorgesehenen Plätze zu sperren, um die Abstandsregeln wahren zu können. Der pauschale Ausschluss der Öffentlichkeit berücksichtige nicht die jeweils konkret vor Ort bestehenden Möglichkeiten und Notwendigkeiten.75 Dementsprechend müssten in jedem Einzelfall die 75 Sozialverband VdK Deutschland e. V., Unaufgeforderte Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 11. Mai 2020 zum a) Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) – BT-Drs. 19/18966 - und weiteren Anträgen, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 19(11)635 vom 7. Mai 2020, S. 6; Deutscher Gewerkschaftsbund, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 11. Mai 2020 zum a) Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) - BT-Drs. 19/18966 - und weiteren Anträgen, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 19(11)637 vom 7. Mai 2020, S. 2 ff.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 23 vorgenannten alternativen Möglichkeiten geprüft werden, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.76 Des Weiteren sei die Notwendigkeit der Regelungen nach den Entscheidungen der meisten Bundesländer über Lockerungen in Frage zu stellen. Den Interessen besonders gefährdeter ehrenamtlicher Richter könne im Wege der Anerkennung als Hinderungsgrund Rechnung getragen werden .77 Im Hinblick auf weiterhin geöffnete Geschäfte im Lebensmitteleinzelhandel und den laufenden öffentlichen Nahverkehr sei die Notwendigkeit eines vollständigen Ausschlusses der Öffentlichkeit nicht erkennbar und unverhältnismäßig.78 Nach anderer Auffassung hingegen könnte es für Beteiligte (Parteien und Richter) schwierig oder sogar unzumutbar sein, die oft längere Anreise zum Gerichtsort mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen und sich in der Verhandlung einer Situation auszusetzen, bei der eine größere Zahl von Personen in oft beengten Gerichtssälen zusammenkomme, um dort auf engem Raum zu kommunizieren. Des Weiteren müsse zur Einhaltung von Abstandsregeln häufig auf auswärtige Räumlichkeiten ausgewichen werden, was zu einer Verzögerung der Verfahren führe.79 Dem Gesetzgeber dürfte wegen der unsicheren Tatsachengrundlage und der ständigen Weiterentwicklung der Erkenntnisse über die Pandemie zwar ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Erforderlichkeit der Regelung zustehen.80 Insgesamt erscheint jedoch die Verhältnismäßigkeit eines generellen Ausschlusses der Öffentlichkeit kraft Gesetzes bei einer erweiterten Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung fraglich. 76 Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG) vom 16. April 2020, S. 3, https://www.brak.de/w/files/newsletter_archiv/berlin/2020/2020_142anlage.pdf (zuletzt abgerufen am 28. Mai 2020). 77 Dr. Christian Mecke (Richter am Bundessozialgericht [BSG]), Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 11. Mai 2020 zum a) Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) - BT-Drs. 19/18966 - und weiteren Anträgen, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 19(11)652 vom 7. Mai 2020, S. 3. 78 Stellungnahme des Bundesverbandes der Rentenberater vom 16. April 2020, S. 3; ebenso Stellungnahmen der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen vom 16. April 2020, S. 2 und des Deutschen Sozialgerichtstages vom 16. April 2020, S. 3. 79 Prof. Dr. Rainer Schlegel (Präsident des BSG) / Ingrid Schmidt (Präsidentin des BAG), Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 11. Mai 2020 zum a) Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) - BT-Drs. 19/18966 - und weiteren Anträgen, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 19(11)646 vom 7. Mai 2020, S. 1, 3 f. 80 Allgemein hierzu: Klatt/Meister, JuS 2014, S. 193, 195. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 24 Zwar sehen die Vorschläge eine Ermessensentscheidung des Gerichts im Einzelfall über die Durchführung der Verhandlung ausschließlich im Wege der erweiterten Bild- und Tonübertragung vor. Somit kann das Gericht die - im jeweiligen Einzelfall wohlmöglich unterschiedlich stark zu berücksichtigenden - dargestellten, widerstreitenden Aspekte in seine Entscheidungsfindung einbeziehen. Durch die nach den Vorschlägen gesetzlich abstrakt vorgegebene Nichtöffentlichkeit der Verhandlung wäre jedoch eine im Einzelfall nähere Differenzierung nicht möglich. Auch das jeweilige lokale, regionale oder auch bundesweite aktuelle Infektionsgeschehen und angeordnete Maßnahmen sowie der konkret erforderliche Gesundheitsschutz der Verfahrensbeteiligten könnten so nicht berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund und auch vor den übrigen gegen die Verhältnismäßigkeit vorgebrachten Argumenten erscheint ein genereller Ausschluss der Öffentlichkeit kraft Gesetzes fraglich. Das Argument der weitestgehenden Geltung des Justizgewährungsanspruchs und Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege unter Wahrung des größtmöglichen Gesundheitsschutzes bei einer Notlage erscheint jedoch ebenfalls gewichtig. Nicht zuletzt könnte die Vereinbarkeit mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz auch davon abhängen, ob und wie lange eine solche Regelung befristet wäre und in welcher epidemischen Lage das Gericht eine solche Ermessensentscheidung treffen könnte. 4.4.3.2. Zustellung des Urteils statt Verkündung Das Eckpunktepapier sowie der richterliche Entwurf sahen ferner vor, dass bei einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren in der zweiten und dritten Instanz die Verkündung des Urteils durch seine Zustellung ersetzt werden sollte. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK bestimmt, dass auch das Urteil öffentlich verkündet werden muss. Hierbei dürfte die Zustellung des Urteils statt dessen Verkündung nach Anordnung des schriftlichen Verfahrens mit Einverständnis der Parteien im Spiegel der Rechtsprechung unbedenklich sein. Denn gemäß § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO erklären die Parteien durch ihre Zustimmung zum schriftlichen Verfahren explizit, dass sie auf eine mündliche Verhandlung verzichten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des Bundesgerichtshofs verstößt die Zustellung des Urteils in diesem Sinn nicht gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK, wenn die Parteien dem schriftlichen Verfahren zugestimmt haben.81 Die Bestimmung dürfe nicht isoliert betrachtet werden, sondern müsse in Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK („Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten […] in einem fairen Verfahren, öffentlich […] verhandelt wird.“) gesehen und unter Berücksichtigung der Zwecke der Konvention ausgelegt werden , so der Bundesgerichtshof. Die öffentliche Verhandlung sei nicht schlechthin erforderlich, sondern könne auch durch ein anderes Verfahren ersetzt werden, wenn dieses in „billiger Weise“ den Interessen der Beteiligten Rechnung trage. Hätten die Parteien es in der Hand, auf die öffentliche Verhandlung zu verzichten, um auf anderem Wege „in billiger Weise“ auf zu der von ihnen 81 BVerwG, Beschluss vom 10. Juni 1994 - 6 B 45/93 -; Beschluss vom 8. Juli 2008 - 8 B 29/08; BGH, Urteil vom 27. Juni 1957 – III ZR 51/56 -, NJW 1957, S. 1480; vgl. auch BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2019 - Anwz (Brfg) 50/19 -, Rn. 55 f. (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 25 erstrebten Entscheidung zu kommen, entfalle mit der öffentlichen Verhandlung auch die Grundlage für die Notwendigkeit einer öffentlichen Urteilsverkündung.82 Ein Verzicht auf die mündliche Behandlung beinhalte grundsätzlich auch den Verzicht auf die Verkündung der Entscheidung .83 Nach den Vorschlägen des Eckpunktepapiers und des richterlichen Entwurfs sollte das drittinstanzliche Bundesarbeitsgericht jedoch auch ohne Zustimmung der Parteien in das schriftliche Verfahren eintreten und dort ohne mündliche Verhandlung urteilen können. Somit hätten die Parteien dort nicht selber auf eine mündliche Verhandlung verzichtet. Der EGMR hat im Zusammenhang mit Revisionsverfahren darauf hingewiesen, dass die Gesetzessysteme und Gerichtspraktiken der Mitgliedstaaten des Europarates, obwohl sie alle das Prinzip der öffentlichen Verkündung von Urteilen kennten, eine gewisse Unterschiedlichkeit bezüglich des Ausmaßes und der Bedingungen dieser Öffentlichkeit aufwiesen, sei es im Hinblick auf die Verhandlung oder die Verkündung von Urteilen und Entscheidungen. Dabei sei jedoch der formelle Aspekt der Frage nur zweitrangig im Hinblick auf die Ziele der in Art. 6 Abs. 1 EMRK angestrebten Öffentlichkeit. Vielmehr seien ob der herausragenden Stellung, die das Recht auf ein billiges Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnehme, die tatsächlichen Gegebenheiten des in Frage stehenden Verfahrens zu prüfen. Neben der öffentlichen Verlesung des Urteils sähen zahlreiche Mitgliedstaaten seit langem andere Mittel der Veröffentlichung von Entscheidungen ihrer Gerichte oder einiger ihrer Gerichte, insbesondere ihrer Revisionsgerichte vor, zum Beispiel die Hinterlegung bei einer der Öffentlichkeit zugänglichen Kanzlei. Die Form der Veröffentlichung müsse daher im Lichte der Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens beurteilt werden .84 Die Öffentlichkeit der Verkündung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK könnte demnach etwa auch durch die Veröffentlichung von Kopien oder die Zugänglichmachung des Urteils durch Einsichtnahme erreicht werden. Dabei sollen auch Anonymisierungen möglich sein.85 82 BGH, Urteil vom 27. Juni 1957 – III ZR 51/56 -, NJW 1957, S. 1480, 1480. 83 BVerwG, Beschluss vom 10. Juni 1994 - 6 B 45/93 -, Rn. 6 (zitiert nach juris); BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 2008 - 8 B 29/08 -, Rn. 6 (zitiert nach juris). 84 EGMR, Urteil vom 8. Dezember 1983 - 3/1982/49/78 -, NJW 1986, S. 2177, 2178; EGMR, Urteil vom 17. Januar 2008 - 14810/02 -, NJW 2009, S. 2873 (mwN); siehe auch Meyer in: Karpenstein/Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EMRK, 2. Auflage 2015, Art. 6, Rn. 71; Gaede in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2018, EMRK Art. 6, Rn. 122. 85 EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2013 - 20.688/04 - (zitiert nach Kieber, NLMR 2013, S. 448 ff.): Sperrung einzelner Passagen aus Geheimhaltungsgründen möglich; Meyer in: Karpenstein/Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: EMRK, 2. Auflage 2015, Art. 6, Rn. 71 mwN zur Rechtsprechung; Tubis verweist in diesem Zusammenhang auf die von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ) geschützte Privatsphäre des Einzelnen als Menschenrecht. Den Parteien eines zivilrechtlichen Verfahrens stehe neben dem Recht auf eine Kontrolle der Justiz durch die Öffentlichkeit auch das Recht auf Achtung ihres Privatlebens zu. Zudem schütze Art. 6 EMRK auch den Zugang zu Gerichten. Es müsse daher möglich sein, einen privatrechtlichen Streit vor einem staatlichen Gericht auszutragen ohne sich der Gefahr auszusetzen, private oder geschäftliche Details der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 26 Laut EGMR ist es dabei nicht ausreichend, wenn grundsätzlich nur die Verfahrensbeteiligten das in der Geschäftsstelle niedergelegte vollständige Urteil mit Begründung einsehen könnten.86 Zwar kann Dritten nach § 299 Abs. 2 ZPO ohne Einwilligung der Parteien die Einsicht in die Prozessakten nur gestattet werden, wenn ein berechtigtes Interesse glaubhaft gemacht wird. Nach jüngerer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs87 unterfällt jedoch die Erteilung von Abschriften in anonymisierter Form weder direkt noch analog § 299 Abs. 2 ZPO. Es bestehe hier ein sachlicher Unterschied; die Gerichtsakten enthielten personenbezogene Daten der Parteien und anderer Beteiligter. Die Gewährung von Akteneinsicht stelle somit einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung dar. Die anonymisierte Entscheidungsabschrift hingegen sei kein Aktenbestandteil , sondern nur ein Auszug, bei dem essentielle Teile der Entscheidung, nämlich die Namen der Beteiligten und gegebenenfalls weitere individualisierende Merkmale fehlten. Der Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen sei dagegen - wie das Verfahren generell (§§ 169, 173 GVG) - öffentlich. Die Weitergabe anonymisierter Entscheidungsabschriften an Dritte sei daher kein Fall der Akteneinsicht, sondern eine Auskunftsbitte eigener Art und Teil der öffentlichen Aufgabe der Gerichte, Entscheidungen zu veröffentlichen.88 Aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folge grundsätzlich eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen.89 Diese Publikationspflicht habe ihre Grundlage auch in dem leitenden Grundsatz des Prozessrechts der Öffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen und Urteilsverkündungen.90 Die Befugnis zur Weitergabe von Urteilen und Beschlüssen beschränke sich daher nicht auf Entscheidungen, die nach Ansicht des betreffenden Gerichts veröffentlichungswürdig seien, zumal entsprechende Anfragen aus der Öffentlichkeit regelmäßig ein öffentliches Interesse belegten.91 Vor diesem Hintergrund dürften die Vorschläge, bei einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren in der zweiten und dritten Instanz die Verkündung des Urteils durch Zustellung zu ersetzen zumindest dann keinen größeren Bedenken entgegenstehen, wenn für die Öffentlichkeit grundsätzlich die Möglichkeit zur Einsichtnahme oder des Erhalts einer Abschrift der Entscheidung in anonymisierter Form gegeben ist. 86 EGMR, Urteil vom 17. Januar 2008 - 14810/02 -, NJW 2009, S. 2873, 2874 f. 87 BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR (VZ) 2/16 - (zuvor strittig, siehe die Nachweise Rn. 12 des Beschlusses ). 88 BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR (VZ) 2/16 -, Rn. 14 f. (zitiert nach juris). 89 BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR (VZ) 2/16 -, Rn. 16 (zitiert nach juris); siehe hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 14. September 2015 - 1 BvR 857/15 -; BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1997 - 6 C 3/96 -. 90 BVerfG, Beschluss vom 14. September 2015 - 1 BvR 857/15 -, Rn. 16, 20 ff. (zitiert nach juris); BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR (VZ) 2/16 -, Rn. 16 (zitiert nach juris); BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1997 - 6 C 3/96 -, Rn. 26 ff. (zitiert nach juris). 91 BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - IV AR (VZ) 2/16 -, Rn. 16 (zitiert nach juris); BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1997 - 6 C 3/96 -, Rn. 29. (zitiert nach juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 27 4.5. Grundsatz der Mündlichkeit Der Mündlichkeitsgrundsatz hat zum Inhalt, dass ohne mündliche Verhandlung das Gericht keine Entscheidung erlassen und Entscheidungsgrundlage nur der Prozessstoff sein darf, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.92 Die Mündlichkeit der Verhandlung wird als solche verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Der Grundsatz der Mündlichkeit kann sich jedoch mittelbar aus Verfassungsrechten ergeben, insbesondere der Garantie effektiven Rechtsschutzes oder des Justizgewährungsanspruchs (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG). So lässt sich grundsätzlich das Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlung letztlich wohl nur durch ein mündliches Verfahren praktikabel umsetzen.93 Insofern dürfte der Mündlichkeitsgrundsatz nicht gänzlich zur Disposition des Gesetzgebers stehen.94 Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person unter anderem das Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche öffentlich verhandelt wird, und damit regelmäßig zugleich darauf, dass mündlich verhandelt wird, da Öffentlichkeit anders kaum herstellbar ist.95 Nach der ständigen, auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR entwickelten höchstrichterlichen Rechtsprechung verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass die Beteiligten im Instanzenzug mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Wurde in erster Instanz eine mündliche Verhandlung durchgeführt, kann eine mündliche Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz entbehrlich sein.96 Art. 6 EMRK schützt dabei lediglich vor der Vorenthaltung einer mündlichen Verhandlung durch das Gericht, nicht aber vor dem Verzicht auf mündliche Verhandlung durch die Parteien wie im Fall des Einverständnisses mit dem schriftlichen Verfahren .97 Wie ausgeführt ist der Grundsatz der Mündlichkeit auch bei einer mündlichen Verhandlung mittels Videokonferenztechnik grundsätzlich gewahrt.98 Soweit der Begriff der Mündlichkeit ein per- 92 BAG, Urteil vom 23. Januar 1996 - 9 AZR 600/93 -, Rn. 16 f. (zitiert nach juris); Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128, Rn. 1. 93 Von Selle in: Vorwerk/Wolf, Beck‘scher Online-Kommentar ZPO, 36. Edition, Stand: 1. März 2020, § 128, Rn. 3; Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128, Rn. 3; Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128, Rn. 3. 94 Schreiber, Jura 2007, S. 500, 502. 95 Von Selle in: Vorwerk/Wolf, Beck‘scher Online-Kommentar ZPO, 36. Edition, Stand: 1. März 2020, § 128, Rn. 4; Meyer in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Auflage 2015, Art. 6, Rn. 60. 96 BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2019 - 7 B 25/18 -, Rn. 10 (zitiert nach juris). 97 Bergner in: Schlegel/Voelzke, juris PraxisKommentar SGG, 1. Auflage, Stand: 7, Mai 2018, § 124 SGG, Rn. 7. 98 Prütting, AnwBl 5/2013, S. 330, 332. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 28 sönliches Gespräch erfordert, ist dem genügt, denn ein solches findet auch während einer Videokonferenz statt.99 Die wechselseitige visuelle und akustische Wahrnehmbarkeit gewährleiste eine der herkömmlichen mündlichen Verhandlung adäquate Verhandlungssituation.100 Die mündliche Verhandlung und das dort Vorgetragene und Erklärte bleiben auch im Falle der Videokonferenz Grundlage der Gerichtsentscheidung.101 Teilweise wird angeführt, dass zwar der Grundsatz der Mündlichkeit nach § 128 Abs. 1 ZPO im Interesse der Prozessökonomie durchbrochen werde, aber die Mündlichkeit, wie sie von der ZPO in Abgrenzung zum schriftlichen Verfahren verstanden werde, unbeeinträchtigt bleibe.102 Sei die zeitgleiche Bild- und Tonübertragung nicht möglich oder aus technischen Gründen gestört, müsse der Vorsitzende die mündliche Verhandlung unterbrechen, um einen Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit zu vermeiden und sicherzustellen, dass die Parteien weiterhin rechtliches Gehör erhielten.103 Die Zulässigkeit des konsensualen schriftlichen Verfahrens nach § 128 Abs. 2 ZPO als Durchbrechung des Mündlichkeitsgrundsatzes ist grundsätzlich bereits nach geltendem Recht anerkannt .104 Soweit das Eckpunktepapier und der richterliche Entwurf vorsahen, dass das Bundesarbeitsgericht auch einseitig, ohne Zustimmung der Parteien nach Ermessen im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, begegnet dies in der Literatur - soweit ersichtlich - keinen wesentlichen Bedenken.105 Auch der Gesetzentwurf zu § 114 ArbGG sah ursprünglich eine ähnliche Regelung vor.106 Demnach sei der Bedarf an einer mündlichen Verhandlung im Vergleich zur ersten und zweiten Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht geringer, da der Sachverhalt meist abschließend aufbereitet worden sei und damit auf dieser Grundlage nur noch über Rechtsfragen gestritten werde. Auch spielten die in einer mündlichen Verhandlung leichter zu führenden Vergleichsgespräche107 beim 99 Leopold, NZS 2013, S. 847, 850. 100 Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128a, Rn. 2. 101 Böttiger, WzS 2013, S. 263, 271. 102 Von Selle in: Beck Onlinekommentar ZPO, 36. Edition 1. März 2020, § 128a, Rn. 1 unter Hinweis auf Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) a) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 14/4722 - Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses Bundestagsdrucksache 14/6036 vom 15. Mai 2001, S. 119. 103 Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128a, Rn. 8. 104 Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128, Rn. 10. 105 Düwell, juris PraxisReport Arbeitsrecht 16/2020, Anm. 1; Francken, NZA 2020, S. 681, 684. 106 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II), Bundestagsdrucksache 19/18966 vom 5. Mai 2020, S. 10. 107 Siehe hierzu auch Fn. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 29 Bundesarbeitsgericht eine untergeordnete Rolle.108 Die aus Gründen des Gesundheitsschutzes und in Anbetracht sonstiger drohender Verfahrensverzögerungen geltende Einschränkung könne in der Revisionsinstanz im Fall einer epidemischen Lage nationaler Tragweite eher hingenommen werden als in den Tatsacheninstanzen. Auch sähen andere Prozessordnungen unter bestimmten Voraussetzungen bereits den einseitigen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung vor (zum Beispiel § 84 Abs. 1 VwGO).109 4.6. Unmittelbarkeit Nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz finden die mündliche Verhandlung und die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht statt (§§ 128 Abs. 1, 355 Abs. 1 ZPO).110 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit hat keinen Verfassungsrang. Er lässt sich weder aus dem Rechtsstaatsprinzip noch aus dem Recht auf rechtliches Gehör ableiten.111 Laut Bundesverfassungsgericht ist das Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme selbst kein Grundrecht, sodass auch eine nach der jeweiligen Prozessordnung relevante Verletzung noch nicht eine Verfassungsbeschwerde begründe. Dies gelte im strafprozessualen Kontext, mehr noch aber im Bereich der Zivilprozessordnung, wo der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Parteidisposition unterliege. Es sei eine Frage des Einzelfalls , ob eine gegebene Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes derart schwerwiegend sei, dass dadurch der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens ernstlich beeinträchtigt werde.112 Auch das Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör umfasse keine bestimmten Beweisregeln, insbesondere nicht das Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme.113 Nach überwiegender Auffassung schränkt die mündliche Verhandlung im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 128a ZPO nicht den Grundsatz der (formellen) Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der Verhandlung ein. Das Gericht verschafft sich - wenn auch über ein technisches Hilfsmittel - selbst einen Eindruck von der zugeschalteten (Beweis-)Person. Es werde gerade keine dritte Person zwischen Gericht und die Beteiligten gestellt.114 Allerdings wird darauf hingewiesen, dass bei Einsatz der Videokonferenztechnik nicht die Intensität und Qualität einer persönlichen Anwesenheit erreicht werde. Dieser Umstand verpflichte 108 Francken, NZA 2020, S. 681, 684. 109 Düwell, juris PraxisReport Arbeitsrecht 16/2020, Anm. 1. 110 Möller, JA 2010, S. 47, 51. 111 Rauscher in: Münchener Kommentar zur ZPO, Einleitung, Rn. 296; Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 355 ZPO, Rn. 1. 112 BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2008 - 2 BvR 2300/07 -, Rn. 20 (zitiert nach juris). 113 BVerfG, Beschluss vom 18. September 1952 - 1 BvR 612/52 -, Rn. 46 (zitiert nach juris). 114 Prütting, Anwaltsblatt 5/2013, S. 330, 332; Böttiger, WzS 2013, S. 263, 270 f.; Fritsche in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 128a, Rn. 9; Stäbler in: Schlegel/Voelzke, juris PraxisKommentar SGG, 1. Auflage , Stand: 21. März.2019, § 110a SGG, Rn. 28. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 30 das Gericht bei seiner Ermessensentscheidung zu einer sorgfältigen Auswahl der für eine Videokonferenz geeigneten Fälle.115 Angesichts der bei einer epidemischen Lage nationaler Tragweite zu schützenden Rechtsgüter (Gesundheitsschutz und Justizgewährungsanspruch) dürften jedoch im Hinblick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz keine tiefgreifenden Bedenken bestehen. 4.7. Beratung der Richter Gemäß § 193 Abs. 1 GVG muss jede Entscheidung eines Kollegialgerichts auf einer Beratung und Abstimmung der zur Entscheidung berufenen Richter beruhen. Die Gestaltung der Beratung ist dem Gericht im Rahmen des § 194 GVG überlassen, wobei sich der vorsitzende Richter im Rahmen seiner Leitungsbefugnis regelmäßig von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten lassen wird. Unerlässlich ist die gegenseitige Verständigung der Gerichtsmitglieder, die in einer äußerlich wahrnehmbaren Weise zu erfolgen hat, sodass etwa die bloße stillschweigende Duldung der Entscheidungsverkündung nicht ausreicht. Allerdings ist die Verständigung an keine Form gebunden ; ihre Art ist der Kritik der Prozessbeteiligten entzogen.116 Die Beratung hat im Beisein sämtlicher Richter, das heißt bei gleichzeitiger Anwesenheit, zu erfolgen . Dem steht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „eine Beratung im Wege der Videokonferenz, also bei gleichzeitiger Ton- und Bildübertragung, wie sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung einschließlich der Beweisaufnahme zugelassen [ist] ([…] § 128a Abs. 1 und 2 ZPO)“ gleich.117 Demzufolge dürfte der Vorschlag, dass die ehrenamtlichen Richter sich auch für die Beratung an einem anderen Ort aufhalten und an dieser per Videokonferenztechnik teilnehmen können grundsätzlich unbedenklich sein. 5. Übertragbarkeit der Vorschläge auf das allgemeine Zivilverfahren 5.1. Verfahrensgrundsätze und geltende Rechtslage im allgemeinen Zivilverfahren Wie unter 2.1 bereits ausgeführt, handelt es sich beim arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren, für das die gegenständlichen Vorschläge Geltung entfalten sollten, um einen „echten Zivilprozess “.118 Somit kommen auch dessen Verfahrensgrundsätze zur Anwendung. Dementsprechend sind auch zivilprozessuale Verhandlungen grundsätzlich öffentlich, wobei die §§ 169 ff. GVG ebenfalls gelten.119 115 Böttiger, WzS 2013, S. 263, 270 f.; Leopold, NZS 2013, S. 847, 852. 116 BGH, Beschluss vom 29. November 2013 - BLw 4/12 -, Rn. 27 (zitiert nach juris). 117 BGH, Beschluss vom 29. November 2013 - BLw 4/12 -, Rn. 28 (zitiert nach juris). 118 Hamacher in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, 55. Edition, Stand: 1. März 2020, ArbGG, § 46, Vor, Rn. 1. 119 Hier über § 2 Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) in Verbindung mit §§ 12 f. GVG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 31 Weitestgehend bezugnehmend auf die Darstellungen in 2.1. ist das reguläre zivilprozessuale Verfahren von einer stärkeren Schriftlichkeit geprägt. Zu erwähnen sind hierbei vor allem die grundsätzlich vorgesehene schriftliche Vorbereitung bereits des ersten Verhandlungstermins sowohl bei der Verfahrensweise des frühen ersten Termins120 als auch bei der des schriftlichen Vorverfahrens .121 Auch kann das Gericht mit Zustimmung der Parteien das schriftliche Verfahren122 bereits in der Eingangsinstanz anordnen. Als originär zivilprozessuale Vorschrift für Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung gilt § 128a ZPO zuvorderst für den Zivilprozess.123 Im Unterschied zur breiteren Diskussion über die Ausweitung von Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung vor den Arbeitsgerichten , haben lediglich vereinzelte Stimmen für eine autonome Reform von § 128a ZPO in Literatur124 und Politik125 plädiert. Eine Erklärung ist wohlmöglich, dass ein Hauptkritikpunkt an der bestehenden Regelung - die verpflichtende Anwesenheit des gesamten Gerichts inklusive ehrenamtlicher Richter an der Gerichtsstelle126 während der mündlichen Verhandlung - im Zivilprozess nicht in der Schärfe wie im Arbeitsgerichtsprozess erhoben werden kann: So sind an der Entscheidungsfindung im regulären erstinstanzlichen Zivilprozess nur Berufs- und keine ehrenamtlichen Richter beteiligt.127 Hinzu kommt, dass in der erstinstanzlichen Praxis weit überwiegend einzelne Berufsrichter (sogenannte Einzelrichter) und nicht aus mehreren Berufsrichtern zusammengesetzte Spruchkörper (sogenannte Zivilkammern) zivilprozessuale Entscheidungen128 120 § 275 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 ZPO. 121 § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO. 122 § 128 Abs. 2 ZPO. 123 Vgl. schon ausführlich unter 2.2.3. 124 In diese Richtung Rauscher, COVuR 2020, S. 2, 5 f.; Schmidt/Saam, DRiZ 2020, S. 216, 219; Bernzen, Im Gerichtssaal , aber auch am Bildschirm: Öffentlichkeit in Verhandlungen nach § 128a ZPO, veröffentlicht am 7. Juni 2020 auf „zpoblog.de“, abrufbar unter: https://www.zpoblog.de/oeffentlichkeit-verhandlungen-bild-undtonuebertragung -%c2%a7-128a-zpo-bernzen/ (zuletzt abgerufen am 23. Juni 2020). 125 Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, Auswirkungen des Coronavirus auf die Justiz – Virtuelle Gerichtsverhandlungen ermöglichen, Bundestagsdrucksache 19/19120 vom 12. Mai 2020. 126 § 219 ZPO. 127 Ausnahmen bestehen nur bei speziellen Spruchkörpern bei Zivilgerichten, wie etwa der Kammer für Handelssachen bei den Landgerichten (§§ 93, 105 GVG). Dort entscheiden jeweils ein Berufsrichter und zwei ehrenamtliche Richter aus dem Berufsfeld (zu den Ernennungsvoraussetzungen der ehrenamtlichen Richter: § 109 GVG). 128 Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf zivilprozessuale Verfahren, die durch Endurteil (§ 300 ZPO) beendet werden (können), wogegen in der zweiten Instanz unter Umständen die Berufung (§ 511 Abs. 1 ZPO) vor Landes- oder Oberlandesgerichten und in der dritten Instanz unter Umständen die Revision vor dem Bundesgerichtshof (§ 542 Abs. 1 ZPO) statthaft ist. Denn nur in solchen Verfahren sieht das Gesetz - mit Ausnahmen (beispielhafte Aufzählung bei Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 128, Rn. 24) - die Vorbereitung der Entscheidung durch mündliche Verhandlung vor, § 128 Abs. 4 ZPO. Auch die Sprungrevision, in der der Bundesgerichtshof ausnahmsweise bereits zweitinstanzlich zuständig ist (§§ 566 ZPO, 133 GVG), wird für die Zwecke der Darstellung wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung (Kessal-Wulf in: Vorwerk/Wolf, Beck‘scher Online-Kommentar ZPO, 36. Edition, Stand: 1. März 2020, § 566, Vor, Rn. 1) außen vor gelassen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 32 fällen.129 Dies kann sogar in der Berufungsinstanz der Fall sein - auch wenn dies in der Praxis nur bei einer Minderheit der Fälle geschieht.130 Für Berufungssachen in der zweiten Instanz ist jedoch zu beachten, dass es in der Mehrzahl der Fälle gar nicht zu einem Verhandlungstermin kommt, sondern die Verfahren in einem früheren Stadium erledigt werden.131 Lediglich in der Revisionsinstanz vor dem Bundesgerichtshof entscheidet das Gericht zwingend mit fünf Richtern ,132 die auch an der mündlichen Verhandlung teilnehmen müssen,133 falls eine solche notwendig wird.134 Falls nach dem Vorstehenden eine Beratung zwischen (Berufs-)Richtern stattfindet, ist hierbei ebenfalls nach §§ 192 ff. GVG zu verfahren.135 5.2. Vereinbarkeit mit den Verfahrensgrundsätzen Aufgrund des dargestellten weitgehenden Gleichlaufs des regulären Zivil- mit dem Arbeitsgerichtsprozess stellen sich im Wesentlichen die identischen Vereinbarkeitsfragen mit den allgemeinen zivilprozessualen Verfahrensgrundsätzen. Insofern kann auf die unter 4. ausführlich untersuchten Verhältnismäßigkeitskriterien Bezug genommen werden. Bei der Zustellung des Urteils statt Verkündung im schriftlichen Verfahren (vgl. unter 4.4.3.2.) wäre zu beachten, dass das 129 Bei den Amtsgerichten (untere erste Instanz, § 23 GVG) entscheiden Berufsrichter kraft Gesetzes als Einzelrichter (§ 22 Abs. 4 GVG). Bei den Landgerichten (obere erste Instanz, § 71 GVG) ist ein Verfahren mit drei Richtern in einer Zivilkammer zwar der gesetzliche Regelfall (§ 75 GVG), in der Praxis wird aber in erstinstanzlichen Verfahren äußerst großzügig von der gesetzlichen Möglichkeit der Entscheidung durch ein Mitglied einer Zivilkammer als Einzelrichter (§§ 348, 348a ZPO) Gebrauch gemacht: So wurden nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2018 ca. 77 % der beim Landgericht anhängigen erstinstanzlichen Verfahren durch den Einzelrichter erledigt (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (Rechtspflege - Zivilgerichte), S. 60 (Nrn. 36 ff.), abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/zivilgerichte -2100210187004.pdf?__blob=publicationFile [zuletzt abgerufen am 24. Juni 2020]). 130 Vgl. § 526 ZPO. So wurden in der Berufungsinstanz 2018, soweit das Landgericht (Berufungsinstanz gegen amtsgerichtliche Urteile, § 72 GVG) zuständig war, etwa 15 % der Verfahren durch den Einzelrichter erledigt, soweit die Oberlandesgerichte (Berufungsinstanz gegen landgerichtliche Urteile, § 119 Abs. 1 Nr. 2 GVG) in diesem Zeitraum für Berufungen zuständig waren, knapp 8 % (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (Rechtspflege - Zivilgerichte), S. 80 (Nrn. 35 ff.) und 106 (Nrn. 22 ff.), abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/zivilgerichte -2100210187004.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2020)). 131 So kamen Berufungsverfahren an den Landgerichten 2018 in knapp 57 % der Fälle ohne Termin aus, in Berufungsverfahren vor den Oberlandesgerichten in gerundet 59 % (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (Rechtspflege - Zivilgerichte), S. 80 (Nr. 27) und 106 (Nr. 14), abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/zivilgerichte -2100210187004.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2020)). 132 § 139 Abs. 1 GVG. 133 § 309 ZPO. 134 Eine mündliche Verhandlung wird nur dann notwendig, wenn eine Revision nicht durch Beschluss als unzulässig verworfen oder einstimmig zurückgewiesen wird, §§ 552 ff. ZPO. 135 § 2 EGGVG in Verbindung mit §§ 12 f. GVG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 33 Gericht nach entsprechender Parteizustimmung dies bereits in der Eingangsinstanz anordnen kann. Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung, die eine Zustellung im regulären schriftlichen Verfahren wohl zuließe, könnte dieser Unterschied jedoch grundsätzlich vernachlässigt werden. In diesem Sinne wäre auch im Zivilprozess die Diskussion um den Öffentlichkeitsgrundsatz hervorzuheben . Im Ergebnis lässt sich ein erhöhter Rechtfertigungsaufwand gut begründen. Eine eindeutige Antwort kann an dieser Stelle jedoch nicht erfolgen, sondern hängt von der Betrachtungsweise ab: Unter der hier angenommenen Prämisse, dass sich die Berufsrichter auch nach den zugrundeliegenden Vorschlägen bei der Verhandlung im Gericht befinden müssten, bestände im Zivilprozess kaum die Notwendigkeit, die Öffentlichkeit auszuschließen: Aufgrund der dargestellten herausragenden Rolle des Einzelrichters, besonders in der ersten Instanz, würden sich durch die Vorschläge in dieser Hinsicht faktisch keine Änderungen zur bereits bestehenden Regelung (§ 128a ZPO) ergeben: Eine Abstimmung beziehungsweise Zuschaltung von ehrenamtlichen Richtern entfiele aufgrund deren Nichtexistenz. Auch zeigen erste Entscheidungen aus der Praxis , dass sich die Öffentlichkeit in Anwendung von § 128a ZPO auch mit geringem technischen Aufwand herstellen lässt, etwa wenn drei Berufsrichter eines Spruchkörpers jeweils mit ihren privaten Notebooks unter Verwendung einer Webkonferenz-Software in einem öffentlich zugänglichen Sitzungssaal mit den Parteien konferieren.136 Denn nach der bereits dargestellten herrschenden Meinung ist der Öffentlichkeit bereits nach geltendem Recht bei einer Bild- und Tonübertragung Genüge getan, wenn unbeteiligte Zuhörer die Verhandlung akustisch, etwa über Computerlautsprecher, aber nicht auch notwendig visuell verfolgen können.137 Die im regulären Zivilprozess starke Fokussierung auf den Einzelrichter bedeutet weiter, dass es zumindest theoretisch zu einer geringeren Infektionsgefahr durch die Durchführung von mündlichen Verhandlungen als im arbeitsgerichtlichen Prozess kommen dürfte: Denn im Schnitt halten sich dort jedenfalls weniger Gerichtspersonen bei einer Verhandlung in einem Gerichtssaal auf, beziehungsweise müssen dorthin gelangen. In diesem Zusammenhang lässt sich ebenfalls argumentieren , dass der Koordinationsaufwand für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (Terminsfindung etc.) niedriger ist - falls nicht ohnehin bereits in der ersten Instanz ins schriftliche Verfahren eingetreten wird. Hieraus könnte man schließen, dass die Funktionstüchtigkeit der Zivilrechtspflege durch epidemische Notlagen in geringerem Maße als die Arbeitsrechtspflege beeinträchtigt ist. Unter Bezugnahme auf die genannten Abwägungskriterien beim Öffentlichkeitsgrundsatz führte dies insgesamt zu einem höheren Rechtfertigungsaufwand für dessen Einschränkung . Auf der anderen Seite könnte man - unabhängig von einem Infektionsgeschehen - aus der gesteigerten Bedeutung der Schriftlichkeit ableiten, dass eine öffentliche mündliche Verhandlung den Zivilprozess nicht im gleichen Maße wie den Arbeitsgerichtsprozess prägt, deswegen auch der 136 So jüngst geschehen in: Kammergericht (KG), Urteil vom 12. Mai 2020 – 21 U 125/19 -, BeckRS 2020, 8170, Rn. 16. 137 Vgl. bereits Nachweise in Fn. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 036/20; WD 7 - 3000 - 061/20 Seite 34 Öffentlichkeitsgrundsatz nicht die gleiche Kraft entfaltet: Es entsteht in der Praxis teilweise auch der Eindruck, dass von der Öffentlichkeit der Verhandlung im Zivilverfahren – im Vergleich etwa zum Strafverfahren - durch einzelne interessierte Zuhörer kaum Gebrauch gemacht wird.138 Im Zivilverfahren kann der Zuhörer wegen der stillschweigenden Bezugnahme auf den Akteninhalt 139 ohnehin von deren Inhalt meist wenig erkennen140 und etwa die Güte der gerichtlichen Verfahrensführung in dieser Hinsicht beurteilen. Der Akteninhalt ist hierbei von der erwähnten, gesetzlich vorgesehenen, teils umfangreichen schriftlichen Terminsvorbereitung geprägt. Hinzu kommt vor allem bei den Landgerichten eine in den letzten Jahren stetig zunehmende Verfahrensdauer in Zivilsachen,141 was einen Anhaltspunkt für zunehmenden Aktenumfang und Verfahrenskomplexität darstellen könnte.142 Offen bleibt jedoch, ob diese Praxisentwicklung in Bezug auf die Wahrnehmung des Teilnahmerechts an öffentlichen Verhandlungen selbst mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz in Einklang steht und dementsprechend als Argument für dessen weitere Einschränkung herhalten kann. 6. Fazit Die Ausführungen zeigen, dass wohl lediglich der Vorschlag, die Öffentlichkeit kraft Gesetzes im Arbeitsgerichtsprozess generell auszuschließen, sofern die mündliche Verhandlung ausschließlich im Wege der Ton- und Bildübertragung stattfindet, verfassungsrechtlichen Bedenken in Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz begegnet. Ganz ähnliche verfassungsrechtliche Fragen stellen sich aufgrund von dessen weitgehender Strukturgleichheit auch für den Zivilprozess, wobei sich dort aufgrund von mancher Besonderheit, einige für den Arbeitsgerichtsprozess ausgemachte Problemlagen nicht in der Ausgeprägtheit stellen. *** 138 Schreiber in: Wieczorek/Schütze, ZPO Großkommentar, Band 13 (Teilband 1), 4. Auflage 2018, § 169 GVG, Rn. 4. 139 Bezugnahme auf Akteninhalt generell zulässig gemäß § 137 Abs. 3 Satz 1 ZPO, speziell auch für die Antragstellung (vgl. auch § 297 Abs. 2 ZPO). 140 Zimmermann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2017, § 169 GVG, Rn. 1. 141 Bundesamt für Justiz, Geschäftsentwicklung der Zivilsachen in der Eingangs- und Rechtsmittelinstanz 1995 – 2018, Stand: 17. Oktober 2019, abrufbar unter: https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Geschaeftsbelastungen/Uebersicht_ node.html (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2020). 142 Weitere Erklärungsversuche bei Hirtz, NJW 2014, S. 2529.