© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 035/21 Einzelfragen in Zusammenhang mit der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs von Menschen mit Behinderung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 035/21 Seite 2 Einzelfragen in Zusammenhang mit der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs von Menschen mit Behinderung Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 035/21 Abschluss der Arbeit: 27. April 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 035/21 Seite 3 1. Fragestellung und Grundzüge des Rehabilitationsrechts Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wurden zu Einzelfragen in Zusammenhang mit der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs von Menschen mit Behinderung oder von Behinderung bedrohten Menschen - insbesondere in Hinblick auf Verfahren und Fristen - um Auskunft gebeten. Nachfolgend werden zunächst kurz die Grundzüge des deutschen Rehabilitationsrechts skizziert. Anschließend werden die einschlägigen gesetzlichen Regelungen nach dem SGB IX in Grundzügen dargestellt. 2. Grundzüge des Rehabilitationsrechts in Deutschland Das Rehabilitationsrecht in Deutschland ist durch ein gegliedertes System gekennzeichnet. Abhängig vom Grund und dem Ziel einer Leistung, der Behinderungsursache und den individuellen Versicherungsvoraussetzungen können unterschiedliche rechtliche Regelungen gelten und auch verschiedene Kostenträger (Rehabilitationsträger) zuständig sein. Das 2001 eingeführte und 2016 neugefasste Neunte Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (SGB IX)1 enthält dabei eine bereichsübergreifende Zusammenfassung von Rechtsvorschriften zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohten Menschen. Diese gelten grundsätzlich gleichermaßen für Erwachsene und Kinder.2 Den besonderen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Kinder ist jedoch Rechnung zu tragen, § 1 Satz 2 SGB IX. Ziel des SGB IX ist es, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen sowie ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch besondere Sozialleistungen (Leistungen zur Teilhabe) zu fördern, vgl. § 1 Satz 1 SGB IX. Die Leistungen zur Teilhabe wiederum sind nicht einem eigenständigen Sozialleistungsbereich übertragen. Sie sind vielmehr eingebettet in den Aufgabenbereich einer Reihe von Leistungsträgern , die bei den Leistungen zur Teilhabe als Rehabilitationsträger bezeichnet werden. Die Rehabilitationsträger, also die Träger der Leistungen für Teilhabe, sind unter anderem die gesetzlichen Krankenkassen, die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung , die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die Träger der Eingliederungshilfe; letztere sind in der Regel die Kommunen, § 6 SGB IX. Für die Leistungserbringung selbst sind die jeweils für den zuständigen Rehabilitationsträger einschlägigen Leistungsgesetze maßgebend. Das heißt, welcher Rehabilitationsträger unter welchen 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - (Artikel 1 des Gesetzes v. 23. Dezember 2016, BGBl. I S. 3234), abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet .de/sgb_9_2018/ (zuletzt abgerufen am 19. April 2021). 2 Die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche hingegen ist in § 35a des Achten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - geregelt. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 035/21 Seite 4 Voraussetzungen welche Leistungen zur Teilhabe zu erbringen hat, richtet sich nach den für den einzelnen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, § 7 SGB IX. Das Nebeneinander unterschiedlicher Rehabilitationsträger mit sich teilweise überschneidenden Zuständigkeiten für Rehabilitationsleistungen erfordert einen besonderen Koordinierungsaufwand seitens der Leistungsträger, insbesondere bei trägerübergreifendem Rehabilitationsbedarf. Laut einer Unterrichtung der Bundesregierung aus dem Jahr 2004 war eines der Hauptanliegen des SGB IX die Verkürzung der Wartezeiten von der Antragstellung bis zur Leistungserbringung. Vor Inkrafttreten des Gesetzes 2001 hätten Menschen mit Behinderungen häufig sehr lange auf die Leistungserbringung gewartet. Ursache dafür seien Streitigkeiten zwischen den Rehabilitationsträgern über die Zuständigkeit sowie lange Wartezeiten für die Erstellung von ärztlichen Gutachten gewesen. Mit dem SGB IX sollten daher die kürzestmöglichen Fristen festgelegt und Mehrfachbegutachtungen auf ein unumgängliches Minimum beschränkt werden.3 3. Ausgewählte Verfahrensregelungen nach dem SGB IX Eine zentrale Stelle zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs von Menschen mit Behinderung oder von Behinderung bedrohter Menschen gibt es in Deutschland nicht, auch nicht für Kinder und Jugendliche. Das SGB IX enthält jedoch in Teil 1 für die Rehabilitationsträger übergreifend geltende Verfahrensvorschriften , die zum einen eine einheitliche und überprüfbare Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs sicherstellen und zum anderen die Zusammenarbeit der gegebenenfalls unterschiedlichen zuständigen Rehabilitationsträger gewährleisten sollen. Gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX hat ein Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang eines Leistungsantrags bei ihm festzustellen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist. Ist der Träger insgesamt nicht zuständig, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu und unterrichtet hierüber den Antragsteller. Muss für eine solche Feststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden und ist diese Klärung nicht innerhalb von zwei Wochen möglich, soll der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet werden, der die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung erbringt. Das heißt, auch wenn ein Rehabilitationsträger unzuständig ist, muss er den Antrag entgegennehmen und grundsätzlich eigenständig innerhalb von zwei Wochen in Absprache mit den anderen Rehabilitationsträgern klären, welcher Träger den Antrag bearbeitet. Für die Frist der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs wird unterschieden, ob für die Feststellung ein Sachverständigengutachten eingeholt werden muss oder nicht. Ist kein Gutachten einzuholen , so hat der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf anhand bestimmter Instrumente zur Bedarfsermittlung (siehe § 13 SGB IX) innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang beziehungsweise Antragsweiterleitung festzustellen. Ist für die Feststellung des Rehabilitationsbe- 3 Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe, Bundestagsdrucksache 15/4575 vom 16. Dezember 2004, S. 3, abrufbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/15/045/1504575.pdf (zuletzt angerufen am 26. April 2021). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 035/21 Seite 5 darfs ein Sachverständigengutachten erforderlich, muss die Entscheidung des Rehabilitationsträgers innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen werden, § 14 Abs. 2 SGB IX. Die Rehabilitationsträger haben zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (sogenannte Instrumente) nach den für sie geltenden Leistungsgesetzen zu verwenden, § 13 SGB IX. Arbeitsprozesse können zum Beispiel Erhebungen, Analysen, Dokumentation, Planung und Ergebniskontrolle sein. Arbeitsmittel sind Hilfsmittel, die die Arbeitsprozesse unterstützen, wie funktionelle Prüfungen (Sehtest, Intelligenztest, Hörtest), Fragebögen oder IT-Anwendungen. Die Rehabilitationsträger sind verantwortlich, gemeinsame Empfehlungen für Grundsätze der Instrumente zu vereinbaren, § 26 SGB IX. Das Verfahren und die Fristen für die Einholung von Sachverständigengutachten sind in § 17 SGB IX geregelt. Danach hat der Rehabilitationsträger grundsätzlich unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, einen geeigneten Sachverständigen zu beauftragen, wenn für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten erforderlich ist. Den Leistungsberechtigten sind in der Regel drei möglichst wohnortnahe Sachverständige vorzuschlagen. Hat sich der Leistungsberechtigte für einen der vorgeschlagenen Sachverständigen entschieden, ist dieser mit der Gutachtenerstellung zu beauftragen. Andernfalls entscheidet der Rehabilitationsträger (§ 17 Abs. 1 SGB IX). Sind mehrere Rehabilitationsträger zuständig, haben sie sich bei der Auftragserteilung für das Gutachten über Anlass, Ziel und Umfang zu verständigen, § 17 Abs. 3 SGB IX. Für die Gutachtenerstellung hat der Sachverständige eine umfassende sozialmedizinische, bei Bedarf auch psychologische Begutachtung, vorzunehmen. Das Gutachten ist innerhalb von zwei Wochen nach Auftragserteilung zu erstellen und ist für die Entscheidungen der Rehabilitationsträger zugrunde zu legen. Das Gutachten soll den von den Rehabilitationsträgern vereinbarten einheitlichen Grundsätzen zur Durchführung von Begutachtungen entsprechen, § 17 Abs. 2 SGB IX. Die Leistungsverantwortung bei mehreren zuständigen Rehabilitationsträgern ist in § 15 SGB IX geregelt. Darüber hinaus gibt es für die Sicherstellung der Zusammenarbeit der Träger ein besonderes Verfahren, das Teilhabeplanverfahren, § 19 SGB IX. Das Verfahren sieht unter anderem Koordinierungs - und Kooperationspflichten der Rehabilitationsträger vor. Die Leistungen zur Teilhabe sollen so trotz der gegliederten Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Trägern für den Leistungsberechtigten wie aus einer Hand erbracht werden. Gleichzeitig sollen die möglichst zügige Antragsbearbeitung gewährleistet und Mehrfachbegutachtungen vermieden werden. ***