© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 031/21 Einzelfragen zum Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 2 Einzelfragen zum Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 031/21 Abschluss der Arbeit: 30. April 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Prozessstandschaft der Gewerkschaften 4 2.1. Gesetzliche Prozessstandschaft nach dem Gesetzentwurf 4 2.2. Gewillkürte Prozessstandschaft 5 2.3. Gesetzliche Prozessstandschaft nach dem Betriebsverfassungsgesetz 5 3. Tarifautonomie und staatliche Neutralitätspflicht 6 4. Gesetzliche Prozessstandschaft als Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 4 1. Einleitung Der dem Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegende Regierungsentwurf eines Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (Sorgfaltspflichtengesetz-E)1 sieht in § 11 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E vor, dass inländische Gewerkschaften oder andere Nichtregierungsorganisationen zur gerichtlichen Geltendmachung der Rechte von Betroffenen zur Prozessführung ermächtigt werden können. Gegenstand dieser Arbeit ist die Frage, ob die Regelung einer gesetzlichen Prozessstandschaft einer Gewerkschaft die grundgesetzlich verankerte Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) und die daraus folgende staatliche Neutralitätspflicht verletzt. 2. Prozessstandschaft der Gewerkschaften 2.1. Gesetzliche Prozessstandschaft nach dem Gesetzentwurf § 11 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E stellt einen besonderen Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft der Gewerkschaften dar. Ihre Ausübung bedarf der ausdrücklichen Ermächtigung durch den Rechtsinhaber. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es dazu: „Durch die in § 11 geregelte besondere Prozessstandschaft wird ermöglicht, dass Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen die Ansprüche eines Betroffenen im eigenen Namen geltend machen können, sofern der Betroffene zuvor eine entsprechende Ermächtigung erteilt. Es handelt sich um einen besonderen Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft, die lediglich die wirksame Ermächtigung des Betroffenen voraussetzt. […] Der Kreis der Betroffenen , die auf diese Weise ihre Prozessführungsbefugnis übertragen können, wird durch den Verweis auf die überragend wichtigen Rechtspositionen aus § 2 Absatz 1, etwa Leib oder Leben , eingeschränkt. Die Verwendung des Begriffs ‚überragend‘ impliziert keinen Bewertungsunterschied hinsichtlich einzelner Menschenrechte, die universell und unteilbar sind. Vielmehr soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nur ein Teil der in § 2 Absatz 1 in Bezug genommenen Menschenrechte im Wege einer Prozessstandschaft geltend gemacht werden kann.“2 1 Gesetzentwurf der Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten, Bundestagsdrucksache 19/28649 vom 19. April 2021 (letzter Abruf am 20. April 2021). 2 Bundestagsdrucksache 19/28649, S. 51. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 5 2.2. Gewillkürte Prozessstandschaft Bereits nach geltender Rechtslage können Gewerkschaften Arbeitnehmerrechte in gewillkürter Prozessstandschaft3 vor Gericht geltend machen. Zumeist sind sie als nicht rechtsfähige Vereine organisiert4 und als solche gemäß § 50 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) umfassend parteifähig .5 Wer parteifähig ist, kann grundsätzlich auch in Prozessstandschaft auftreten. Sofern also der Anspruch übertragbar ist, eine wirksame Ermächtigung durch den Rechtsinhaber vorliegt, der Kläger ein eigenes schutzwürdiges Interesse an der Geltendmachung hat, durch die Prozessstandschaft keine Benachteiligung des Beklagten6 eintritt und die Fremdprozessführung offengelegt wird, wäre es für eine Gewerkschaft derzeit bereits möglich, in gewillkürter Prozessstandschaft aufzutreten. Ein eigenes schutzwürdiges Interesse liegt im Falle einer Gewerkschaft insbesondere vor, wenn und soweit die Rechtsverfolgung zu den satzungsgemäßen Aufgaben der Gewerkschaft zählt.7 Das dürfte in aller Regel der Fall sein.8 2.3. Gesetzliche Prozessstandschaft nach dem Betriebsverfassungsgesetz Auch die in § 11 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E vorgesehene gesetzliche Prozessstandschaft der Gewerkschaften ist kein Novum im Arbeitsprozessrecht. Einen weiteren Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft einer Gewerkschaft regelt nach geltender Rechtslage bereits § 23 Abs. 3 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Danach kann bei groben Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz neben dem Betriebsrat auch eine 3 Vgl. zur gewillkürten Prozessstandschaft im Zivilrecht auch: Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste: Gesetzentwurf über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (Sorgfaltspflichtengesetz-E) Einzelfragen zur zivilrechtlichen Haftung, Ausarbeitung WD 7 - 3000-040/21 vom 27. April 2021, S. 15. 4 Zimmer, Mark/Weigl, Veronika: Massenklagen - auch für Arbeitnehmer?, BetriebsBerater 2019, 183 (184 f.). 5 Vgl. Leuschner in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 54 Rn. 21; dies galt bereits in der bis 2009 gegoltenen Altfassung des § 50 ZPO; vgl. dazu BGH, Urteil vom 6. Oktober 1964 - VI ZR 176/63; vgl. dazu auch Bundestagsdrucksache 19/28649, S. 51. 6 Für eine Aufzählung der Fallgruppen siehe Lindacher/Hau in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, Vorbemerkung zu § 50, Rn. 73 ff. 7 Vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2011 − VIII ZR 118/10 für die Bejahung des eigenen schutzwürdigen Interesses eines Verbandes. Diese Ausführungen dürften auf Gewerkschaften übertragbar sein. 8 Vgl. etwa § 19 der Satzung der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, abrufbar im Internetauftritt von Ver.di: https://www.verdi.de/++file++5073a207deb5011af9001810/download/ver.di-Satzung.pdf, § 27 der Satzung der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), abrufbar im Internetauftritt der IG Metall: https://www.igmetall.de/download/20191231_IGM_Satzung _2020_web_4bc0a0e0054f65e751cf12b6d4b17c76d0a01873.pdf, § 12 der Satzung der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), abrufbar im Internetauftritt der IG BAU: https://igbau.de/Die-Satzung.html oder § 13 Nr. 1 der Satzung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), abrufbar im Internetauftritt der IG BCE: https://2019.igbce.de/blob/8538/8b69d69bff699012e19323f1b305d827/satzung-data.pdf (jeweils letzter Abruf: 28. April 2021). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 6 im Betrieb vertretene Gewerkschaft beim Arbeitsgericht beantragen, dem Arbeitgeber aufzugeben, eine Handlung zu unterlassen, die Vornahme einer Handlung zu dulden oder eine Handlung vorzunehmen . Die Vorschrift begründet eine Antragsbefugnis einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft unabhängig davon, ob ihr die materiell-rechtliche Position zusteht, gegen die der Arbeitgeber verstoßen haben soll.9 3. Tarifautonomie und staatliche Neutralitätspflicht Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Die Koalitionsfreiheit ist nach dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG zunächst ein Individualgrundrecht. Geschützt ist aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) auch die kollektive Koalitionsfreiheit, also der Bestand der Koalition, ihre organisatorische Ausgestaltung und ihre koalitionsspezifische Betätigung.10 Grundrechtsträger sind damit auch die Tarifpartner selbst.11 Der Schutz umfasst damit insbesondere die Tarifautonomie , die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht.12 Sie wird definiert als das Recht der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen autonom und frei von staatlicher Einflussnahme selbst zu regeln.13 Der Staat wird durch Art. 9 Abs. 3 GG zum einen verpflichtet, ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem bereitzustellen.14 Zum anderen hat er den auf diese Weise ausgestalteten Freiraum der Sozialpartner zur autonomen vertraglichen Rechtsgestaltung zu respektieren. „Die Tarifautonomie, die beiden Tarifvertragsparteien gleichermaßen zukommt, verbietet deshalb in ihrer Abwehrfunktion dem Staat, aktiv Partei für eine der beiden Seiten zu ergreifen. Er ist 9 Ahrendt in: Grobys/Panzer-Heemeier, StichwortKommentar Arbeitsrecht, Stichwort „Arbeitsgerichtsverfahren“, 3. Auflage, Edition 15, 2021, Rn. 110. 10 BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 1991 - 1 BvR 779/85; Linsenmaier in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Auflage 2021, Art. 9 GG, Rn. 39 mit weiteren Nachweisen. 11 Vgl. Linsenmaier in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Auflage 2021, Art. 9 GG, Rn. 39. 12 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010 - 4 AZR 549/08, Rn. 78 mit weiteren Nachweisen. 13 Henssler, Martin: Mindestlohn und Tarifrecht, RdA 2015, S. 43 (43). 14 BVerfG, Urteil vom 18. November 1954 - 1 BvR 629/52. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 7 vielmehr zur Neutralität verpflichtet.“15 Insbesondere ist dem Staat während eines konkreten Arbeitskampfes Zurückhaltung bei der Nutzung seiner Machtmittel auferlegt.16 Neben dieser konkreten Neutralitätspflicht ist der Staat auch abstrakt zu Neutralität verpflichtet. Über die Schaffung eines funktionierenden Tarifvertragssystems hinaus hat er auch bei gesetzgeberischen Maßnahmen den Grundsatz der Parität zu beachten. Weder darf er „eine bestehende Balance des Machtgefüges stören, noch bereits vorhandene Mängel der Chancengleichheit perpetuieren .“17 Dabei ist jedoch eine „lediglich mittelbare Beeinflussung des Tarifgeschehens, etwa durch Auswirkungen der allgemeinen Wirtschaftspolitik auf wirtschaftliche Eckdaten, […] im Hinblick auf die staatliche Neutralitätspflicht unbedenklich.“18 4. Gesetzliche Prozessstandschaft als Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht § 11 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E regelt eine gesetzliche Prozessstandschaft von Gewerkschaften zur Geltendmachung von Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 2 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz -E. Eine Regelung des Tarifvertragssystems enthält die Bestimmung nicht. Auch ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände oder einzelner Arbeitgeber als Tarifvertragspartei19 ist nicht erkennbar, denn die Regelung enthält diesbezüglich weder gesetzliche noch faktische Vorgaben, die Sozialpartner bleiben vielmehr frei in der vertraglichen Regelung ihrer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dass einzelnen Arbeitgebern eine Gewerkschaft neben ihrer Funktion als Koalitionspartner in ihrer Rechtsschutzfunktion als Gegner in einem Rechtsstreit gegenüberstehen, ändert daran nichts.20 Soweit man darin im Einzelfall eine mittelbare Auswirkung erkennt, so ist diese wie gesehen (siehe oben Abschnitt 4) im Hinblick auf das staatliche Neutralitätsgebot unbedenklich. Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen anerkannt, dass Beratung und Vertretung in allen mit einem Arbeits- oder Sozialversicherungsverhältnis zusammenhängenden Streitfragen „seit jeher zu dem ureigensten Aufgabengebiet der Gewerkschaften“ gehört und selbst als koalitionsmäßige Betätigung durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist.21 Auch sind - soweit ersichtlich - weder 15 Hanau in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 9 GG, Rn. 170; Scholz in Maunz/Dürig: Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 93. EL Oktober 2020, Art. 9, Rn. 165; speziell zur Neutralitätspflicht der damaligen Bundesanstalt für Arbeit: Bundessozialgericht, Urteil vom 5. Juni 1991 - 7 RAr 26/89; vgl. dazu auch Löwisch, Manfred/Rieble, Volker: Tarifvertragsgesetz, 4. Auflage 2017, Rn. 554 ff. 16 Vgl. Hanau in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 9 GG, Rn. 174. 17 Hanau in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 9 GG, Rn. 171 mit weiteren Nachweisen. 18 Vgl. Hanau in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Auflage 2016, Art. 9 GG, Rn. 171. 19 Vgl. § 2 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes. 20 Scholz in Maunz/Dürig: Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 93. EL Oktober 2020, Art. 9, Rn 234. 21 BVerfG, Beschluss vom 2. Dezember 1992 - 1 BvR 296/88, Rn 22, 36 (zitiert nach juris) mit weiterem Nachweis aus der Rechtsprechung des BVerfG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 031/21 Seite 8 die satzungsmäßige gerichtliche Vertretung von Arbeitnehmern durch Gewerkschaften noch die seit Jahrzenten bestehende gesetzliche Prozessstandschaft nach § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG in der Vergangenheit vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 GG und der staatlichen Neutralitätspflicht in Frage gestellt worden. Es kann mithin davon ausgegangen werden, dass die besondere gesetzliche Prozessstandschaft für Gewerkschaften nach § 11 Abs. 1 Sorgfaltspflichtengesetz-E nicht in die Koalitionsfreiheit der Sozialpartner aus Art. 9 Abs. 3 GG eingreift. Auch ein Verstoß gegen die aus diesem Grundrecht folgende Neutralitätspflicht dürfte nicht vorliegen. ***