© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 028/16 Vollständige und teilweise Geschäftsaufgabe im Zusammenhang mit der Altersrente für besonders langjährig Versicherte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 028/16 Seite 2 Vollständige und teilweise Geschäftsaufgabe im Zusammenhang mit der Altersrente für besonders langjährig Versicherte Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 028/16 Abschluss der Arbeit: 11. Februar 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 028/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Unterschiedliche Behandlung der vollständigen und teilweisen Geschäftsaufgabe 4 2. Zum Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe 4 3. Mögliche Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Behandlung von Zeiten der Arbeitslosigkeit 5 4. Fazit 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 028/16 Seite 4 1. Unterschiedliche Behandlung der vollständigen und teilweisen Geschäftsaufgabe Vorliegend ist zu prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung von vollständiger und teilweiser Geschäftsaufgabe im Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen für eine Altersrente an besonders langjährig Versicherte - der sogenannten Rente mit 63 - verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügt. 2. Zum Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe Mit dem zum 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz)1 vom 23. Juni 2014 sind die für die Erfüllung der Wartezeit von 45 Jahren für die in § 38 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) geregelte auch vor Erreichen der Regelaltersgrenze abschlagfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte anzurechnenden rentenrechtlichen Zeiten neu geregelt worden. Auf die Wartezeit von 45 Jahren sind gemäß § 51 Abs. 3a SGB VI nunmehr unter anderem auch Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld anzurechnen. Nach der Gesetzesbegründung sollen mit der Ausweitung der auf die Wartezeit von 45 Jahren anrechenbaren Zeiten Härten von kurzzeitig unterbrochenen Erwerbsbiografien infolge von Arbeitslosigkeit vermieden werden.2 Im Gesetzgebungsverfahren ist der Entwurf um die sogenannte rollierende Stichtagsregelung ergänzt worden. Danach sind Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht anzurechnen, es sei denn, die Arbeitslosigkeit ist durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt. Nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung stellte sich die Frage, in welchen Fällen von einer vollständigen Geschäftsaufgabe ausgegangen werden kann. Eine erste Veröffentlichung von Fachleuten der Deutschen Rentenversicherung Bund enthielt hierzu folgende Überlegungen:3 „In Betracht kommt, in Anlehnung an § 165 Abs. 1 Nr. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) zu verlangen, dass der Arbeitgeber seine gesamte Betriebstätigkeit im Inland auf Dauer eingestellt hat. Eine Einstellung der Tätigkeit eines einzelnen Betriebsteils, einer Filiale, eines Standorts sowie eine Zusammenlegung von Betrieben oder eine Teilstilllegung wäre dann nicht ausreichend, sofern der Arbeitgeber weitere Betriebsteile oder andere einzelne Betriebe weiter führt. Auch bei einem Inhaberwechsel läge keine vollständige Geschäftsaufgabe vor, da der neue Inhaber als Rechtsnachfolger in die Rechte und Pflichten aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis eintritt. Stellt ein zu einem Konzern gehörendes Unternehmen seine gesamte Betriebstätigkeit ein, läge hingegen eine vollständige Geschäftsaufgabe vor, weil die einzelnen Unternehmen in der Regel innerhalb der Konzernstruktur selbständig und nur unter einer einheitlichen Leitung zusammengefasst 1 BGBl I Nr. 27, S. 787. 2 Bundestags-Drucksache 18/909, S. 13. 3 Dünn, Sylvia und Stosberg, Rainer in: RVaktuell 7/2014, S. 161. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 028/16 Seite 5 sind. Die vollständige Geschäftsaufgabe muss ursächlich für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und den folgenden Leistungsbezug gewesen sein.“ Die später gefassten rechtlichen Arbeitsanweisungen der Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung sowie der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See führen zum Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe folgendes aus:4 „Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung sind durch eine vollständige Geschäftsaufgabe bedingt, sofern das vorangegangene Beschäftigungsverhältnis aufgrund einer vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers beendet wurde. Da das Gesetz hier von einer vollständigen Geschäftsaufgabe spricht, ist von einer solchen immer dann auszugehen, wenn der Arbeitgeber seine gesamte Betriebstätigkeit auf Dauer eingestellt hat (…). Eine Einstellung der Tätigkeit eines einzelnen Betriebsteils, einer Filiale, eines Standorts sowie eine Zusammenlegung von Betrieben oder eine Teilstilllegung ist nicht ausreichend , um den Tatbestand der vollständigen Geschäftsaufgabe zu begründen, sofern der Arbeitgeber weitere Betriebsteile oder andere einzelne Betriebe weiterführt. Auch bei einem Inhaberwechsel liegt keine vollständige Geschäftsaufgabe vor, da der neue Inhaber als Rechtsnachfolger in die Rechte und Pflichten aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis eintritt. Stellt ein Unternehmen eines Konzerns seine gesamte Betriebstätigkeit ein, liegt eine vollständige Geschäftsaufgabe vor, weil die Unternehmen eines Konzerns selbständig und nur unter einheitlicher Leitung in dem Konzern zusammengefasst sind. Die vollständige Geschäftsaufgabe muss ferner ursächlich für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses und den folgenden Leistungsbezug gewesen sein.“ Resultiert die Arbeitslosigkeit also nur aus der Aufgabe eines Teilbereichs eines Unternehmens kommt eine Anrechnung auf die Wartezeit in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht in Betracht. 3. Mögliche Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Behandlung von Zeiten der Arbeitslosigkeit Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der rollierenden Stichtagsregelung hat sich der Fachbereich Arbeit und Soziales der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages im Juli 2014 befasst. Im Ergebnis wurde die unterschiedliche Behandlung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor dem Beginn einer Altersrente an besonders langjährig Versicherte bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers einerseits und anderen zur Arbeitslosigkeit führenden Gründen andererseits als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG angesehen und damit für verfassungswidrig gehalten. 4 Abrufbar im Internet unter http://www.deutsche-rentenversicherung-regional .de/Raa/Raa.do?f=SGB6_51R2.3.3.3, zuletzt abgerufen am 11. Februar 2016. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 028/16 Seite 6 Der entsprechende Sachstand „Die rollierende Stichtagsregelung für die Altersrente an besonders langjährig Versicherte - Zulässigkeit der Privilegierung der durch Insolvenz und vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingten Arbeitslosigkeit“, Az. WD 6 - 3000 - 133/14 ist als Anlage beigefügt. Anlage 1 Eine ähnliche Ansicht ist in der arbeitsrechtlichen Literatur vertreten worden. Der Aufsatz von Neufeld/Flockenhaus/Schemmel „Abschlagfreie Rente mit 63 – Auswirkungen des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes für Recht und Praxis“ ist ebenfalls als Anlage beigefügt. Anlage 2 Schließlich bereitet der Deutsche Gewerkschaftsbund Musterstreitverfahren mit dem Ziel vor, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu erwirken. Der sich hiermit befassende Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom 21. Februar 2015 ist ebenfalls als Anlage beigefügt. Anlage 3 4. Fazit Wenn, wie oben dargestellt, bereits die unterschiedliche Behandlung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers einerseits und anderen zur Arbeitslosigkeit führenden Gründen andererseits als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG angesehen und damit für verfassungswidrig gehalten wird, muss dies folgerichtig auch für den Fall einer nur teilweisen Geschäftsaufgabe gelten. Aufgrund einer nur teilweisen Geschäftsaufgabe arbeitslos gewordener Personen werden durch die eine volle Geschäftsaufgabe voraussetzende gesetzliche Regelung unverhältnismäßig stark benachteiligt . Eine abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit muss dessen ungeachtet dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleiben. Ende der Bearbeitung