© 2017 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 027/17 Kindeswohlgefährdung und Sanktionen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 2 Kindeswohlgefährdung und Sanktionen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 027/17 Abschluss der Arbeit: 22. Mai 2017 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Gesetzliche Regelungen zum Kindeswohl 4 3. Sanktionen nach dem SGB II 4 4. Armut und Kindeswohlgefährdung 6 4.1. Studie „Kinder- und Familienarmut: Lebensumstände von Kindern in der Grundsicherung“ 7 4.2. Untersuchung „Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen“ 8 4.1. Studie „Kindeswohlgefährdung – Ursachen, Erscheinungsformen und neue Ansätze der Prävention” in NRW 8 4.2. Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst 9 5. Fazit 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 4 1. Einleitung Der Sachstand soll klären, ob im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) verhängte Sanktionen zu einer Gefährdung des Kindeswohls beitragen können. Studien, die den Zusammenhang „Sanktionen und Kindeswohlgefährdung“ untersuchen, liegen den Wissenschaftlichen Diensten nicht vor. Jedoch gibt es Studien, die den Zusammenhang zwischen Armut und Kindeswohlgefährdung untersuchen. Da Sanktionen den finanziellen Spielraum einer Bedarfsgemeinschaft weiter reduzieren, können die Studienergebnisse durchaus herangezogen werden. 2. Gesetzliche Regelungen zum Kindeswohl § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist die zentrale Kinderschutzbestimmung. Die Norm beschränkt das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und setzt die Grenze, ab der der Staat eingreifen darf, wenn er das Kindeswohl gefährdet sieht. Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Ergänzend hierzu gibt es die Regelungen im Achten Buch Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII). Nach § 8a SGB VIII ist das Jugendamt verpflichtet, tätig zu werden, wenn ihm gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt sind. Sofern das Kindeswohl noch nicht akut gefährdet ist, kann es Hilfen zur Erziehung anbieten. Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, hat das Jugendamt das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. 3. Sanktionen nach dem SGB II Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist eine steuerfinanzierte Sozialleistung, die das soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten soll. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)1 zum menschenwürdigen Existenzminimum ist dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zugewiesen, innerhalb dessen er die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Nach dem Prinzip des „Förderns und Forderns“ müssen erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft (BG) lebenden Personen alle Möglichkeiten ausschöpfen , um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden oder zu verringern. Sanktionen sollen ein finanzielles Mittel für Bezieher von Arbeitslosengeld II sein, ihren im SGB II geregelten Pflichten 1 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 5 nachzukommen. Anderenfalls werden sie bei Pflichtverletzungen oder Meldeversäumnissen sanktioniert (§§ 31 ff. SGB II). Bei einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II stufenweise beziehungsweise kann bei wiederholter Pflichtverletzung vollständig entfallen (§ 31a SGB II). Eine Sanktion aufgrund eines Meldeversäumnisses nach § 32 SGB II (fehlende Meldung beim Träger oder Nichterscheinen bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin) führt zu einer Reduzierung um zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfs. Gemäß § 31a Abs. 3 SGB II hat der Träger von Amts wegen bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. Sachleistungen sind insbesondere in Form von Gutscheinen zu erbringen. Ergänzende Sachleistungen sind auch von Amts wegen zu erbringen, wenn die sanktionierte Person selbst minderjährig ist. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) bestehen gegen eine Minderung des Arbeitslosengeld II-Anspruchs um 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs aufgrund einer Pflichtverletzung keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. „Soweit auf dieser Grundlage Sachleistungen erbracht werden, genügt das den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedenfalls grundsätzlich (BVerfG Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12), (…).“2 Zwischen Februar 2016 und Januar 2017 wurden rund 937.000 Sanktionen neu festgesetzt; davon rund 713.000 aufgrund von Meldeversäumnissen.3 Sanktionen im Rahmen der Grundsicherung können mit nicht intendierten, nachteiligen Wirkungen verbunden sein. In der Regel treffen Sanktion die gesamte Bedarfsgemeinschaft, also auch die nicht-sanktionierten BG-Mitglieder. Im Dezember 2016 lebten 1.993.704 minderjährige unverheiratete Kinder unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften , davon waren 1.722.313 Kinder unter 15 Jahren. Zur finanziellen Situation der BG gibt die folgende Tabelle Auskunft. Sie zeigt das durchschnittliches Haushaltsbudget von Regelleistungsbedarfsgemeinschaften (RL-BG) mit Kindern unter 18 Jahren nach BG-Typ pro RL- BG in Euro (Dezember 2016, Bund, Länder, Kreise und kreisfreie Städte).4 2 BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R –, BSGE 119, 17-33, SozR 4-4200 § 31a Nr. 1. 3 Bundesagentur für Arbeit, Statistik, Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II - Sanktionen, Deutschland nach Ländern und Jobcentern, Januar 2017, Erstellungsdatum 12. Mai 2017. 4 Bundesagentur für Arbeit, Statistik, Kinder in Bedarfsgemeinschaften, Deutschland, Bundesländer, Kreise/kreisfreie Städte, Dezember 2016, Erstellungsdatum 13. April 2017 . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 6 BG-Typ Bedarfe Gesamtregel - leistung (GRL) 1) Angerechnetes Einkommen Kürzungsbe - trag durch Sanktionen Zahlungsan - spruch Gesamtregel - leistung (GRL) 1) Verfügbares Einkommen Haushalts - budget 2) 1 2 3 4 9 10 BG insgesamt 1.074 307 5 762 382 1.144 mit Kindern unter 18 Jahren 1.643 659 4 981 774 1.755 mit einem Kind 1.326 499 4 823 614 1.437 mit zwei Kindern 1.718 715 4 998 839 1.837 mit drei und mehr Kindern 2.273 945 4 1.323 1.050 2.373 Alleinerziehende-BG 1.409 567 3 839 649 1.489 mit einem Kind 1.206 450 3 754 539 1.293 mit zwei Kindern 1.552 660 3 889 742 1.631 mit drei und mehr Kindern 1.986 878 3 1.105 933 2.038 Partner-BG mit Kindern 1.928 770 5 1.152 925 2.077 mit einem Kind 1.559 596 6 957 759 1.717 mit zwei Kindern 1.890 773 5 1.111 939 2.050 mit drei und mehr Kindern 2.426 981 5 1.439 1.113 2.552 1) Gesamtregelleistung (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) umfasst den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts, Leistungen für Mehrbedarfe und Kosten der Unterkunft. 2) Das Haushaltsbudget errechnet sich aus der Summe des Zahlungsanspruchs für Gesamtregelleistung und dem verfügbaren Einkomen. 4. Armut und Kindeswohlgefährdung „Eine Person gilt nach der EU-Definition für EU-SILC als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt (Schwellenwert der Armutsgefährdung ). 2015 lag dieser Schwellenwert für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren im Berichtsjahr 2015 bei 2.170 Euro im Monat.“5 Gemäß § 79a SGB VIII haben die Träger der öffentlichen Jugendhilfe für den Prozess der Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII Grundsätze und Maßstäbe für die Bewertung sowie geeignete Maßnahmen zu ihrer Gewährleistung weiterzuentwickeln und regelmäßig zu überprüfen. 5 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 391 vom 3. November 2016, https://www.destatis.de/DE/Presse- Service/Presse/Pressemitteilungen/2016/11/PD16_391_634.html (aktuellste verfügbare Daten, zuletzt abgerufen am 16. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 7 Der bayerische Landesjugendhilfeausschuss hat „gewichtige Anhaltspunkte"6 als Auslöser der Wahrnehmung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen formuliert. Ein Anhaltspunkt ist unter anderem „Das Einkommen der Familie reicht nicht aus“.7 Das Kinderschutz-Zentrum Berlin beschreibt unterschiedliche Formen von Kindeswohlgefährdung . Ein Punkt ist die Kindesvernachlässigung. „Der Begriff beschreibt die Unkenntnis oder Unfähigkeit von Eltern, die körperlichen, seelischen, geistigen und materiellen Grundbedürfnisse eines Kindes zu befriedigen, es angemessen zu ernähren, zu pflegen, zu kleiden, zu beherbergen, für seine Gesundheit zu sorgen, es emotional, intellektuell, beziehungsmäßig und erzieherisch zu fördern. Kindesvernachlässigung ist im Kern eine Beziehungsstörung. Vernachlässigungsfamilien sind zum ganz überwiegenden Teil arme Familien, die Eltern sind oft arbeitslos, abhängig von Transferleistungen, ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung.“8 Nach diesen Ausführungen können mangelndes Einkommen beziehungsweise Transfereinkommen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung/Kindesvernachlässigung sein. 4.1. Studie „Kinder- und Familienarmut: Lebensumstände von Kindern in der Grundsicherung“ Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und der Bertelsmann Stiftung hat die Lebensumstände von Kindern in der Grundsicherung untersucht. Es wurde unter anderem betrachtet, was die Hilfebedürftigkeit konkret für den Lebensstandard von Kindern und ihren Familien bedeutet. Die Untersuchung zeigt, dass auf eine warme Mahlzeit pro Tag oder eine Waschmaschine weniger als zwei Prozent der Kinder in SGB II-Haushalten aus finanziellen Gründen verzichten müssen. Allerdings würden Kinder im SGB II-Bezug häufiger in Haushalten leben, in denen nicht ausreichende Winterkleidung vorhanden ist (10,4 Prozent) oder in Wohnungen mit feuchten Wänden oder Fußböden (5,8 Prozent). Die Zahlung von Miete und Nebenkosten sei aber – vermutlich auch durch die direkte Kostenübernahme – größtenteils sichergestellt . Lediglich zwei bzw. drei Prozent der Familien mit SGB II-Bezug sei eine pünktliche Zahlung aus finanziellen Gründen nicht immer möglich. 20 Prozent der Kinder im SGB II-Bezug und ihre Familien würden in relativ beengten Wohnverhältnissen leben. Ein Mindeststandard von einem Zimmer pro Haushaltsmitglied sei nicht gegeben. Die mit Abstand größten Unterversorgungen gebe es im Bereich der sozialen Teilhabe. Eine einwöchige Urlaubsreise könnten sich 76 Prozent aller Kinder und ihre Familien im SGB II-Bezug nicht leisten und 54 Prozent verzichten im 6 „Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sind Hinweise oder Informationen über Handlungen gegen Kinder und Jugendliche oder Lebensumstände, die das leibliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährden, unabhängig davon, ob sie durch eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes oder Jugendlichen, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten bestehen.“ 7 Zentrum Bayern Familie und Soziales, Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII, http://www.blja.bayern.de/service/bibliothek/fachliche-empfehlungen/schutzauftrag8a.php (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2017). 8 Kinderschutz-Zentrum-Berlin (2009), Kindeswohlgefährdung. Erkennen und Helfen. 11. überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 43, https://www.kinderschutz-zentrum-berlin.de/download/Kindeswohlgefaehrdung _Aufl11b.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 8 Haushalt auf Kino, Theater oder Konzerte. 31 Prozent sei es aus finanziellen Gründen nicht möglich , wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen.9 Die Studie zeigt, dass Kinder im SGB II-Bezug aufgrund der finanziellen Situation mit Einschränkungen leben müssen. Sanktionen engen den finanziellen Spielraum einer BG noch weiter ein; sie waren jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung. Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls können der Studie nicht entnommen. 4.2. Untersuchung „Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen“ Chassé/Zander/Rasch haben untersucht, wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen . Die Studie zeigt, dass Erwerbslosigkeit, Mietschulden und damit verbundene soziale Isolation die psychische Stabilität der Eltern und die Erziehungsfähigkeit beeinträchtigen können . „Als Faktoren von Belastungen gelten uns hier die Erwerbslosigkeit, die durch längere Dauer und Entregelung des Alltags als stark belastend wahrgenommen wird, Schulden, drohender Wohnungsverlust wegen Mietrückständen, Partnerschaftskonflikte, Verlust der sozialen Integration (konkret wenig Freunde, Bekannte, kaum verwandtschaftliches Netzwerk), Drogenkonsum (…), Gewalt bzw. starke Konflikte in der Familie, die Familienform im Kontext der anderen Belastungen , einsame und überlastete Mütter, usw. Als stark belastete Familien gelten uns solche, die mehrere dieser Faktoren aufweisen und deren Bewältigungsmöglichkeiten offensichtlich gering sind. Konkret sind es überwiegend die Familien, bei denen wir die Lebenssituation der Kinder als stark benachteiligt in allen wichtigen kindlichen Lebensbereichen einschätzten. Gemeinsame Aktivitäten mit den Kindern sind selten oder kommen nicht vor, der Alltag und die Bewältigung der materiellen Not - im Sinne eines "Managements des Mangels" - überfordert diese Familien oder ist schlicht nicht möglich.“10 4.1. Studie „Kindeswohlgefährdung – Ursachen, Erscheinungsformen und neue Ansätze der Prävention” in NRW Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (NRW) hat im Jahr 2008 die Studie „Kindeswohlgefährdung – Ursachen, Erscheinungsformen und neue Ansätze der Prävention” in Auftrag gegeben . Ziel war es, einen systematischen Überblick über den Kinderschutz zu gewinnen. Die Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf das Bundesland NRW. Untersucht wurde auch der kleinräumige Zusammenhang (Mülheim an der Ruhr als Modellregion) zwischen Kindeswohlgefährdung und Armut. Es konnte ein positiver Zusammenhang zwischen einem geringen sozioökono- 9 Tophoven/Wenzig/Lietzmann (2015), Bertelsmann Stiftung, Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, Kinder - und Familienarmut: Lebensumstände von Kindern in der Grundsicherung, S. 14-16, https://www.bertelsmann -stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_WB_Kinder-_und_Familienarmut _2015.pdf (zuletzt abgerufen am 16. Mai 2017). 10 Chassé/Zander/Rasch (2010), Meine Familie ist arm - Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen , 4. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden, S. 237. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 9 mischen Status der Bewohner des statistischen Bezirks (gemessen am Anteil der Sozialgeld-Beziehenden ) und hoher Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung und damit eine Häufung von Fällen der Kindeswohlgefährdung festgestellt werden. Aus Sicht der befragten Fachkräfte seien besondere Stressoren und damit Risikofaktoren eine schlechte finanzielle Situation oder ein drohender finanzieller Abstieg, fehlende positive Erfahrungen der Eltern oder Gewalterfahrungen in ihrer eigenen Kindheit, Suchterkrankungen, seelische Erkrankungen der Eltern sowie soziale Isolation. Die einzelnen Faktoren dürften allerdings nicht isoliert betrachtet werden, da sie einander beeinflussen würden. Dies führe dann zu einer hohen Risikokumulation, wenn in verschiedenen der benannten Faktoren Ressourcen fehlen würden. Bei der Elternbefragung wurden unter anderem folgende Äußerungen gemacht: „Als problematisch wird der Wegfall des „Bekleidungsgeldes“ nach BSHG11 erlebt, manche Eltern sehen kaum Möglichkeiten, vom ALG II ausreichende Rücklagen für die Bekleidung zu bilden. Die vorgenommene Erhöhung des Regelsatzes im ALG II gegenüber des damals geltenden Sozialhilfesatzes erfordert einen Organisationsgrad im Finanzbereich, dem nicht alle Eltern gewachsen sind. ‚Damals vom Sozialamt, da hat man jedes halbe Jahr Bekleidungsgeld bekommen, was man jetzt nicht bekommt. Man ist auf sich komplett alleine gestellt‘ (…)“12 4.2. Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst Das Handbuch „Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)“ dient der Information und Unterstützung von Fachkräften, die sich mit Fragen von Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB auseinandersetzen. Unter anderem enthält das Handbuch Informationen über Familien mit Transfereinkommen: „Die Fachkräfte des ASD treffen bei der Bearbeitung von Gefährdungsfällen überwiegend auf Familien, die mit lohnersetzenden Transfereinkommen auskommen müssen und in denen die betroffenen Kinder nicht mit beiden leiblichen Elternteilen zusammenleben.13 Die betroffenen Kinder wachsen daher mehrheitlich in Einkommensarmut auf und erleben vielfach den Kontaktverlust zu einem Elternteil bzw. die Notwendigkeit zur mehrfachen Anpassung an neue Beziehungskonstellationen bei den Eltern. Obwohl diese Umstände unstrittig Belastungsfaktoren im Leben von Kindern darstellen, kommt ihnen beim Verständnis der Entstehung von Kindeswohlgefährdung doch nur eine eher geringe Rolle zu, da für sich genommen die negativen Effekte eines Aufwachsens in Einkommensarmut und ohne 11 Anmerkung: BSHG = Bundessozialhilfegesetz. 12 Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (2010), Kindeswohlgefährdung – Ursachen, Erscheinungsformen und neue Ansätze der Prävention, S. 64, 135, 149, http://www.fbts.de/fileadmin/fbts/Dokumente/Kindeswohlgefaehrdung_NRW.pdf (zuletzt abgerufen am 17. Mai 2017). 13 In einer Studie an mehr als 300 Fällen, in denen beim Familiengericht ein Verfahren nach § 1666 BGB anhängig war, fanden Münder et al. 2000 einen Anteil von 60 % der Familien, die ihr Einkommen ausschließlich aus lohnersetzenden bzw. -ergänzenden Mitteln (z.B. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld) bestritten, weiter lebten weniger als 30 % der Kinder mit beiden Elternteilen. In Fällen bekannt werdender Vernachlässigung wurden teilweise bis zu 90 % der betroffenen Familien als arm eingeschätzt. (Anmerkung: Münder J. (2000). Jugendhilfe und Elternverantwortung – eine schwierige Balance. Zentralblatt für Jugendrecht, 87, S. 81–85). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 027/17 Seite 10 beide Elternteile im Mittel weit unterhalb der Schwelle zur Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB liegen und die überwiegende Mehrzahl aller Kinder, die unter solchen Umständen aufwachsen , keine Kindeswohlgefährdung erlebt. Zudem deuten einige Befunde darauf hin, dass auch Kinder aus sehr wohlhabenden Bevölkerungskreisen überdurchschnittlich häufig Entwicklungsbelastungen und Gefährdungen erleben (z.B. erzieherische Vernachlässigung), aber kaum je als Gefährdungsfälle in Erscheinung treten. (…) Die Forschung zur Arbeitssituation in Misshandlungs- und Vernachlässigungsfamilien hat sich auf den Aspekt der Arbeitslosigkeit konzentriert. Es wurde von hohen Raten an Langzeitarbeitslosigkeit bei betroffenen Müttern und Vätern berichtet, wenngleich Arbeitslosigkeit in Längsschnittstichproben nur einen schwachen Risikofaktor für eine anhaltende oder erneut auftretende Gefährdung darstellte. Die mit gering qualifizierten Tätigkeiten verbundenen Belastungen für Eltern wurden bislang noch kaum auf Zusammenhänge zur Entstehung von Kindeswohlgefährdung hin untersucht.“14 5. Fazit Die Studien geben keine Auskunft hinsichtlich der Auswirkungen von Sanktionen. Allerdings können laut einer Studie Erwerbslosigkeit, Mietschulden und damit verbundene soziale Isolation die psychische Stabilität der Eltern und die Erziehungsfähigkeit beeinträchtigen. Mangelnde soziale Teilhabe ist offenbar ein auch großes Problem bei Kindern im Zusammenhang mit dem SGB II-Bezug. Im Rahmen der NRW-Studie konnte ein positiver Zusammenhang zwischen einem geringen sozioökonomischen Status der Bewohner des untersuchten Bezirks und hoher Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung und damit eine Häufung von Fällen der Kindeswohlgefährdung festgestellt werden. Laut den Ausführungen des Handbuchs zur Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB sei Einkommensarmut ein unstrittiger Belastungsfaktor im Leben von Kindern. Ihm komme beim Verständnis der Entstehung von Kindeswohlgefährdung jedoch nur eine eher geringe Rolle zu, da für sich genommen die negativen Effekte eines Aufwachsens in Einkommensarmut im Mittel weit unterhalb der Schwelle zur Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB lägen. *** 14 Reinhold/Kindler (2006), Was ist über familiäre Kontexte, in denen Gefährdungen auftreten, bekannt? In: Kindler H., Lillig S., Blüml H., Meysen T. & Werner A. (Hg.). Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München: Deutsches Jugendinstitut e.V., Kapitel 19-1, 19-2, https://www.dresden.de/media/pdf/jugend/jugend-kinderschutz/asd_handbuch_gesamt.pdf (zuletzt abgerufen am 18. Mai 2017).