Deutscher Bundestag Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Hinblick auf das „Regelsatzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2011 Deutscher Bundestag WD 6 – 3000-026/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 2 Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Hinblick auf das „Regelsatzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Aktenzeichen: WD 6 – 3000-026/11 Abschluss der Arbeit: 23. Februar 2011 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) 4 3. Das „Regelsatzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts 6 4. Der Vorlagebeschluss des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein- Westfalen zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) 10 5. Diskussion in der wissenschaftlichen Literatur: Auswirkungen des Hartz IV-Urteils auf das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) 12 5.1. Dr. Karl-Heinz Hohm, Richter am Sozialgericht Aurich 13 5.2. Dr. Ralf Rothkegel, ehemaliger Richter am Bundesverwaltungsgericht 15 5.3. Dr. Judith Brockmann, Lehrbeauftragte der Universität Hamburg, vertritt zzt. eine Professur für Sozial- und Verwaltungsrecht an der Hochschule Neubrandenburg 16 5.1. Thorsten Kingreen, Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg 17 5.2. Georg Classen und Ibrahim Kanalan, Flüchtlingsrat Berlin e.V. 18 6. Fazit 19 7. Literaturverzeichnis 20 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 4 1. Einleitung Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wird nachfolgend kurz in seinen Grundzügen dargestellt . Von Bedeutung für die Frage, inwieweit das sog. „Regelsatzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Auswirkungen auf das AsylbLG hat, sind vor allem die §§ 2, 3, und 6 AsylbLG. Was entsprechend der Aufgabenstellung „zwingend“ am AsylbLG infolge des Urteils des BVerfG geändert werden müsste, kann allerdings in der vorliegenden Ausarbeitung nicht abschließend beantwortet werden. Insofern bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird, das die Regelungen über Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG derzeit überprüft. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat im Juli 2010 einen entsprechenden Vorlagebeschluss gefasst, worauf unter Punkt 4 näher eingegangen wird. Allerdings sind in der wissenschaftlichen Diskussion eine Reihe von Argumenten angeführt, wonach vermutlich die Höhe und das Zustandekommen der Grundleistungen im AsylbLG vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungsgemäß angesehen werden. Dies wird ausführlicher unter Punkt 5 dargestellt. 2. Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Das AsylbLG ist am 1. November 1993 in Kraft getreten.1 Die Leistungssätze im AsylbLG sind seitdem nicht angepasst worden. Als Folge der Nichtanpassung der Grundleistungen für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 AsylbLG hat sich der Abstand zu den Sozialhilfeleistungen nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) „beträchtlich vergrößert“.2 Als das AsylbLG in Kraft trat, lag der Bezug von Geldleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG 20 Prozent unter dem Regelsatz der Sozialhilfe, dieser Abstand hat aufgrund der Erhöhung der Regelsätze und des Anstiegs der Verbraucherpreise zugenommen. Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG erhalten diejenigen, „die über eine Dauer von 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben“, Leistungen nach SGB XII. Aus dem Kontext mit § 23 Abs. 2 SGB XII wird deutlich, dass es sich bei den nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewährenden Leistungen (sog. Analogleistungen) nicht um solche des Sozialhilferechts handelt. Denn diese sind für den in § 1 AsylbLG aufgeführten Personenkreis, zu denen weiterhin auch die Untergruppe der durch § 2 Abs. 1 AsylbLG Privilegierten gehört, aus dem SGB XII herausgenommen worden.3 1 BGBl. I S. 1865. 2 HOHM, Karl-Heinz (2010). Menschenwürdiges Existenzminimum für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz : Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis (ZFSH), 49, (5), S 270. 3 WAHRENDORF, Volker, § 23 SGB XII, Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer: GRUBE/WAHRENDORF, SGB XII Sozialhilfe, 3. Auflage 2010, Rn 1-5. § 23 Abs. 2 SGB XII lautet: „Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten keine Leistungen der Sozialhilfe.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 5 Leistungsberechtigt sind gemäß § 1 AsylbLG Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die „1. eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz besitzen, 2. über einen Flughafen einreisen wollen und denen die Einreise nicht oder noch nicht gestattet ist, 3. wegen des Krieges in ihrem Heimatland eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 oder § 24 des Aufenthaltsgesetzes oder die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1, Abs.4a oder Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes besitzen 4. eine Duldung nach § 60 des Aufenthaltsgesetzes besitzen, 5. vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, 6. Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder der in den Nummern 1 bis 5 genannten Personen sind, ohne dass sie selbst die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, oder 7. einen Folgeantrag nach § 71 des Asylverfahrensgesetzes oder einen Zweitantrag nach § 71a des Asylverfahrensgesetzes stellen“. Es handelt sich also unter anderem um Ausländer, die um Asyl nachsuchen; Ausländer, die das so genannte Flughafenverfahren nach § 18a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) durchlaufen; Bürgerkriegsflüchtlinge ; Ausländer, die aus humanitären Gründen leistungsberechtigt sind oder Ausländer , die ausreisepflichtig sind, deren Abschiebung aber vorübergehend befristet ausgesetzt wurde.4 Das AsylbLG sieht gemäß § 3 Grundleistungen vor, die einen menschenwürdigen Aufenthalt in der Bundesrepublik ermöglichen. Sie sollen den notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege sowie an Gebrauchsgegenständen und Verbrauchsgütern des Haushalts decken – diese Grundleistungen werden grundsätzlich in Form von Sachleistungen erbracht. Zusätzlich zu den Grundleistungen wird ein monatliches Taschengeld von 40,90 Euro von Beginn des 15. Lebensjahres an bzw. von 20,45 Euro bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres gezahlt (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylbLG). Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) können Leistungen in Form von Wertgutscheinen oder Geldleistungen gewährt werden. Der Haushaltsvorstand erhält 184,07 Euro, Haushaltsangehörige bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres 112,48 Euro, Haushaltsangehörige von Beginn des 8. Lebensjahres an 158,50 Euro monatlich. Hinzu kommen die bereits erwähnten notwendigen Kosten für Unterkunft , Heizung und Hausrat (§ 3 Abs. 2 AsylbLG). In dem Gesetz stehen noch die DM-Beträge. Sie werden nach dem offiziellen Umrechnungskurs (1,95583) umgerechnet. 4 SCHNEIDER, Sabine (2011): Soziale Leistungen an ausländische Flüchtlinge – Asylbewerberleistungsgesetz. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.). Übersicht über das Sozialrecht 2010/2011. Bonn: BW Bildung und Wissen, S. 946f. http://www.bmas.de/portal/10028/uebersicht__ueber__das__sozialrecht.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 6 § 4 AsylbLG regelt die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt. Danach werden die Kosten der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung, die Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstige Leistungen, die zur Genesung, Besserung oder Linderung von Krankheiten oder deren Folgen beitragen sollen bei akuten Erkrankungen und Beschwerden übernommen . Werdende Mütter und Wöchnerinnen erhalten ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, z.B. Hebammenhilfe sowie Arznei-,Verband- und Heilmittel (§ 4 Abs. 2 AsylbLG). In § 4 Abs. 3 AsylbLG heißt es: „Die zuständige Behörde stellt die ärztliche und zahnärztliche Versorgung einschließlich der amtlich empfohlenen Schutzimpfungen und medizinisch gebotenen Vorsorgeuntersuchungen sicher. Soweit die Leistungen durch niedergelassene Ärzte oder Zahnärzte erfolgen, richtet sich die Vergütung nach den am Ort der Niederlassung des Arztes oder Zahnarztes geltenden Verträgen nach § 72 Abs. 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Die zuständige Behörde bestimmt, welcher Vertrag Anwendung findet.“ Gemäß § 6 AsylbLG werden über die Grundleistungen hinaus auch sonstige Leistungen gewährt: „( 1) Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistungen zu gewähren. (2) Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes besitzen und die besondere Bedürfnisse haben, wie beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen , die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wird die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe gewährt.“ Die Aufzählung im Gesetz ist nicht abschließend - sonstige Leistungen können auch in anderen, nicht ausdrücklich genannten Fällen gewährt werden. Zu den besonderen Bedürfnissen von Kindern zählen zum Beispiel Schulsachen und Kosten für die Teilnahme an einem Schulausflug oder einer Klassenfahrt. Während § 6 Abs. 1 als Ermessensnorm ausgestaltet ist, beinhaltet Abs. 2 eine Soll-Vorschrift.5 3. Das „Regelsatzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat am 9. Februar 2010 die Bemessung der so genannten Hartz-IV-Regelsätze nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für verfassungswidrig erklärt.6 5 SCHNEIDER, a.a.O., S. 950. 6 BVerfGE 1 BvL 1, 3, 4/09 vom 9. Februar 2010, Abs. 210. Das Urteil wird nach den Absatz-Nr. 1-220 zitiert. Es ist im Internet abrufbar unter: http://www.bverg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 7 Das BVerfG hat entschieden, dass sowohl die Bestimmungen des SGB II über die Regelleistungen für Erwachsene und für schulpflichtige Kinder sowie die Koppelung der Anpassung der Regelleistungen an die Entwicklung des aktuellen Rentenwertes in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht verfassungskonform sind.7 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ aus Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG beinhalte demnach den Auftrag an den Gesetzgeber, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukomme , die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminiums verbunden sind. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums habe neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. „Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“8 Der Umfang der zu gewährenden Leistungen kann nicht, so das Bundesverfassungsgericht, unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. „Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.“ 9 Ob der Gesetzgeber das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bliebe ihm überlassen. Das Bundesverfassungsgericht erklärt ausdrücklich, dass sich der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nur auf diejenigen Mittel erstreckt, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Dabei definiert das Gericht das Existenzminimum als ein Grundrecht, das sowohl die „physische Existenz“ mit Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ umfasst. Denn, so das Bundesverfassungsgericht, „der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“10 Der Gesetzgeber hat, so das Gericht, einen „Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums. Dieser Gestaltungsspielraum ist „von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen 7 BVerfGE, a.a.O., Abs. 210 und Abs. 214. S. auch SARTORIUS, Ulrich (2010). „Hartz-IV“ mit dem Grundgesetz unvereinbar – Neue Regeln im Recht der Existenzsicherung: Anwalt/Anwältin im Sozialrecht (ASR), S. 149. 8 BVerfGE, a.a.O., Abs. 133. 9 BVerfGE, a.a.O., Abs. 138. 10 BVerfGE, a.a.O., Abs. 135. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 8 Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht.“11 Das Gericht hat klare Vorgaben für das Verfahren der Bemessung gemacht: „Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht , zu bemessen.“ Das Grundgesetz schreibt für die Bemessung des Bedarfs keine bestimmte Methode vor, der Gesetzgeber darf diese „im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit“ selbst auswählen. Abweichungen von dieser Methode muss er allerdings sachlich rechtfertigen.12 Dieser Festlegung durch das Verfassungsgericht wird in der wissenschaftlichen Literatur ein hoher Stellenwert eingeräumt: „Der Grundsatz der Folgerichtigkeit ergibt somit das wichtigste Kriterium für die Prüfung der „Tragfähigkeit“ des gesetzgeberischen Vorgehens bei der Leistungsbemessung .“13 Das Bundesverfassungsgericht hat auch geprüft, ob die Regelsätze gemäß §§ 20 und 28 SGB II evident unzureichend sind, was es verneint hat. Wichtig erscheinen allerdings die Begründungen des Gerichts für eine verfassungsrechtliche Kontrolle, da das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefert. „Es erfordert aber eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin , ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist. Um eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein.“14 Prüfungsmaßstab für das Bundesverfassungsgericht ist also, ob der Gesetzgeber für die Bemessung der Regelsätze ein „im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat.“15 Der Gesetzgeber muss danach, um eine solche verfassungsrechtliche Kontrolle zu ermöglichen, die Methoden und Berechnungsschritte zur Bestimmung des Existenzminimums „nachvollziehbar offenlegen“. Ist dieses transparente Verfahren nicht hinreichend erfüllt, „steht die Ermittlung 11 BVerfGE, a.a.O., Abs. 138. 12 BVerfGE, a.a.O., Abs. 139. 13 ROTHKEGEL, Ralf (2010a). Ein Danaergeschenk für den Gesetzgeber. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 – 1 Bvl 1, 3, 4/09. In: Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis (ZFSH), 49, (3), S. 138. 14 BVerfGE, a.a.O., Abs. 142. 15 BVerfGE, a.a.O., Abs. 143. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 9 des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.“16 Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Bemessung der Regelsätze nach dem SGB II den im Urteil entwickelten Prüfungsmaßstäben nicht genügt. Unter anderem beanstandet das Gericht, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 nicht tragfähig ausgewertet wurde .17 Es seien prozentuale Abschläge vorgenommen worden, die „ins Blaue hinein“ geschätzt und abgezogen worden seien.18 Zudem stelle die Orientierung an der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts nach § 68 SGB VI einen „sachwidrigen Maßstabwechsel“ dar.19 In Bezug auf die Regelsätze für schulpflichtige Kinder gemäß § 28 SGB II hat das Gericht beanstandet , dass der Gesetzgeber das Existenzminimum eines minderjährigen Kindes, das mit seinen Eltern in einer häuslichen Gemeinschaft lebt, gar nicht ermittelt hat. Sehr grundsätzlich führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen . Ihr Bedarf, der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist. Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen hierzu unterlassen. Sein vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber den Regelleistungen für einen alleinstehenden Erwachsenen beruht auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung.“20 Das Bundesverfassungsgericht weist darauf hin, dass zusätzlicher Bedarf vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten ist, denn zu ihrem existenziellen Bedarf gehört die Erfüllung schulischer Pflichten. Ohne Deckung dieser Kosten droht Kindern der Ausschluss von Lebenschancen .21 Zudem beanstandet es, dass eine einheitliche Altersgruppe von Kindern bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres gebildet wurde, obwohl „sich der Bedarf eines schulpflichtigen Kindes in der Pubertät offensichtlich von dem Bedarf eines Säuglings oder Kleinkindes unterscheidet .“22 Aus der wissenschaftlichen Diskussion des Urteils wird exemplarisch auf die Erörterung von Rothkegel (2010a) hingewiesen. Dieser richtet das besondere Augenmerk auf das „Transparenzgebot“. Es bedeutet, so Rothkegel, eine konsequente Weiterentwicklung der bisherigen Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts für die „Grundrechtseffektuierung durch Verfahren “. Die Bedeutung des Hartz IV-Urteils geht seiner Auffassung nach weit über den Verfahrensgegen- 16 BVerfGE, a.a.O., Abs. 144. 17 BVerfGE, a.a.O., Abs. 174. 18 BVerfGE, a.a.O., Abs. 175. 19 BVerfGE, a.a.O., Abs. 184. Vgl. auch ROTHKEGEL, Ralf (2010a), a.a.O., S. 138. 20 BVerfGE, a.a.O., Abs. 191. 21 BVerfGE, a.a.O., Abs. 192. 22 BVerfGE, a.a.O., Abs. 196. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 10 stand des Ausgangsverfahrens hinaus, denn Transparenz kann jetzt „für alle grundrechtsrelevanten Bereiche gefordert werden, und zwar insbesondere auch für solche, die der Gesetzgeber als seine ureigene Domäne besetzt hält und aufgrund seiner Einschätzungsprärogative von gerichtlicher Kontrolle freigehalten wissen möchte. Das Transparenzgebot hat zur Konsequenz, dass der Gesetzgeber bei beurteilenden und/oder wertenden Festsetzungen mit Grundrechtsbezug den Vorgang seiner normativen Vergewisserung über die Richtigkeit seiner Beurteilung und/oder Wertung, insbesondere deren Hintergründe, seine tatsächlichen Annahmen und die Methode seines Vorgehens, in den Formen transparent machen muss, wie es in Gestalt veröffentlichter Materialien auch sonst bei der Begründung von Gesetzen geschieht.“23 4. Der Vorlagebeschluss des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Das LSG NRW hat am 26. Juli 2010 mit ausdrücklichem Verweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen erklärt, dass die Regelungen über Grundleistungen nach § 3 AsylbLG gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen. Zudem seien die Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG evident unzureichend und ihre Bemessung sei „ins Blaue hinein“ ohne Anwendung eines verfassungsgemäßen Verfahrens zur Bemessung der sicherzustellenden Bedarfe erfolgt. 24 Im konkreten Fall verstößt nach Ansicht des Gerichts die Leistungsbemessung nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 AsylbLG gegen das vom Bundesverfassungsgericht erkannte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums . Gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG hat das Landessozialgericht deshalb das Verfahren ausgesetzt , um nach § 80 Abs. 1 BVerfGG unmittelbar die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Bei dem Bundesverfassungsgericht ist das Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Grundleistungen im AsylbLG unter dem Aktenzeichen 1 BvL 10/10 anhängig. Das Bundesverfassungsgericht hat dem hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) Gelegenheit zur Stellungnahme in diesem Verfahren gegeben, die dieser mit seinen als Anlage 1 beigefügten Äußerungen ergriffen hat. Ebenso ist die Stellungnahme der Caritas als Anlage 2 beigefügt. 23 ROTHKEGEL, Ralf (2010a), a.a.O., S. 141. 24 Leitsätze aus dem Vorlagebeschluss des LSG NRW, Az L 20 AY 13/09 vom 26. Juli 2010. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 11 Das LSG stellt in seinen Entscheidungsgründen fest, dass das vom „BVerfG erkannte, unverfügbare und staatlich einzulösende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums “ nicht davon abhängt, ob der Betroffene die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland lebt. Die Menschenwürde, so das Sozialgericht, ist kein sog. „Deutschengrundrecht“, sondern „ein Menschenrecht mit universaler Geltung“.25 Das Landessozialgericht hält die dem Kläger gewährte Grundleistung gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG für evident unzureichend. Dazu führt das Gericht folgende Überlegung aus: „Allein das menschenwürdige Existenzminimum wird (…) auch im Rahmen von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II oder SGB XII sichergestellt. Regelmäßig erst mit diesen Grundsicherungsleistungen wird der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums (…) eingelöst. Den (…) Geldleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 AsylbLG entspricht funktional die sog. Regelleistung des § 20 SGB II bzw. der Regelsatz des § 28 SGB XII.“ Allerdings ist aus den Beiträgen nach SGB II und SGB XII auch der Hausrat zu bestreiten, der im Rahmen von § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG zusätzlich zu den gewährten Geldleistungen zu stellen ist.26 Im konkreten Fall sind die Grundleistungen nach dem AsylbLG gut 31 Prozent niedriger, als die Regelsätze in der Grundsicherung oder in der Sozialhilfe.27 Dieses erhebliche Unterschreiten der Leistungen zur Sicherstellung des Existenzminimums führt nach Ansicht des Gerichts, da es um die „Absicherung „grundlegender, nicht mehr unterschreitungsfähiger Bedürfnisse geht“, zu „evident unzureichenden Leistungen für das Existenzminimum (…)“.28 Das Gericht beanstandet nicht, dass der Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der Dauer ihres Aufenthaltes abhängig gemacht wird. „Anknüpfend an das fehlende Dauerbleiberecht ist es jedenfalls nicht grundsätzlich zu beanstanden, wenn Leistungen für den betroffenen Personenkreis nach dem AsylbLG von Grundleistungen wie nach dem SGB II oder SGB XII abweichen (…).“29 Allerdings ergibt sich, so das Gericht, daraus keine Rechtfertigung dafür, „das soziokulturelle Existenzminimum nach dem SGB II bzw. SGB XII erheblich (…) zu unterschreiten“.30 25 LSG NRW, a.a.O., Rn 84. 26 LSG NRW, a.a.O., Rn 87. 27 LSG NRW, a.a.O., Rn 87. 28 LSG NRW, a.a.O., Rn 88. 29 LSG NRW, a.a.O., Rn 89. 30 LSG NRW, a.a.O., Rn 90. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 12 Das Gericht sieht die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Verfahrensgrundsätze zur Bemessung von Regelsätzen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im AsylbLG missachtet: „Ein transparentes und sachgerechtes Verfahren, durch welches der tatsächliche Bedarf realitätsgerecht bemessen wird (…), ist im Falle der Bemessung der Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG nicht angewandt worden. Auch eine sachgerechte fortwährende Überprüfung und Weiterentwicklung der Bedarfsbemessung und Leistungsregelung (…) ist nicht feststellbar. Seiner gesetzgeberischen (…) Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen (…), konnte der Gesetzgeber schon deshalb nicht genügen, weil er entsprechende Methoden und Berechnungsschritte ersichtlich nicht herangezogen hat.“31 Das Landessozialgericht bemängelte, dass bereits bei Schaffung des AsylbLG im Jahre 1993 keinerlei Ermittlungen stattgefunden hätten, die diesen prozeduralen Anforderungen „auch nur ansatzweise “ entgegenkämen. Es handelte sich damals, so das Gericht, um eine freihändige Schätzung „ins Blaue hinein“, die einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider laufe und deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG verstoße.32 Diese Kostenschätzung „kann den Verfahrensanforderungen der Folgerichtigkeit, Transparenz und Sachgerechtigkeit nicht genügen; die geltende Regelung nach § 3 Abs. 1 Satz und Abs. 2 Satz 2 AsylbLG ist dementsprechend bereits aus diesem Grunde verfassungswidrig (…)“, so das Gericht.33 Das Gericht schließt aus, dass allgemein höhere Leistungen über § 6 Abs. 1 AsylbLG erreicht werden können. Keine verfassungsrechtlichen Bedenken hat das Gericht gegen § 2 Abs. 1 AsylbLG.34 Der Vorlagebeschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ist als Anlage 3 beigefügt. 5. Diskussion in der wissenschaftlichen Literatur: Auswirkungen des Hartz IV-Urteils auf das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Im Folgenden wird ein Überblick über einige Stellungnahmen von Experten gegeben, die sich seit vielen Jahren mit dem AsylbLG beschäftigen und Handlungsbedarf für den Gesetzgeber als Konsequenz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehen. 31 LSG NRW, a.a.O., Rn 98. 32 LSG NRW, a.a.O., Rn 99. 33 LSG NRW, a.a.O., Rn 99. 34 LSG NRW, a.a.O., Leitsätze. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 13 5.1. Dr. Karl-Heinz Hohm, Richter am Sozialgericht Aurich Hohm betont, dass mögliche Auswirkungen des Regelsatzurteils des BVerfG auf die Bemessung der Grundleistungen des AsylbLG immer auf der Folie der bereichsspezifischen Besonderheiten des AsylbLG zu bedenken sind.35 Den unterschiedlichen Ausländergruppen, die unter das AsylbLG fallen, ist gemein, dass sie keinen dauerhaft gesicherten ausländer- oder asylrechtlichen Aufenthaltsstatus innehaben und damit ohne dauerhaftes Bleiberecht sind. Die Leistungen nach dem AsylbLG stellen nach der Intention des Gesetzgebers lediglich auf die Bedürfnisse eines regelmäßig nur kurzen vorübergehen den Aufenthaltes im Bundesgebiet ab. Für diese Zeit werden die Grundleistungen nach § 3 Abs. 1 und 2 AsylbLG vom Gesetzgeber als zumutbar angesehen, erläutert Hohm. Hohm folgt der Argumentation des Landessozialgerichts NRW, wonach es sich beim Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht um ein „Deutschengrundrecht “, sondern ein Grundrecht mit universaler Geltung handelt.36 Aber der Gesetzgeber könne, so Hohm, im Rahmen seines sozialpolitischen Gestaltungsspielraums ein für Ausländer mit einem nur vorübergehenden, nicht dauerhaft verfestigten ausländerrechtlichen Status ein eigenständiges Leistungssystem zur Sicherung ihres Lebensunterhalts schaffen.37 Hohm bezieht sich unter anderem auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2006 zur Verfassungswidrigkeit der Anrechnung von Schmerzensgeld auf Leistungen nach dem AsylbLG, in dem festgestellt werde, „Insbesondere ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Art und Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der voraussichtlichen Dauer ihres Aufenthaltes in Deutschland abhängig zu machen.“38 Hohm setzt der „verfassungsrechtlichen Befugnis zur Schaffung eines eigenständigen, existenzsichernden Sozialleistungssystems für Ausländer ohne dauerhaftes Bleiberecht“ allerdings zeitliche Grenzen. Die im Vergleich zu den Grundsicherungs- und Sozialhilfeleistungen deutlich niedrigeren Leistungen für diese Ausländergruppen unterlägen verfassungsrechtlich „einer engen zeitlichen Begrenzung“. Dies gelte auch für die Leistungen, die den betroffenen Ausländern ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen sollen. „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet daher den Gesetzgeber zu einer äußerst gründlichen und sorgfältigen Prüfung, für welchen Zeitraum eine (deutliche) Reduzierung der Grundleistungen im Vergleich zu den Regelleistungen nach dem SGB II und SGB XII noch als grundrechtsgemäß angesehen werden können.“39 35 HOHM, Karl-Heinz (2010). Menschenwürdiges Existenzminimum für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz : Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis (ZFSH), 49, (5), S. 273. 36 HOHM, Karl-Heinz (2010), a.a.O., S. 274. Vgl. auch LSG NRW, a.a.O., Rn 84. 37 HOHM, Karl-Heinz (2010), a.a.O., S. 274. 38 BVerfGE 1 BvR 293/05 vom 11. Juli 2006, Rn 44. 39 HOHM, Karl-Heinz (2010), a.a.O., S. 274. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 14 Hohm bezieht sich auf § 2 Abs. 1 AsylbLG, wonach das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden sei, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Mit dieser Vorschrift des AsylbLG sei eine Sonderregelung für einzelne Gruppen von Leistungsberechtigten geschaffen worden, bei denen wegen des längeren Aufenthalts eine stärkere Angleichung an die Lebensverhältnisse in Deutschland als erforderlich angesehen wird. Durch die entsprechende Heranziehung des SGB XII komme es damit zu einer leistungsrechtlichen Privilegierung . Es handele sich aber bei den nach § 2 AsylbLG zu gewährenden Leistungen nicht um solche des Sozialhilferechts, denn gemäß § 23 Abs. 2 SGB XII ist der Personenkreis nach § 1 AsylbLG aus dem SGB XII herausgenommen worden.40 Hohm erklärt mit Blick auf die Verlängerung der in § 2 AsylbLG genannten Vorbezugszeit der reduzierten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG von zunächst 36 Monaten auf 48 Monate, dass dieser Zeitraum von nunmehr vier Jahren mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr zu vereinbaren sei. Hohm betont, dass mit zunehmender Aufenthaltsdauer die Integration auch bei Ausländern mit ungesichertem Aufenthaltsstatus voranschreite und deren Bedürfnisse nach einem Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe verständlicherweise wachse. Dies gelte vor allem für die außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen untergebrachten Personen. Sie bekämen häufig keine Sach-, sondern Geldleistungen gemäß § 3 Abs. 2 AsylbLG. Vor allem minderjährige Kinder dieser Personengruppe würden mit dem Besuch von Kindergärten, Kindertagesstätten oder Schulen vor besondere Integrationsanforderungen gestellt. Insbesondere durch einen Schulbesuch entstehe, so Hohm, ein zusätzlicher Bedarf in Form notwendiger Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten. „Dabei sollte der bei minderjährigen und insbesondere schulpflichtigen Kindern typischerweise entstehende Bedarf ihrer Funktion nach durch Regelbeträge abgedeckt werden und nicht durch sonstige Leistungen insbesondere nach § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG.“41 Bei § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG handele es sich um eine Ermessensnorm nach der sonstige Leistungen gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgend erklärt Hohm, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, „alle für die Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 AsylbLG existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf und damit realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Basis verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen, wobei ihm hierfür vom Grundgesetz keine bestimmte Methode vorgegeben ist.“42 40 So WAHRENDORF, Volker, § 2 AsylbLG Leistungen in besonderen Fällen: Grube/Wahrendorf, SGB XII Sozialhilfe , 3. Auflage 2010, Rn 1. www.beck-online.de. 41 HOHM, Karl-Heinz (2010), a.a.O., S. 275. 42 HOHM, Karl-Heinz (2010), a.a.O., S. 276. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 15 Den verfassungsrechtlich gebotenen, unverzichtbaren Verfahrensgrundsätzen der Folgerichtigkeit , Transparenz und Sachgerechtigkeit genüge, so Hohm, die derzeitige Bestimmung und Festsetzung der Höhe der Grundleistungen in § 3 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 2 AsylbLG offensichtlich nicht. Hohm moniert ebenso wie das Landessozialgericht NRW, dass die Höhe der Grundleistungen mit Hilfe einer Kostenschätzung erhoben wurde. Hohm bezieht sich auf die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Die Linke.: „Soziale Existenzsicherung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz“, in der es heißt: „Die Bestimmung der Höhe der Grundleistungen im AsylbLG erfolgte 1993 auf der Grundlage von Kostenschätzungen. Dabei war durch die Ergebnisse der Verhandlungen zu Asyl und Zuwanderung vom 6. Dezember 1992 u. a. vorgegeben, dass der Mindestunterhalt während des Asylverfahrens deutlich abgesenkt zu den Leistungen nach dem damaligen BSHG bestimmt werden sollte .“43 Hohm folgert, dass die Beträge in § 3 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 2 AsylbLG, die bis heute unverändert geblieben sind, auf der Grundlage einer bloßen Kostenschätzung festgesetzt wurden. „Ein solches Vorgehen, das sich offensichtlich nicht auf eine fundierte empirische Grundlage stützen kann, stellt eine bloße freihändige Schätzung „ins Blaue hinein“ dar und genügt nicht den verfassungsrechtlichen Verfahrensanforderungen der Folgerichtigkeit, Transparenz und Sachgerechtigkeit. Die geltenden Beträge nach § 3 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 2 AsylbLG seien demnach bereits aus diesem Grunde als verfassungswidrig anzusehen.“ Der Gesetzgeber sei, im Falle der Aufrechterhaltung des AsylbLG in seiner jetzigen Form als unausweichliche Folge des „Regelleistungsurteils“ gehalten, unverzüglich in eine Neubemessung der Beträge nach § 3 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 1 AsylbLG einzutreten. Dies gelte ebenso für § 3 Abs. 1 Satz 5, in dem die Höhe des „Taschengeldes“ für Leistungsberechtigte in Untersuchungs - und Abschiebehaft geregelt sei.44 5.2. Dr. Ralf Rothkegel, ehemaliger Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothkegel betont, dass alle Kernaussagen im Hartz IV-Urteil auf sozialhilfegleiche Leistungen nach dem AsylbLG unmittelbar anwendbar seien. Die Neubemessung des Arbeitslosengeldes II und damit auch der Sozialhilferegelsätze nach den Maßgaben des Hartz IV-Urteils wirke sich darum, so Rothkegel, unmittelbar auch auf die Höhe von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG aus.45 Rothkegel beanstandet wie Hohm, dass nirgends ersichtlich sei, wie die Beträge gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 und Abs. 2 Satz 2 AsylbLG zustande gekommen seien. „Die Umstände der Entstehungsgeschichte des AsylbLG sprechen dafür, dass die bis heute unveränderten Beträge (…) in Umsetzung des sog. Asylkompromisses aus dem Jahre 1992 – also nach ausländer- und finanzpoliti- 43 BT-Drs. 16/9018 vom 30. April 2008, S. 6. 44 HOHM, Karl-Heinz (2010), a.a.O., S. 277. 45 ROTHKEGEL, Ralf (2010b). Konsequenzen des „Hartz IV“-Urteils des Bundesverfassungsgerichts für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 30, (11/12), S. 374. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 16 schen Kriterien – auf der Grundlage einer bloßen Kostenschätzung – und damit ohne fundierte empirische Grundlage – festgesetzt wurden“.46 Es sei nicht ersichtlich, wie die Abstufung gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG zwischen Leistungen für den Haushaltsvorstand und Leistungen für Haushaltsangehörige zustande gekommen sei. § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG beziffere Geldbeträge, die pauschalierend den Bedarfsgegenständen des § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zugeordnet und nach Altersgruppen gestuft sind.47 Rothkegel beanstandet auch die Bemessung der Barbeträge nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG, die nach dem Gesetz der Deckung „persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens“ dienten. Hier gehe es offenbar darum, den Ausländer vor Isolation und Vereinsamung zu bewahren, indem ihm die Geldmittel zur Verfügung gestellt werden, die unbedingt notwendig seien, um Kontakt zur Umwelt zu pflegen, vor allem zu Angehörigen und Freunden in seiner Heimat und in Deutschland , seinem Glauben in Gemeinschaft mit anderen nachzugehen, sich über die Entwicklung der politischen Lage im Herkunftsland von Deutschland aus auf dem Laufenden zu halten. Die Verhinderung von Isolation sei, so Rothkegel, eine zwingende Aufgabe staatlicher Existenzsicherung. „Es ist zumindest nicht im Sinne des Hartz IV-Urteils ‚evident‘, dass das Taschengeld nach § 3 Abs. 1 Satz 4 hierzu ausreicht. Je geringer der Gesetzgeber aber eine Leistung zur Deckung eines existenznotwendigen Bedarfs bemisst, desto mehr schuldet er auf der Grundlage des Hartz IV- Urteils den nachvollziehbaren Beweis einer generellen Auskömmlichkeit der Leistung. Dies gilt in Bezug auf den Barbetrag nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG noch verstärkt, weil er um ein Vielfaches niedriger ist als Sozialhilfeempfängern und Hartz IV-Beziehern zur Gewährleistung ihres soziokulturellen Existenzminimums vom Gesetzgeber zugestanden.“48 Nach Rothkegel muss die bisher unterbliebene, aber vom Gesetz gemäß § 3 Abs. 3 AsylbLG vorgeschriebene Anpassung an die seit 1993 in Bezug auf die existenznotwendigen Bedarfe angestiegenen Lebenshaltungskosten nachgeholt werden (…).49 5.3. Dr. Judith Brockmann, Lehrbeauftragte der Universität Hamburg, vertritt zzt. eine Professur für Sozial- und Verwaltungsrecht an der Hochschule Neubrandenburg Nach Auffassung von Brockmann sind die Sachleistungen gemäß § 3 Abs. 1 AsylbLG durch das Gesetz wertmäßig nicht beschränkt. Hier sei der Bedarf im Einzelfall durch die zuständige Behörde festzusetzen – unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände, der Art der Unterbringung und der örtlichen Gegebenheiten. Insoweit seien die nach § 3 Abs. 1 AsylbLG zu erbringenden Sachleistungen, nicht offensichtlich unzureichend.50 46 ROTHKEGEL, Ralf (2010b), a.a.O., S. 377. 47 ROTHKEGEL, Ralf (2010b), a.a.O., S. 377. Vgl. auch BT-Drs. 12/4451 vom 2. März 1993, S. 8. 48 ROTHKEGEL, Ralf (2010b), a.a.O., S. 377. 49 ROTHKEGEL, Ralf (2010b), a.a.O., S. 378. 50 BROCKMANN, Judith (2010). Das Asylbewerberleistungsgesetz und das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. In: Soziale Sicherheit. Zeitschrift für Arbeit und Soziales, Heft 9, S. 314. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 17 Brockmann führt aus, dies müsse bei den Leistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG ganz anders bewertet werden. „Unterstellt, dass die Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II und SGB XII den zur Sicherung des Existenzminimums notwendigen Bedarf decken, dienen die dortigen Leistungssätze – von derzeit 359 Euro für alleinstehende Erwachsene – als Anhaltspunkt dafür, welche Leistungen zur Existenzsicherung (abgesehen von der Unterkunft) erforderlich sind. Bereinigt man den dort festgesetzten Betrag um den Anteil von Hausrat, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Regelleistung für erwachsene Leistungsbezieher nach § 3 Abs. 2 AsylbLG um 32,6 Prozent unter dem anerkannten sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegt.“ Es erscheine ausgeschlossen, dass es Gründe gebe, die einen derart erheblich verminderten Bedarf erklären könnten. Damit seien die Regelleistungen als evident unzureichend zu betrachten. „Selbst wenn man dieser Betrachtung nicht folgen will, kommt man zu einem Verfassungsverstoß wegen der fehlenden Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Bedarfsermittlung und Leistungsbzw . Wertfestsetzung und jedenfalls wegen der fehlenden Anpassung der Leistungshöhe. Letzteres gilt auch für den Fall der neben den Sachleistungen gewährten Taschengeldbeträge, die zur freien Verfügung stehen.“51 Brockmann erklärt, dass weder die deutlich unter dem derzeitigen sozialhilferechtlichen Bedarf liegenden Regelsätze noch ihre fehlenden Anpassungen seit 1993 den in der Entscheidung des BVerfG aufgestellten Maßstäben standhielten und deswegen mit der Verfassung nicht vereinbar seien. Der bei Erlass der Regelung nach § 3 Abs. 2 AsylbLG vorgenommene Abschlag von 20 Prozent gegenüber den seinerzeit maßgeblichen sozialhilferechtlichen Regelsätzen sei nicht nachvollziehbar, weder für die Bemessung des Bedarfs von Kindern, noch von Erwachsenen. Zudem sei ein niedrigerer Bedarf von Menschen, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, nicht nachvollziehbar ermittelt worden. Es gebe keine geeigneten statistischen Erhebungsmethoden . „Die verschiedentlich vorgebrachten Gründe für einen Bedarf, der signifikant niedriger ist als das sozialhilferechtliche Existenzminimum, sind entweder inhaltlich gänzlich sachfremd oder vermögen nicht einen um 20 Prozent (…) oder heute gut 30 Prozent geringeren Bedarf zu rechtfertigen.“52 Derzeit sei weder die einfachgesetzliche, noch die bestehende verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Überprüfung der Regelleistungshöhe erfüllt. Angesichts des Anstiegs der Verbraucherpreise seit 1993 müsse, so Brockmann, von der Notwendigkeit einer Anpassung der Leistungssätze ausgegangen werden.53 5.1. Thorsten Kingreen, Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg Kingreen erläutert, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unter den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen sowie ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kul- 51 BROCKMANN, Judith (2010), a.a.O., S. 314. 52 BROCKMANN, Judith (2010), a.a.O., S. 315. 53 BROCKMANN, Judith (2010), a.a.O., S. 317. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 18 turellen und politischen Leben falle. Das Gericht halte die Höhe der Leistungen des SGB II nicht für evident unzureichend. Das aber treffe für die Leistungssätze des AsylbLG nicht zu: „Die Leistungsansprüche der unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallenden Personen liegen (…) erheblich unter denjenigen der allgemeinen Grundsicherung. Zwar gibt das Gesetz den Wert der Sachleistungen naturgemäß nicht vor. es ist aber naheliegend, dass sich die Behörden an der Höhe der Geldleistungen orientieren werden, und diese betragen im Durchschnitt gerade noch 65 % der sonst gewährten Hilfen zum Lebensunterhalt. Wenn man davon ausgeht, dass auch diese allgemeinen Grundsicherungsleistungen nicht mehr als das Existenzminimum abdecken sollen, und man einbezieht, dass die Leistungen im Asylbewerberleistungsgesetz auf dem Niveau des Jahres 1993 eingefroren worden sind, spricht alles für eine evidente Unangemessenheit.“54 Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil erklärt, dass die Bemessung der Regelsätze sich auf ein Verfahren stützen müsse, das die für die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen realitätsgerecht bemesse. Es gehe, so Kingreen, um die „prozedurale Systemkonsistenz“. „Nach diesen Maßstäben war im Asylbewerberleistungsrecht schon das 1993 gewählte Verfahren jedenfalls bei Kindern sachwidrig, da ihre Geldleistungsansprüche pauschal um bis zu 40% unter denjenigen Erwachsener liegen. Die insoweit einschlägige Passage des Hartz IV-Urteils lässt sich eins zu eins auf das Asylbewerberleistungsrecht übertragen: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen . Ihr Bedarf, der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist“.“55 5.2. Georg Classen und Ibrahim Kanalan, Flüchtlingsrat Berlin e.V. Auch Classen und Kanalan betonen, dass ihrer Auffassung nach die Regelsätze nach dem AsylbLG im Gegensatz zu den Regelsätzen des SGB II und SGB XII„evident ungeeignet“ seien: „Denn es ist offensichtlich, dass die für Erwachsene um ca. 37%, für Kinder bis zu 47% unter den Regelsätzen des SGB II/XII liegenden, vielerorts zu wesentlichen Anteilen nur als Sachleistung erbrachten Grundleistungen nach AsylbLG nicht mehr das verfassungsrechtlich garantierte menschenwürdige Existenzminimum decken können (…). Wertmäßig erreichen die tatsächlich zur Auslieferung kommenden Sachleistungen – u.a. aufgrund unzureichender Quantität, Qualität und Proportionalität der Lebensmittel- und Hygienepakete, des Fehlens geeigneter Kleidung in der Kleiderkammer – in der Praxis oft nur etwa 40% der Regelleistungen nach SGB II/XII.“56 54 KINGREEN, Thorsten (2010). Schätzungen “ins Blaue hinein”. Zu den Auswirkungen des Hartz IV-Urteils auf das Asylbewerberleistungsgesetz. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), 9, S. 559. 55 KINGREEN, Thorsten (2010)., a.a.O., S. 560. 56 CLASSEN Georg; KANALAN, Ibrahim (2010). Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes. In: info also, 6, S. 245. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 19 Classen und Kanalan kritisieren ebenso das Zustandekommen der Regelsätze nach dem AsylbLG und halten sie mit Blick auf das Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig . „Das AsylbLG ist auch deshalb verfassungswidrig, weil es die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten prozeduralen Anforderungen zur Festlegung des Existenzminimums nicht einmal ansatzweise erfüllt. Die Beträge nach § 3 AsylbLG sind mangels Bedarfsbemessungssystems, wegen fehlender Transparenz ihres Zustandekommens sowie der seit 1993 ausgebliebenen Anpassung an die Preisentwicklung verfassungswidrig. Eine am Bedarf orientierte Begründung von Höhe und Umfang der Leistung ist weder aus der Begründung zum AsylbLG i.d.F. von 1993 ersichtlich noch aus den zahlreichen Novellierungen des AsylbLG erkennbar. Dafür waren allein haushalts- und migrationspolitische Erwägungen maßgeblich. Es ging darum, die Ausgaben zu senken und keinen „Anreiz“ für die Einreise und das Hierbleiben zu schaffen. Bei Kindern ist die Verfassungswidrigkeit offensichtlich. Das Bundesverfassungsgericht weist darauf hin, dass die Bedarfe sich an den kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten haben. Ein Abschlag von 40% gegenüber Erwachsenen überzeugt nicht. (…) Der Gesetzgeber ist angesichts der 1993 ausgebliebenen Anpassung der AsylbLG-Anpassungen an die Entwicklung der Preise und Bedarfe auch seiner „Beobachtungspflicht“ nicht nachgekommen. Das Bundesverfassungsgericht schreibt eine stetige Aktualisierung des Bedarfs vor. Neben Preissteigerungen etwa bei Lebensmitteln oder dem ÖPNV wurden auch Änderungen bei den Bedarfen, etwa die Entwicklung bei den modernen Kommunikationsmitteln (z.B. Internetzugang), außer Acht gelassen.“57 6. Fazit In der wissenschaftlichen Debatte über die Konsequenzen des Hartz IV-Urteils für das AsylbLG sind sich viele Fachleute darin einig, dass die Regelungen zu den Barbeträgen der Grundleistungen in § 3 Abs. 1 und 2 AsylbLG einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht standhalten. Sowohl die Höhe der Grundleistungen, die mithilfe einer Kostenschätzung vorgenommen wurde und die die sozialhilferechtlichen Regelsätze deutlich unterschreitet, ist nach einhelliger Ansicht der hier zitierten Autoren verfassungswidrig, als auch die Tatsache, dass der Bemessung keine nachvollziehbare statistische Methode zugrunde liegt. Wie bereits in der Einleitung erläutert, stellt die vorliegende Ausarbeitung kein abschließendes Ergebnis dar. Das Bundesverfassungsgericht ist derzeit mit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Grundleistungen nach dem AsylbLG befasst und dessen Entscheidung ist abzuwarten. 57 CLASSEN, Georg; KANALAN, Ibrahim (2010), a.a.O., S. 247. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 – 3000-026/11 Seite 20 7. Literaturverzeichnis BROCKMANN, Judith (2010). Das Asylbewerberleistungsgesetz und das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. In: Soziale Sicherheit. Zeitschrift für Arbeit und Soziales, 9, S. 310-317. CLASSEN, Georg; KANALAN, Ibrahim (2010). Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes . In: info also, 6, S. 243-249. HOHM, Karl-Heinz (2010). Menschenwürdiges Existenzminimum für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In: Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis (ZFSH), (49), 5, S. 269-277. KINGREEN, Thorsten (2010). Schätzungen „ins Blaue hinein“: Zu den Auswirkungen des Hartz IV-Urteils des Bundesverfassungsgerichts auf das Asylbewerberleistungsgesetz. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), 9, S. 558-562. ROTHKEGEL, Ralf (2010a). Ein Danaergeschenk für den Gesetzgeber. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 – 1 Bvl 1, 3, 4/09. In: Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis (ZFSH SGB), (49), 3, S. 135-146.(Wird in den Fußnoten mit Angabe des Buchstabens hinter der Jahreszahl zitiert). ROTHKEGEL, Ralf (2010b). Konsequenzen des „Hartz IV“-Urteils des Bundesverfassungsgerichts für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), (30), 11/12, S. 373-378.(Wird in den Fußnoten mit Angabe des Buchstabens hinter der Jahreszahl zitiert.) SARTORIUS, Ulrich (2010). „Hartz-IV“ mit dem Grundgesetz unvereinbar – Neue Regeln im Recht der Existenzsicherung. In: Anwalt/Anwältin im Sozialrecht (ASR), S. 149-153. WAHRENDORF, Volker (2010), Kommentar zu § 2 AsylbLG und zu § 23 SGB XII. In: Grube /Wahrendorf, SGB XII Sozialhilfe, 3. Auflage 2010.