© 2016 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 025/16 Ausschluss von EU-Ausländern von Grundsicherungsleistungen Verfassungsrechtliche Betrachtung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 2 Ausschluss von EU-Ausländern von Grundsicherungsleistungen Verfassungsrechtliche Betrachtung Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 025/16 Abschluss der Arbeit: 9. März 2016 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Meinungsstand bezüglich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Ausnahme von Grundsicherungsleistungen 5 2.1. Verfassungsmäßigkeit eines generellen Ausschlusses 5 2.1.1. Bejahende Ansicht 5 2.1.2. Vermittelnde Ansicht 6 2.1.3. Verneinende Ansicht 7 2.2. Zeitlicher Zuschnitt der Ausnahme von Grundsicherungsleistungen 8 3. Fazit und Ausblick 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 4 1. Einleitung Der Bezug von Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger in Deutschland beschäftigte zuletzt sowohl die nationale und europäische Rechtsprechung als auch den politischen Diskurs. Angesichts befürchteter finanzieller Engpässe der öffentlichen Kassen sowie vermeintlicher Fehlanreize im Hinblick auf die Zuwanderung werden in der öffentlichen Diskussion wiederholt Erschwerungen der Anspruchsvoraussetzungen bis hin zur generellen Ausnahme zur Sprache gebracht . Das für die Grundsicherung für Arbeitsuchende maßgebliche Zweite Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bestimmt in § 7 Abs. 1 SGB II die nach diesem Gesetz Leistungsberechtigten. Grundvoraussetzungen sind nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II neben der Einhaltung von Altersgrenzen und dem gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet die Erwerbsfähigkeit und Hilfebedürftigkeit. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nimmt jedoch solche Ausländerinnern und Ausländer für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts von dem Anwendungsbereich des Gesetzes aus, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II enthält einen weiteren Ausnahmetatbestand zum Nachteil solcher Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. In beiden Fällen betrifft die Ausnahme auch die Familienangehörigen. Mit diesen Ausnahmen macht der deutsche Gesetzgeber von dem Spielraum Gebrauch, den der europäische Gesetzgeber in Art. 24 Abs. 2, 14 Abs. 4 lit. b RL 2004/38/EG1 (sog. Freizügigkeitsrichtlinie) vorsieht. Auf der Ebene des Europarechts sind Fragen des Ausschlusses von Unionsbürgern von (deutschen ) Grundsicherungsleistungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bereits weitgehend geklärt. In den Rechtssachen Dano2, Alimanovic3 und jüngst García-Nieto4 erklärte der EuGH die hiesige Gesetzeslage für europarechtskonform. Der vorliegende Sachstand behandelt nun das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis, in dessen Lichte die geltende Rechtslage und mögliche Reformvorschläge zu sehen sind. 1 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten , zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 54/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG. 2 EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Az: C-333/13. 3 EuGH, Urteil vom 15. September 2015, Az: C-67/14. 4 EuGH, Urteil vom 25. Februar 2016, Az: C-299/14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 5 2. Meinungsstand bezüglich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Ausnahme von Grundsicherungsleistungen 2.1. Verfassungsmäßigkeit eines generellen Ausschlusses Ob Unionsbürger von Grundsicherungsleistungen in Deutschland überhaupt ausgeschlossen werden können, ist in der nationalen Rechtsprechung sowie der Literatur äußerst umstritten. Im Allgemeinen lassen sich drei Hauptmeinungsströmungen herausarbeiten, welche die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit unbedingt bejahen, bedingt bejahen sowie verneinen. Im Gegensatz zum Regelungskomplex von Sozialleistungen für Asylbewerber5 liegt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) konkret hierzu noch nicht vor. 2.1.1. Bejahende Ansicht Zur ersten Meinungsgruppe gehören all diejenigen, die einen bedingungslosen Ausschluss von Unionsbürgern von Grundsicherungsleistungen dem Grunde nach für verfassungsrechtlich unbedenklich halten. Die Bedingungslosigkeit in diesem Sinne betrifft dabei nicht die zeitliche Komponente eines Ausschlusses (s. dazu 2.2.). Vielmehr soll dies lediglich verdeutlichen, dass nicht verlangt wird, dass andere Sozialleistungssysteme anspruchsbegründend greifen. Vertreter dieser Meinungsgruppe, zu denen unter anderem verschiedene Landessozialgerichte (LSG)6 und Sozialgerichte (SG)7 gehören, berücksichtigen zwar das vom BVerfG in seinen Urteilen vom 9. Februar 20108 und vom 18. Juli 20129 entwickelte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Jedoch lasse sich den Ausschlussnormen der Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes entnehmen, welcher dieser Meinung nach seinerseits verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem Unionsbürger in der Regel als zumutbares Mittel zur Selbsthilfe möglich sei, in sein Herkunftsland zurückzukehren, um dort Sozialleistungen zu beziehen. Ein Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums bestehe dieser Meinung zufolge daher nicht losgelöst von möglichen Mitwirkungshandlungen allein aufgrund der Hilfebedürftigkeit und des tatsächlichen Aufenthalts. 5 Hierzu BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, Az: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11. 6 LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11. Februar 2016, Az: L 3 AS 668/15 B ER; Beschluss vom 5. November 2015, Az: L 3 AS 479/15 B ER; LSG Bayern, Beschluss vom 13. Oktober 2015, Az: L 16 AS 612/15 ER; LSG Baden -Württemberg, Beschluss vom 29. Juni 2015, Az: L 1 AS 2338/15 ER-B; früher auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Mai 2013, Az: L 29 AS 514/13 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Februar 2010, Az: L 15 AS 30/10 B ER. 7 SG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2016, Az: S 95 SO 3345/15; Urteil vom 11. Dezember 2015, Az: S 149 AS 7191/13; SG Dortmund, Beschluss vom 11. Februar 2016, Az: S 35 AS 5396/15 ER; Beschluss vom 23. November 2015, Az: S 30 AS 3827/15 ER. 8 BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09. 9 S. Fn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 6 Die bloß nachteilige, aber nicht unzumutbare wirtschaftliche Situation im Herkunftsland ändere nichts daran. Zur verfassungsrechtlichen Legitimierung dieser Auffassung werden häufig die Beschlüsse des BVerfG vom 3. September 201410 sowie vom 8. Oktober 201411 herangezogen, in denen das BVerfG Studenten und Auszubildenden gemäß § 7 Abs. 5 SGB II den faktischen Zwang, das begonnene Studium bzw. die Ausbildung abbrechen zu müssen, um in den Genuss von SGB II-Leistungen zu gelangen, aus verfassungsrechtlicher Sicht zumutet. In diesem Zusammenhang ließe sich auch § 24 Abs. 1 S. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) nennen, der auch Deutschen im Ausland in der Regel zumutet, ins Inland zurückzukehren. 2.1.2. Vermittelnde Ansicht Einen anderen Ansatz verfolgt offenbar das Bundessozialgericht (BSG) in seiner grundlegenden Entscheidung vom 3. Dezember 2015.12 Zwar finden sich keine ausdrücklichen Äußerungen zur Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, jedoch wendet das BSG die Norm an, ohne sie unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu diskutieren. Daraus wird ersichtlich, dass das BSG offenbar keine grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm hat. Gleichwohl geht es in einem anderen Zusammenhang auf die Anforderungen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein, indem es diese Grundsätze bei der Ausgestaltung des Ermessensanspruchs auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII, der von SGB II-Leistungen ausgeschlossenen Unionsbürgern zustehe, berücksichtigt. So sei der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel zur Verfügung stünden, wenn Menschen diese fehlten. Im Rahmen des Ermessensanspruchs (§ 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII) führe dies bei Verfestigung des Aufenthalts nach sechs Monaten zu einer Ermessensreduktion auf Null.13 Diese Begründung legt nahe, dass das BSG isoliert betrachtet den Ausschluss von Unionsbürgern von Grundsicherungsleistungen nach SGB II zwar billigt, jedoch in diesen Fällen ein anderes Regelungssystem fordert, welches das menschenwürdige Existenzminimum gewährleistet, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen. Das BSG sieht offenbar im Sozialhilferecht des SGB XII dieses andere Regelungssystem. Für den Anspruchsteller mag es nicht von Bedeutung sein, nach welchem System er Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erhält. Jedoch hat dies sehr wohl Bedeutung für den Leistungsträger, der je nach 10 BVerfG, Beschluss vom 3. September 2014, Az: 1 BvR 1768/11. 11 BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2014, Az: 1 BvR 886/14. 12 BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015, Az: B 4 AS 44/15 R. 13 BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015, Az: B 4 AS 44/15 R, Rn. 57. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 7 Systemzuweisung variiert. Während Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich der Bund zu erbringen hat, sind Leistungsträger nach dem SGB XII in der Regel die kreisfreien Städte und Kreise. Diese Rechtsprechung haben in der Folge ein weiterer Senat des BSG14 sowie andere Gerichte aufgegriffen.15 Andere verneinten die Gewährung von SGB XII-Leistungen hingegen unter ausdrücklicher Ablehnung der BSG-Rechtsprechung als system- bzw. gar verfassungswidrig.16 2.1.3. Verneinende Ansicht Schließlich betrachtet eine dritte Meinungsgruppierung einen Ausschlusstatbestand an sich als verfassungswidrig. So vertritt das SG Mainz unter Berufung auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dass das Grundgesetz einem vollständigen Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II) ohne anderweitige Kompensationsmöglichkeit entgegensteht.17 Die insofern einzig denkbare „anderweitige Kompensationsmöglichkeit “ nach dem SGB XII sei zwar nicht systemwidrig. Jedoch beinhalte § 23 Abs. 3 SGB XII einen vergleichbaren Ausschlusstatbestand, der sich auch auf den Ermessensanspruch des § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII beziehe, weswegen in solchen Fällen nicht auf die Sozialhilfe verwiesen werden könne.18 Auch das LSG Hessen schließt einen Rückgriff auf das SGB XII aus, weswegen es bei einer Auslegung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die zu einem „Totalausschluss“ führe, ebenfalls verfassungsrechtliche Bedenken habe.19 Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II bezweifelt. So hält Kingreen das SGB XII wegen § 21 SGB XII für nicht anwendbar, was sodann bei konsequenter Anwendung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II zu einem verfassungswidrigen Totalausschluss von Leistungen zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums für Unionsbürger führen würde.20 Außerdem äußert er Bedenken hinsichtlich der Verein- 14 BSG, Entscheidung vom 20. Januar 2016, Az: B 14 AS 35/15 R; Entscheidung vom 16. Dezember 2015, Az: B 14 AS 15/14 R. 15 Beispielsweise LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Januar 2016, Az: L 28 AS 3053/15 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2015, L 7 AS 1466/15 B ER; SG Darmstadt, Beschluss vom 4. Dezember 2015, Az: S 17 SO 211/15 ER. 16 SG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2016, Az: S 95 SO 3345/15; Urteil vom 11. Dezember 2015, Az: S 149 AS 7191/13; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11. Februar 2016, Az: L 3 AS 668/15 B ER; SG Dortmund, Beschluss vom 11. Februar 2016, Az: S 35 AS 5396/15 ER. 17 SG Mainz, Beschluss vom 2. September 2015, Az: S 3 AS 599/15 ER, Rn. 38, 50. 18 SG Mainz, Beschluss vom 2. September 2015, Az: S 3 AS 599/15 ER, Rn. 51 ff. 19 LSG Hessen, Urteil vom 27. November 2013, Az: L 6 AS 378/12, Rn. 63. 20 Kingreen, SGb 2013, 132, 138. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 8 barkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG, weil der Gesetzgeber ohne die substantiierte Darlegung von Minderbedarfen einzelne Gruppen von dem Bezug der Grundsicherung ausschließe.21 Einen ähnlichen Weg schlägt Frerichs ein, der § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf die erfasste Personengruppe als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erachtet und auch die Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG kritisch hinterfragt.22 In Bezug auf die „sozialrechtliche Verantwortlichkeit des Herkunftslandes“ sei allenfalls eine individuelle Betrachtung im Einzelfall gangbar.23 Auch nach Frenz seien diejenigen Mittel verfassungsunmittelbar garantiert, die zur Wahrung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind, was jedoch einer Umsetzung im einfachen Recht durch den Gesetzgeber bedürfe.24 In der Konsequenz würde auch das bedeuten, dass, sofern nicht ein anderes Regelungssystem greift, ein völliger Ausschluss von Unionsbürgern verfassungswidrig wäre. Ähnlich argumentieren auch Kötter25 und Wunder26 hinsichtlich eines „abschließenden“ Leistungsausschlusses. 2.2. Zeitlicher Zuschnitt der Ausnahme von Grundsicherungsleistungen Sofern man einen pauschalen Ausschluss von Sozialleistungen für Unionsbürger nicht bereits als solchen für verfassungswidrig hält, bliebe noch die Frage, ob man eine zeitliche Befristung verlangt , um verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Nach geltender Rechtslage enthält § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II eine Befristung von drei Monaten, welche nach dem EuGH-Urteil in der Sache García-Nieto (s. Fn. 4) auch europarechtskonform ist. Diskutiert wird jedoch, diesen Zeitraum zum Nachteil der Unionsbürger zu verlängern. Die äußerste überhaupt denkbare Grenze wäre bei fünf Jahren zu ziehen, die nach § 4a Abs. 1 Freizüg G/EU zu einem Daueraufenthaltsrecht führt. Im Rahmen der Vermeidung eines sog. Brexit kam die EU Großbritannien mit dem Entwurf eines Reformpakets weit entgegen.27 Dieses Reformpaket sieht die Möglichkeit vor, Unionsbürgern Sozialleistungen in Großbritannien bis zu vier Jahre zu verweigern. Aus den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird vorgeschlagen, den Sozialleistungsbezug an eine einjährige Vollerwerbstätigkeit in Deutschland vor Leistungsbeginn zu knüpfen.28 Daraus ließe sich folglich auch eine Erhöhung der Befristung auf (mindestens) ein Jahr entnehmen. In seinem Urteil vom 3. Dezember 2015 nahm das BSG einen „verfestigten Auf- 21 Kingreen, SGb 2013, 132, 139. 22 Frerichs, ZESAR 2014, 279, 280 ff. 23 Frerichs, ZESAR 2014, 279, 286. 24 Frenz, NJW 2013, 1210, 1211. 25 Kötter, infoalso 2016, 3, 6. 26 Wunder, SGb 2015, 620, 622 f. 27 Siehe dazu http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/sozialleistungen-fuer-auslaender-eu-gehtauf -britische-wuensche-ein-14047863.html (zuletzt abgerufen am 3. März 2016). 28 Schiewerling, EU ist keine Sozialunion, http://www.presseportal.de/pm/7846/3231208 (zuletzt abgerufen am 3. März 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 9 enthalt“ ab in der Regel sechs Monaten an, der das Ermessen im Rahmen des Sozialhilfeanspruchs auf Null reduziere. Dies deutet darauf hin, dass nach Ansicht des BSG wohl kaum ein Ausschluss von mehr als sechs Monaten rechtmäßig wäre. 3. Fazit und Ausblick Das Meinungsspektrum ist unter maßgeblicher Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtlichen Aussagen zu bewerten. Unumgänglich ist danach bislang das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches nach der Konzeption des BVerfG mit seiner Verankerung in der Menschenwürde ein Menschenrecht darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheint ein gänzlicher Ausschluss von Sozialleistungen schwerlich mit der Verfassung vereinbar . Auch der Bezug der erstgenannten Meinungsgruppe zur Rechtsprechung des BVerfG betreffend Studenten und Auszubildende gemäß § 7 Abs. 5 SGB II erscheint nicht geeignet, an diesem Befund etwas zu ändern, da diese Personengruppen dem System des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) unterliegen und es deswegen nicht zu einem menschenunwürdigen „Totalausschluss “ käme. Wie der Gesetzgeber die Vorgaben des BVerfG bezüglich der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums umsetzt, bleibt weitgehend ihm überlassen. Dabei ist es eher eine Systemfrage des einfachen Rechts als eine grundgesetzliche Frage, über welche Regelungen das menschenwürdige Existenzminimum gewährleistet wird. Vor diesem Hintergrund würden sich die beiden letztgenannten Meinungsgruppen in Bezug auf die Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht wesentlich unterscheiden. Ob der Schutz mit dem BSG über das SGB XII oder mit der dritten Meinungsgruppe über das SGB II gesucht würde, ändert nichts daran, dass das menschenwürdige Existenzminimum gewährleistet wäre. Eine andere Frage bleibt, ob der Aufenthaltsstatus mit dem diesem zugrunde liegenden Aufenthaltsrecht im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG ein zulässiges Differenzierungskriterium darstellen würde, anhand dessen man eine Personengruppe gegenüber einer anderen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise benachteiligen könnte. In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Aussage des BVerfG aus seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz verwiesen, wonach eine pauschale Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus unzulässig sei.29 Hierzu sei angemerkt, dass sich das Urteil ausdrücklich nur auf die konkrete Ausgestaltung des Anspruchs, also seine Höhe, bezieht. Ob damit auch eine Aussage über die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II getroffen werden kann, erscheint fraglich. Jedenfalls können rein fiskalische Interessen eine Schlechterstellung von Unionsbürgern beim Zugang zu Sozialleistungen verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.30 Auch das breite Spektrum der vertretenen Auffassungen hinsichtlich des zeitlichen Zuschnitts zeigt, dass es schwerlich möglich ist, mit hinreichender Gewissheit einen exakten Zeitraum als noch verfassungskonform festzulegen. Im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG zum Grund- 29 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, Az: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Rn. 99. 30 Hierzu Frerichs, ZESAR 2014, 279, 280. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 025/16 Seite 10 recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, erscheint es jedoch verfassungsrechtlich geboten, den ausgenommenen Zeitraum tendenziell gering zu fassen. Das BVerfG hat Bestrebungen eine Absage erteilt, die Menschenwürde migrationspolitisch, also beispielsweise durch die anvisierte Vermeidung von Anreizen für Wanderungsbewegungen, zu relativieren .31 Die verfassungsrechtliche Prognose ist insofern mit Unsicherheit behaftet, als nicht auszuschließen ist, dass das BVerfG seine Rechtsprechung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung und einer europarechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes möglicherweise modifiziert. Eine abschließende Entscheidung über die Verfassungskonformität bleibt jedenfalls einzig dem BVerfG vorbehalten. Ende der Bearbeitung 31 BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, Az: 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Rn. 121.