© 2021 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 022/21 Einzelfragen zum Grundrechtsausgleich im Pflegelöhneverbesserungsgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 2 Einzelfragen zum Grundrechtsausgleich im Pflegelöhneverbesserungsgesetz Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 022/21 Abschluss der Arbeit: 23. April 2021 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verfassungsmäßigkeit des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes 4 3. Aktuelle Entwicklung 5 4. Alternative Beteiligungsregelungen 6 5. Kriterien für Verfassungskonformität 6 6. Ausgleich widerstreitender Grundrechte 7 6.1. Tarifautonomie 8 6.2. Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften 8 7. Praktische Konkordanz 9 7.1. Regelung des § 7a Abs. 1a AEntG 9 7.2. Bloßes Anhörungsrecht der kirchlichen Kommissionen 9 7.3. Erneutes Anhörungsrecht anstelle des Zustimmungserfordernisses 10 7.4. Verpflichtung der Tarifvertragsparteien zur inhaltlichen Berücksichtigung der Vorstellungen der Kirchen 10 8. Ergebnis und Ausblick 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 4 1. Einleitung Um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften und damit eine größere Attraktivität des Pflegeberufs zu erreichen, wurde das Pflegelöhneverbesserungsgesetz1 geschaffen, das am 29. November 2019 in Kraft getreten ist. Es modifiziert insbesondere das Verfahren der Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), indem es in einem neu eingeführten § 7a Abs. 1a AEntG auch für den Pflegebereich neben der bisher geltenden sogenannten Kommissionslösung nach §§ 10 bis 13 AEntG die Möglichkeit der Erstreckung von Tarifverträgen (sogenannte Tarifvertragslösung) eröffnet. Mit Rücksicht darauf, dass Pflegedienste in erheblichem Umfang von Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft erbracht werden, die selbst überwiegend auf den Abschluss von Tarifverträgen verzichten und den sogenannten „Dritten Weg“2 wählen, hat der Gesetzgeber den Vertretern der kirchlichen Einrichtungen ein Beteiligungsrecht an dem Verfahren der Tariferstreckung eingeräumt . So müssen die paritätisch besetzten Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen vor dem Abschluss des Tarifvertrages Gelegenheit erhalten, zu dessen voraussichtlichem Inhalt gegenüber den Tarifvertragsparteien Stellung zu nehmen (§ 7a Abs. 1a Satz 2 AEntG). Der Antrag der Tarifvertragsparteien auf allgemeinverbindliche Erstreckung der Tarifnormen bedarf darüber hinaus der schriftlichen Zustimmung der Religionsgesellschaften (§ 7a Abs. 1 a Satz 4 AEntG). 2. Verfassungsmäßigkeit des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes Die vielfach begrüßte Neuregelung begegnete in der parlamentarischen Beratung aber auch verschiedentlich verfassungsrechtlichen Bedenken. In diesem Zusammenhang ist auch der Fachbereich WD 6 (Arbeit und Soziales) der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zu ausgewählten verfassungsrechtlichen Streitfragen um Stellungnahme gebeten worden: Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Ausgewählte verfassungsrechtliche Aspekte des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes, Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 127/19 vom 13. Oktober 2020, abrufbar im Internetauftritt des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag.de/resource /blob/806452/e8303600084071cca43e4b5598a89591/WD-6-127-19-pdf-data.pdf (letzter Abruf: 16. April 2021). 1 Gesetz für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz) vom 22. November 2019 (BGBl. I 2019, S. 1756). 2 Vgl. dazu z.B. Linck in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Auflage 2019, § 184, Rn. 8 ff. sowie Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste: Kirchliche Selbstbestimmung im kollektiven Arbeitsrecht und ihre Vereinbarkeit mit Europarecht, Ausarbeitung WD 6 - 3000-216/2010 vom 4. März 2011, S. 6 ff., abrufbar im Internetauftritt des Deutschen Bundestages: https://www.bundestag.de/resource/blob/410514/8aca12233583a63d292b006010a7bf51/WD-6-216-10-pdfdata .pdf (letzter Abruf: 16. April 2021). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 5 In dieser Arbeit wird der in § 7 Abs. 1a AEntG vorgesehene Beteiligungsmechanismus dargestellt und seine Verfassungsmäßigkeit in Bezug auf die Koalitionsfreiheit der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber aus Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) und deren Arbeitsvertragsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 Satz GG, die ebenfalls aus Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG abgeleitete Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG untersucht . Die nun unter Bezugnahme auf die schriftliche Stellungnahme eines Einzelsachverständigen zum damaligen Gesetzentwurf3 erneut erhobenen Bedenken, das Zustimmungserfordernis zum Erstreckungsantrag der Tarifvertragsparteien billige den Kirchen, denen eine demokratische Legitimation fehle, eine „ergebnisrelevante Steuerung“ zu und verletze so das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip , wird in der zitierten Arbeit nicht bestätigt.4 Schließlich wird auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG unter Verweis auf die den Religionsgesellschaften verfassungsrechtlich zugewiesene Sonderstellung aus Art. 140 in Verbindung mit § 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) verneint.5 Die Arbeit gelangt zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung unter Wahrung seines verfassungsrechtlichen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums „insgesamt einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Verfassungsgütern […] im Sinne einer praktischen Konkordanz gefunden haben [dürfte].“6 3. Aktuelle Entwicklung Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) legten den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von Caritas und Diakonie im September 2020 den Entwurf eines Tarifvertrags über Mindestbedingungen in der Altenpflege zur Anhörung vor. Dem Antrag der Tarifvertragspartner auf Erlass einer Rechtsverordnung zur Erstreckung der Tarifnormen auf die gesamte Branche verweigerte jedoch der Caritasverband am 25. Februar 2021 nicht zuletzt aus Sorge um den Erhalt der kirchlichen Eigenständigkeit im 3 Waltermann, Raimund, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 21. Oktober 2019, Ausschussdrucksache 19(11)462, S. 4 (7). 4 Ausarbeitung WD 6 - 3000-127/19 vom 13. Oktober 2020, S. 15 f. 5 Ausarbeitung WD 6 - 3000-127/19 vom 13. Oktober 2020, S. 17 ff. 6 Ausarbeitung WD 6 - 3000-127/19 vom 13. Oktober 2020, S. 19. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 6 Dritten Weg die nach § 7a Abs. 1a Satz 4 AEntG erforderliche Zustimmung.7 Trotz vielfach geäußerter Kritik an dieser Entscheidung hat die Caritas kürzlich eine erneute Beschlussfassung darüber ausdrücklich abgelehnt.8 4. Alternative Beteiligungsregelungen Die dargestellte Entwicklung hat die Frage aufgeworfen, ob für die Festlegung eines tarifvertragsbasierten allgemeinen Branchenmindestlohns in der Pflege unter Berücksichtigung des Einschätzungs - und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers auch andere verfassungskonforme Lösungen denkbar wären, die eine Beteiligung der Religionsgesellschaften ohne obligatorisches Zustimmungserfordernis , wie es in § 7a Abs. 1a Satz 4 AEntG normiert ist, regeln. Der Gesetzgeber könnte es etwa bei dem in § 7a Abs. 1a Satz 2 AEntG geregelten Anhörungsrecht belassen, sodass die Religionsgesellschaften ihre Vorstellungen einbringen könnten, die Tarifvertragsparteien aber letztlich ohne deren weitere Beteiligung über den Tarifvertrag und den Erstreckungsantrag entscheiden könnten. Vorstellbar wäre statt des Zustimmungserfordernisses nach § 7a Abs. 1a Satz 4 AEntG auch die Regelung einer zweiten bloßen Anhörung zum Erstreckungsantrag . In Betracht käme schließlich eine Ergänzung des Anhörungsrechts nach § 7a Abs. 1a Satz 2 AEntG um eine Verpflichtung der Tarifvertragsparteien, die in der Anhörung vorgetragenen Vorschläge und Standpunkte der Religionsgesellschaften in ihren weiteren Verhandlungen angemessen zu berücksichtigen. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit zumindest eine dieser Regelungsalternativen verfassungskonform umsetzbar wäre. 5. Kriterien für Verfassungskonformität Ein staatlicher Akt, insbesondere ein Parlamentsgesetz, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungskonform, wenn er keine Grundrechte tangiert oder ein Grundrechtseingriff nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen 7 Peters, Bendikt: Caritas - Egoistisch, Süddeutsche Zeitung vom 26. Februar 2021, S. 4; vgl. dazu auch Pressestelle des Deutschen Caritasverbandes, Tarifvertrag Altenpflege: Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas lehnt Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit ab, abrufbar unter: https://www.caritas.de/fuerprofis/presse/pressemeldungen /tarifvertrag-altenpflege-arbeitsrechtliche-kommission-der-caritas-lehnt-antrag-auf-allgemeinverbindlichkeit -ab-8f309e81-70ac-4622-b20d-5bd1b1e80f76 (jeweils letzter Abruf: 16. April 2021). 8 Domradio.de: Caritas verzichtet auf neue Abstimmung zum Pflege-Flächentarif - Kein neuer Anlauf, 16. April 2021, abrufbar unter: https://www.domradio.de/themen/caritas/2021-04-16/kein-neuer-anlauf-caritas-verzichtet -auf-neue-abstimmung-zum-pflege-flaechentarif (letzter Abruf: 16. April 2021). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 7 ist.9 Angemessen ist das Mittel, wenn die den Einzelnen treffende Belastung nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck steht. Erforderlich ist hierbei eine Gesamtabwägung. Dabei müssen die verfolgten Zwecke umso gewichtiger sein, je mehr in das fragliche Rechtsgut eingegriffen wird.10 Beim Ausgleich kollidierender Verfassungsgüter kommt dem Gesetzgeber ein erheblicher Spielraum zu, der allerdings durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt ist.11 Notwendig ist nach der Rechtsprechung des BVerfG „ein verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziel ihrer Optimierung“12, ein schonender Ausgleich nach dem Grundsatz der sogenannten praktischen Konkordanz.13 Die widerstreitenden Verfassungswerte sollen dabei jeweils größtmögliche Wirksamkeit erlangen. Grundlage des Prinzips der praktischen Konkordanz ist die Annahme, dass die Verfassung eine Einheit bildet. Ihre Normen sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern stets im Gesamtzusammenhang aller Verfassungsnormen zu interpretieren.14 6. Ausgleich widerstreitender Grundrechte Im Zusammenhang mit der Festlegung allgemeiner tarifvertragsbasierter Mindestarbeitsbedingungen in der Pflege nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz muss der Gesetzgeber die Grundrechtspositionen der Tarifvertragsparteien aus Art. 9 Abs. 3 GG und der Religionsgesellschaften aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV nach dem dargestellten Grundsatz der praktischen Konkordanz so zum Ausgleich bringen, dass beide größtmögliche Wirksamkeit entfalten. 9 Vgl. Jarass in: Jarass/Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 20 Rn. 112 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 10 Jarass in: Jarass/Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 20 Rn. 121a ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 11 Jarass in: Jarass/Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Vorbemerkungen vor Art. 1 Rn. 52 f. 12 BVerfG, Beschluss vom 7. März 1990 - 1 BvR 266/86, 1 BvR 913/87, Rn. 49. 13 Vgl. ausführlich zu diesem verfassungsrechtlichen Ausgleichsprinzip Schladebach, Marcus: Praktische Konkordanz als verfassungsrechtliches Kollisionsprinzip - Eine Verteidigung, Der Staat 2014, S. 263; und mit Bezugnahme auf die historische Begriffsprägung Hoffmann-Riem, Wolfgang: Praktische Konkordanz im Verfassungsrechtsdenken von Konrad Hesse, AöR 2019, S. 467. 14 Vgl. Kalenborn, Tristan: Die praktische Konkordanz in der Fallbearbeitung, JA 2016, S. 6 (7). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 8 6.1. Tarifautonomie Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Die Koalitionsfreiheit ist nach dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG zunächst ein Individualgrundrecht. Geschützt ist aber auch die kollektive Koalitionsfreiheit, also der Bestand der Koalition, ihre organisatorische Ausgestaltung und ihre koalitionsspezifische Betätigung.15 Der Schutz umfasst damit insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht.16 Sie wird definiert als das Recht der Koalitionen, die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen autonom und frei von staatlicher Einflussnahme selbst zu regeln.17 Der Gesetzgeber hat diesen Autonomiebereich zu respektieren und darf ihn daher nur gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben schmälern. Allerdings kann er im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative Bedürfnisse der Praktikabilität und Rechtssicherheit berücksichtigen.18 6.2. Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften Das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV garantiert unter anderem den christlichen Kirchen eine Regelungsbefugnis zur Sicherstellung der religiösen Dimension ihres Wirkens im Sinne des kirchlichen Selbstverständnisses .19 Träger des Selbstbestimmungsrechts sind nicht nur die Kirchen selbst, sondern alle ihre Einrichtungen, wenn sie nach dem kirchlichen Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend dazu berufen sind, ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen.20 Diese Regelungsautonomie erstreckt sich nicht nur auf die Entscheidung, für kirchliche Bedienstete das weltliche Arbeitsrecht in Anwendung zu bringen oder nicht, sondern auch auf dessen Ausgestaltung. Dazu gehört unter anderem die Entscheidung über die Art und Weise der kollektiven Arbeitsrechtssetzung. Danach können die Kirchen grundsätzlich selbständig darüber befinden, ob sie die Arbeitsbedingungen durch den Abschluss von Tarifverträgen regelt oder ob sie diese in arbeitsrechtlichen Kommissionen und Schiedskommissionen vereinbart. In der Praxis hat sich der sogenannte „Dritte Weg“ etabliert. Die kollektiven Arbeitsbedingungen werden danach aufgrund kirchengesetzlicher Regelungen durch paritätisch besetzte Kommissionen festgelegt und im Konfliktfall nicht mittels konfrontativer Arbeitskämpfe, sondern durch eine Schlichtungskommission bestimmt. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 15 BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 1991, Az.: 1 BvR 779/85; Linsenmeier in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht , 21. Aufl. 2021, Art. 9 GG Rn. 39 mit weiteren Nachweisen. 16 Bundesarbeitsgericht (BAG), Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 78 mit weiteren Nachweisen . 17 Henssler, Martin: Mindestlohn und Tarifrecht, RdA 2015, S. 43 (43). 18 Linsenmaier in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, GG Art. 9 Rn. 85. 19 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2014 - 2 BvR 661/12. 20 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Juni 1985 - 2 BvR 1703/83. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 9 (BAG) zulässig, sofern Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind und das Verhandlungsergebnis für die Dienstgeberseite als Mindestarbeitsbedingungen verbindlich ist.21 7. Praktische Konkordanz 7.1. Regelung des § 7a Abs. 1a AEntG Um die beschriebenen Grundrechtspositionen der Tarifvertragspartner einerseits und der kirchlichen Träger von Pflegeeinrichtungen andererseits im Sinne der praktischen Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich zu bringen, hat sich der Gesetzgeber mit der Regelung des § 7a Abs. 1a AEntG im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative für eine obligatorische Zustimmung der Kirchenkommissionen als Erfordernis für die Erstreckung eines Mindestlohntarifvertrags durch Rechtsverordnung entschieden, die beiden Grundrechten zur Wirksamkeit verhilft: Die Tarifvertragspartner können autonom und unbeeinflusst von staatlicher oder dritter Seite Tarifverhandlungen führen und ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen regeln. Sie können die im Rahmen der obligatorischen Anhörung nach § 7a Abs. 1a Satz 2 AEntG vorgetragenen kirchlichen Standpunkte dabei berücksichtigen, müssen dies aber nicht. Lediglich der Antrag auf staatliche Erstreckung ihrer Verhandlungsergebnisse unterliegt der Zustimmung der Kirchen. Die Erstreckung von Tarifergebnissen auf Außenseiter ist jedoch von der Tarifautonomie nicht mehr erfasst. Die kirchlichen Träger wiederum können den Koalitionen ihre Vorstellungen nahebringen, ohne sich an den Tarifverhandlungen zu beteiligen und die arbeitsrechtlichen Beziehungen weiterhin unabhängig nach dem Dritten Weg gestalten. Mit dem Erfordernis der Zustimmung zur Erstreckung der Tarifergebnisse sind sie frei in der Entscheidung, deren Anwendung auch auf die kirchlichen Arbeitsverhältnisse zuzulassen. Damit bleibt ihr Selbstverwaltungsrecht auch zu diesem Zeitpunkt gewahrt. Ob die oben in Abschnitt 4 umrissenen möglichen alternativen Beteiligungsregelungen unter Verzicht auf das Zustimmungserfordernis ebenfalls einen verfassungsrechtlich angemessenen Ausgleich im Sinne einer Optimierung der Wirksamkeit beider Grundrechtspositionen erzielen könnten , erscheint hingegen zweifelhaft. 7.2. Bloßes Anhörungsrecht der kirchlichen Kommissionen Beließe es der Gesetzgeber bei dem Anhörungsrecht nach § 7a Abs. 1a Satz 2 AEntG, ohne dass die Kirchen die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Beantragung der branchenweiten Erstre- 21 Vgl. BAG, Urteil vom 20. November 2012, 1 AZR 179/11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 10 ckung eines Tarifvertrags durch Rechtsverordnung hätten, würden die Tarifergebnisse auch gegenüber den kirchlichen Trägern wirksam, da eine Rechtsverordnung ein „für alle geltendes Gesetz “ im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV darstellt.22 Die Ausgestaltung kirchlicher Arbeitsverhältnisse zählt aber nach herrschender Meinung zu den eigenen Angelegenheiten im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV23, sodass ein Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie der Religionsgemeinschaften vorläge. Das bloße Anhörungsrecht der kirchlichen Kommissionen im Rahmen der Tarifverhandlungen könnte diesen Eingriff nicht ausgleichen, weil die Tarifvertragsparteien sich unter vollständiger Wahrung ihrer Tarifautonomie folgenlos über die eingebrachten Vorschläge und Standpunkte der kirchlichen Kommissionen hinwegsetzen könnten. Eine solche Konzeption würde daher die in Widerstreit zueinander stehenden Verfassungsrechte nicht in die geforderte praktische Konkordanz setzen. 7.3. Erneutes Anhörungsrecht anstelle des Zustimmungserfordernisses Ein erneutes bloßes Anhörungsrecht anstelle des gesetzlichen Zustimmungserfordernisses zum Erstreckungsantrag wäre inhaltsentleert, weil eine inhaltliche Befassung der Tarifvertragsparteien mit den zu erstreckenden Normen auf dieser Stufe nicht mehr erfolgt. Auch in diesem Fall verbliebe es mithin bei dem Eingriff in die kirchliche Selbstverwaltungsgarantie, wohingegen die Tarifautonomie der Koalitionen gewahrt bliebe. 7.4. Verpflichtung der Tarifvertragsparteien zur inhaltlichen Berücksichtigung der Vorstellungen der Kirchen Als weitere alternative Beteiligungsform im Rahmen der Tarifvertragsverhandlungen käme eine Regelung in Betracht, die die Tarifvertragsparteien verpflichtete, die von den arbeitsrechtlichen Kommissionen der kirchlichen Träger bei der Anhörung nach § 7a Abs. 1a Satz 2 AEntG unterbreiteten Vorschläge in angemessener Weise bei ihren weiteren Beratungen zu berücksichtigen. Eine solche Handhabung würde in die Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien eingreifen, die ihre koalitionsmäßige Betätigung einer Einflussnahme durch die Kirchen und damit einer Beschränkung ausgesetzt sähen. Unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG ist eine Regelung nach der Rechtsprechung des BVerfG jedenfalls dann, wenn sie dazu führt, dass die Verhandlungsfähigkeit einer Tarifvertragspartei bei Tarifauseinandersetzungen nicht mehr gewahrt bleibt und weitergehend beschränkt wird, als es zum Ausgleich der beiderseitigen Grundrechtspositionen erforderlich ist.24 Dies aber dürfte bei der skizzierten Verpflichtung der Tarifpartner, auf die kirchlichen Vorstellungen einzugehen, der Fall sein, sodass die Einschränkung der koalitionsmäßigen Betätigung eine Verletzung der Tarifautonomie darstellen würde. Auch mit einer solchen Regelung 22 Korioth in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 92. Auflage 2020, WRV Art. 137 Rn. 45. 23 Korioth in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 92. Auflage 2020, WRV Art. 137 Rn. 41. 24 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. April 1996 - 1 BvR 712/86. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 022/21 Seite 11 könnten daher die Tarifautonomie und das kirchliche Selbstverwaltungsrecht nicht in praktische Konkordanz gesetzt werden. 8. Ergebnis und Ausblick Im Ergebnis ist festzustellen, dass allein die vom Gesetzgeber im Pflegelöhneverbesserungsgesetz gefundene Regelung in der Lage zu sein scheint, die in Rede stehenden Verfassungsgüter zu einem schonenden Ausgleich zu bringen und damit dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu genügen. Die hier angesprochenen Alternativregelungen würden dagegen ausnahmslos eines der Verfassungsgüter unzulässig zugunsten des jeweils anderen einschränken. Dass mithin eine verfassungskonforme Lösung für die Festlegung von Branchenmindestlöhnen auf tarifvertraglicher Basis im Pflegebereich ohne die in § 7a Abs. 1a Satz 4 AEntG geregelte Zustimmung der zuständigen Gremien der Religionsgesellschaften kaum möglich erscheint, mag vor dem Hintergrund der ablehnenden Haltung des Caritasverbandes bedauerlich erscheinen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang aber auf die 2009 vom Gesetzgeber gerade mit Blick auf das verfassungsrechtlich garantierte Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften geschaffene sogenannte Kommissionslösung nach §§ 10 bis 13 AEntG, die als Sonderregelung für den Bereich der Pflege ein eigenes Verfahren für die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen auf der Grundlage von Empfehlungen einer gemeinsamen Kommission unter gleichberechtigter Mitwirkung der Tarifpartner in der Pflege und der Kirchen vorsieht. Die vom Bundesminister für Arbeit und Soziales nach § 12 AEntG alter Fassung eingesetzte achtköpfige Kommission zur Erarbeitung von Empfehlungen für die Arbeitsbedingungen in der Pflege (Pflegekommission), der auch je zwei von der Dienstgeber- und der Dienstnehmerseite der Arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen vorgeschlagene Mitglieder angehören, hat sich bereits im Januar 2020 auf die stufenweise Erhöhung der Mindestlöhne in der Altenpflege bis Juli 2021 geeinigt,25 die durch Rechtsverordnung26 allgemeinverbindlich wurden. In der fortgesetzten Arbeit der Pflegekommission, die nach der Neureglung des Pflegelöhneverbesserungsgesetzes künftig als ständige Kommission für jeweils fünf Jahre eingesetzt wird, erkennt auch der Bundesminister für Arbeit und Soziales nach dem vorläufigen Scheitern der sogenannten Tarifvertragslösung einen gangbaren Weg für eine weitere Erhöhung der Lohnuntergrenzen in der Pflege.27 *** 25 Höhere Mindestlöhne für Beschäftigte in der Altenpflege, Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 29. Januar 2020, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Pressemitteilungen/2020/hoeherer-mindestlohn-in-altenpflege.html (letzter Abruf: 16. April 2020). 26 Vierte Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche (Vierte Pflegearbeitsbedingungenverordnung ) vom 22. April 2020 (BAnz AT 28.04.2020 V2) (letzter Abruf: 16. April 2020). 27 Pressestatement des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 25. Februar 2021, abrufbar im Internetauftritt des BMAS: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2021/heute-ist-ein-schlechter-tag-fuer-diepflege .html (letzter Abruf: 16. April 2021).