© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 010/16 Sicherung der Bundesgrenzen aus föderaler Perspektive Anmerkungen zum Gutachten „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“ Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 010/16 Seite 2 Kontrolle der Bundesgrenzen aus föderaler Perspektive Anmerkungen zum Gutachten „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“ Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 010/16 Abschluss der Arbeit: 14.01.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 010/16 Seite 3 1. Einleitung Es wird darum gebeten, zu dem Gutachten „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“ des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio eine erste kurze rechtliche Einschätzung zu geben.1 Untersuchungsgegenstand des genannten Gutachtens ist die Frage, „ob den Bund gegenüber den Ländern eine Pflicht trifft, eine gesetzmäßige und wirksame Einreise- und Aufenthaltskontrolle auch zur Erhaltung des föderalen Staatsgefüges der Bundesrepublik Deutschlands zu gewährleisten und bejahendenfalls, ob der diese Pflicht bis dato hinreichend wahrnimmt“.2 Angesichts der knappen Bearbeitungszeit muss sich die Bewertung des Gutachtens auf eine kursorische Plausibilitätsprüfung beschränken. 2. Föderale Perspektive Die Gutachtenfrage bezieht sich nicht „schlicht“ auf die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Einreisegestattungen gegenüber Asylsuchenden („Öffnung der Grenzen“). Vielmehr richtet sie sich spezifisch auf die föderale Perspektive. Damit kommt es darauf an, ob der Bund gerade im Verhältnis zu den Ländern verfassungsrechtliche Pflichten verletzt. Dieser föderale „Aufhänger “ ist kompliziert. Ein spezifisches Bundesstaatsverhältnis muss betroffen sein.3 Es reicht nicht aus, „nur“ rechtswidriges Verhalten des Bundes oder der Länder festzustellen. In diesem Sinne wird geprüft, ob aus dem Grundsatz der Bundestreue ableitbar ist, dass der Bund seine Kompetenz zur Grenzsicherung „in einer die Interessen und Rechte der Länder schonenden Weise“4 auszuüben hat. 3. „Verfassungsrechtliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern auf wirksame Einreisekontrolle “ Ausgehend von dem nicht nur im Verhältnis der Länder zum Bund, sondern auch im Verhältnis des Bundes zu den Ländern geltenden Grundsatz der Bundestreue werden „verfassungsrechtliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern auf wirksame Einreisekontrollen“ geprüft.5 Als Anknüpfungspunkt für eine mögliche Pflichtverletzung wird auf Art. 30 GG6 abgestellt, aus dem „unmittelbar ein Anspruch gegen den Bund auf Unterlassung aller Maßnahmen (folge), die die Funktionen der Länder in nicht nur unerheblichem Umfang beeinträchtigen“.7 Dieser Anspruch 1 Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem, abrufbar unter: http://www.welt.de/bin/di-fabiogutachten -150937063.pdf. 2 Di Fabio (Fn. 1), 29 3 Di Fabio (Fn. 1), 31 ff. 4 Di Fabio (Fn. 1), 32. 5 Di Fabio (Fn. 1), 31 ff. 6 Art. 30 GG lautet: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“ 7 Di Fabio (Fn. 1). 35 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 010/16 Seite 4 erfasse nicht nur kompetenzwidriges Verhalten, sondern auch den Fall, dass der Bund seine Kompetenzen nicht wahrnehme und dieser Nichtgebrauch geeignet sei, „elementare Funktionsstörungen auf der Ebene der Länder bei der Ausübung staatlicher Befugnisse und der Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ auszulösen.8 Die Annahme erscheint nicht abwegig, dass das Unterlassen der Grenzsicherung des Bundes gegen den Grundsatz der Bundestreue verstößt, wenn erhebliche Funktionsstörungen auf Seiten der Länder eintreten. In diesem Zusammenhang kann grundsätzlich auf Gefährdungen der Staatlichkeit als solche verwiesen werden, wenn „ein Staat die massenhafte Einreise von Menschen in sein Territorium nicht mehr kontrollieren“9 kann. Auch erscheint es plausibel zu berücksichtigen , ob und inwieweit die Kompetenzwahrnehmung des Bundes unmittelbare Auswirkungen auf die Kompetenzwahrnehmung der Länder hat („Konnexität der Kompetenz- und Pflichtverschränkung “10). Die besonders enge Verbindung zwischen der Einreisekontrolle durch den Bund einerseits und die Verantwortung der Länder für z.B. für die Unterbringung von Asylsuchenden, kann als Argument dafür dienen, dass die Art und Weise der Einreisekontrolle durch den Bund gerade auch spezifische Rechtspositionen der Länder beeinträchtigt und damit eine (qualifizierte) bundesstaatliche Betroffenheit vorliegt.11 Funktionsstörungen auf Seiten der Länder könnte man grundsätzlich annehmen, wenn deren Aufgabenwahrnehmung durch Maßnahmen oder durch ein Unterlassen des Bundes „gravierend behindert“12 wird. Gravierende Funktionsstörungen kann man dabei als eine Gefährdung der Eigenstaatlichkeit der Länder ansehen. Bezogen auf die konkrete Grenzsicherung durch den Bund und ihren Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Länder weist das Gutachten allerdings Unschärfen auf. Insbesondere wird nicht recht deutlich, ob das Verhalten des Bundes in Bezug auf die Grenzsicherung – über eine mögliche Rechtswidrigkeit hinaus – schon als ein Kontrollverlust über die Bundesgrenzen angesehen werden kann, der so gravierende Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Länder hat, dass man einen Verstoß gegen den Grundsatz der Bundestreue annehmen kann.13 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die Umstände bereits die Annahme einer konkreten Handlungspflicht zulassen. Im Gutachten wird selbst auf das Gestaltungsermessen des Bundes bei der Wahrnehmung seiner Kompetenzen in Bezug auf die Grenzsicherung verwiesen: „Das 8 Di Fabio (Fn. 1), 36. 9 Di Fabio (Fn. 1), 51. 10 Di Fabio (Fn. 1), 110. 11 Di Fabio (Fn. 1), 41 ff., 12 Di Fabio (Fn. 1), 109. 13 Vgl. dazu auch den Artikel „Ein Freistaat sieht sich in Gefahr“ von Wolfgang Janisch und Daniela Kur in der Süddeutschen Zeitung vom 13.01.2016, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/bayern/2.220/zuwandererein -freistaat-sieht-sich-in-gefahr-1.2815080, in dem es heißt: „Die erste Frage ist freilich: ist die ‚Eigenstaatlichkeit ‘ Bayerns, dessen Beamtenapparat sich in der Krise als unglaublich effizient erwiesen hat, wirklich gefährdet ?“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 010/16 Seite 5 Grundgesetz schreibt nicht vor, wo und wie der der wirksame Grenzschutz der Republik verwaltungstechnisch unter Integrationsbedingungen geleistet wird. Er kann in einem gemeinsamen System gegenseitigen Vertrauens oder durch stärker integrierte Sicherung der EU-Außengrenzen gewährleistet sein, oder durch die Wiederaufnahme deutscher Grenzkontrollen.“14 Es bleibt im Gutachten aber unklar, wie sich das Gestaltungsermessen des Bundes zu einer konkreten Handlungspflicht gewandelt haben soll, die gerade in einer „wirksamen Kontrolle der Bundesgrenze“15 besteht. Abschließend ist auf die letzte These des Gutachtens hinzuweisen. Di Fabio betont hier selbst, dass das politische Gestaltungsermessen des Bundes im Hinblick auf die Wiederherstellung oder Neujustierung des gemeinsamen europäischen Einwanderungs- und Asylrechts nur begrenzt justitiabel sei.16 Weiter heißt es vorsichtig relativierend: „Zurzeit deutet einiges darauf hin, dass das Mindestmaß an politischen Aktivitäten durch den Bund diesbezüglich noch unterschritten ist.“17 Unabhängig von der grundsätzlich nicht abwegigen Konstruktion eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Bundestreue, wird man weiter prüfen müssen, ob und unter welchen konkreten Voraussetzungen sich das Gestaltungsermessen des Bundes im Rahmen der Grenzsicherung zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten kann, deren Unterlassen auch justitiabel ist.18 Ende der Bearbeitung 14 Di Fabio (Fn. 1), 87, Herv. im Original. 15 Di Fabio (Fn. 1), 118. 16 Di Fabio (Fn. 1), 118. 17 Di Fabio (Fn. 1), 118. 18 Entschiedene Zweifel an der Justitiabilität äußert der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier in einem im Handelsblatt vom 12.01.2016 veröffentlichten Interview („Unbegrenzte Einreise ist ein Fehler“, abrufbar unter: http://prarchiv.bundestag.btg/PressDok/pressarchiveresult.html;sessionid =719097BB7965079018BFA1CA): „Der Streit muss politisch ausgetragen werden. Das ist kein justiziabler Streit.“