© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 – 008/19 Einzelfragen zur Auslegung der novellierten EU-Entsenderichtlinie Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 008/19 Seite 2 Einzelfragen zur Auslegung der novellierten EU-Entsenderichtlinie Aktenzeichen: WD 6 - 3000 – 008/19 Abschluss der Arbeit: 11. Februar 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Die Ausführungen unter Punkt 3 beruhen auf einem Textbeitrag des Fachbereichs PE 6 (Europa) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 008/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Auslegungsfragen 4 2.1. Literatur 5 2.2. „Allgemein wirksame“ Tarifverträge 5 2.3. „Repräsentativste Organisationen der Tarifvertragsparteien“ 6 3. Wirksamkeit nationalgesetzlicher Änderungen aufgrund der Richtlinie (EU) 2018/957 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 008/19 Seite 4 1. Einleitung Die EU-Entsenderichtlinie1 setzt die europarechtlichen Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern in der Europäischen Union. In Deutschland ist sie durch das Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) umgesetzt. Die am 29. Juli 2018 in Kraft getretene Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen2 (Änderungsrichtlinie) hat die europarechtlichen Vorgaben nun novelliert und regelt unter anderem in Art. 1 Nr. 2 Buchst. d eine Änderung des Art. 3 Abs. 8 der Entsenderichtlinie, der die Möglichkeit vorsieht, Kollektivregeln als Rechtsquellen verpflichtender Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (Art. 3 Abs. 1, 2. Spiegelstrich der Entsenderichtlinie) festzulegen. Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 der Entsenderichtlinie in der bis 28. Juli 2018 geltenden Fassung (a. F.) eröffnete lediglich für den Fall, dass es im betreffenden Mitgliedstaat kein System der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (UAbs. 1) gab, wie es in Deutschland in § 5 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) vorgesehen ist, als Alternative die Möglichkeit, folgende andere kollektivrechtliche Regelungen zugrunde zu legen: „ – die Tarifverträge oder Schiedssprüche, die für alle in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam sind, und/oder – die Tarifverträge, die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen“. Die Neufassung des Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 der Entsenderichtlinie (n. F.) stellt diese Möglichkeiten nun ausdrücklich „zusätzlich“ zu einem System der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen als Optionen zur Verfügung. Damit erweitert die Richtlinie den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht. 2. Auslegungsfragen Die Formulierung der in Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 der Entsenderichtlinie n. F. enthaltenen zusätzlichen Regelungsoptionen lässt Raum für Auslegung und wirft vor allem mit Blick auf eine mögli- 1 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. 2 Abl. EU 2018 L 173 vom 9. Juli 2018, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 008/19 Seite 5 che Nutzung dieser zusätzlichen Optionen im deutschen Arbeitsrecht die Frage auf, ob es außerhalb des Systems der Allgemeinverbindlicherklärung tarifliche Regelungen gibt, die in diesem Rahmen als Rechtsquelle für zusätzliche Schutzbestimmungen in Betracht gezogen werden könnten . Von zentraler Bedeutung sind hierbei die Begriffe „allgemein wirksam“ (1. Spiegelstrich) und „auf nationaler Ebene repräsentativste Organisationen der Tarifvertragsparteien“ (2. Spiegelstrich ). 2.1. Literatur Zwar formulierte Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 der Entsenderichtlinie a. F. die beiden jetzt zusätzlich eröffneten Regelungsmöglichkeiten bereits von Anfang an wortgleich als Alternativen zur Allgemeinverbindlicherklärung ; in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur wurden diese Alternativen jedoch - soweit ersichtlich - nicht näher beleuchtet. Dies erscheint nicht verwunderlich ; denn für Deutschland kam diese Regelungsalternative wegen der Möglichkeiten nach § 5 TVG bisher nicht in Betracht. Aber auch die wenigen Veröffentlichungen zur Novellierung der Richtlinie beschränken sich insoweit allenfalls auf eine Feststellung der Änderung.3 Eine Nutzung der zusätzlichen Optionen wird für Deutschland offenbar nicht in Betracht gezogen. Es sind auch im politischen Raum bisher keine Bestrebungen erkennbar, zusätzliche Kollektivregeln als Rechtsquellen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie im Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu verankern. 2.2. „Allgemein wirksame“ Tarifverträge Als „allgemein wirksam“ im Sinne des Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2, 1. Spiegelstrich der Entsenderichtlinie n. F. können nur solche Bestimmungen bezeichnet werden, die für jeden Arbeitnehmer und jeden Arbeitgeber im „jeweiligen geographischen Bereich“ Anwendung finden. Tarifvertragliche Normen binden nach § 3 TVG aber nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und den Arbeitgeber , der selbst Partei des Tarifvertrags ist. Da in keinem Wirtschaftszweig bundesweit alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber tarifgebunden sind, kann die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass es außerhalb des Systems der Allgemeinverbindlicherklärung allgemein wirksame tarifliche Normen in Deutschland gibt. Da die Allgemeinverbindlicherklärung den räumlichen, persönlichen und fachlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrages nicht verändert und eine Ausweitung des Geltungsbereichs nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung nicht zulässig ist, reicht auch der Geltungsbereich eines für 3 Vgl. etwa: Riesenhuber, Karl: Die Änderungen der arbeitsrechtlichen Entsenderichtlinie, in: NZA 2018, 1433- 1439 (1437). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 008/19 Seite 6 allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags grundsätzlich nur so weit wie der betreffende Tarifvertrag .4 Nur wenige für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge erfassen daher als Geltungsbereich das gesamte Bundesgebiet im Sinne des § 3 AEntG.5 Die Bezugnahme des Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2, 1. Spiegelstrich der Entsenderichtlinie n. F. auf das „jeweilige geographische Gebiet“ in diesem Zusammenhang könnte allerdings dahingehend gedeutet werden, dass die Allgemeinverbindlichkeit nicht das gesamte Staatsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates umfassen muss und somit auch Tarifnormen in Betracht kommen, die nur bezogen auf ein bestimmtes Teilgebiet allgemein wirksam sind. Nahegelegt wird dieser Schluss durch die Formulierung in Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2, 2. Spiegelstrich der Entsenderichtlinie n. F., der im Unterschied zum 1. Spiegelstrich auf „das gesamte nationale Hoheitsgebiet“ abstellt. Danach könnte zumindest auch die Einbeziehung aller nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge in Betracht kommen, deren Tarifgebiet nicht das gesamte Bundesgebiet erfasst 6 und die dann aber auch nur bei Entsendung in den jeweiligen geographischen Geltungsbereich Anwendung finden könnten. Es muss darüber hinaus dahingestellt bleiben, inwieweit eine entsprechende Ergänzung des § 3 AEntG praktikabel wäre und eine politische Mehrheit finden könnte. 2.3. „Repräsentativste Organisationen der Tarifvertragsparteien“ Als weitere Option sieht Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2, 2. Spiegelstrich der Entsenderichtlinie n. F. die Bezugnahme im Rahmen des nationalen Entsenderechts auf Tarifverträge der „auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien“ vor, soweit sie im gesamten nationalen Hoheitsgebiet Anwendung finden. Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, die bundesweit und branchenübergreifend als Tarifvertragsparteien tätig wären, gibt es in Deutschland nicht.7 Im Übrigen dürfte die Bevorzugung einzelner Tarifvertragsparteien gegenüber anderen durch den Staat sich als schwer zu rechtfertigender Eingriff in das Grundrecht der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG darstellen, wie die 4 Lakies in Däubler, Tarifvertragsgesetz, 4. Auflage 2016, § 5 Rn. 193 mit Nachweisen aus der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. 5 Vgl. eine Zusammenstellung der allgemeinverbindlichen bundesweit geltenden Mindestentgelt-Tarifverträge im Sinne des AEntG (Stand: 18. Juni 2018) in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der FDP (Bundestagsdrucksache 19/2328), Auswirkungen der Reform der Entsenderichtlinie, Bundestagsdrucksache 19/2806 vom 18. Juni 2018, S. 4. 6 Vgl. die Übersicht über die allgemeinverbindlichen Tarifverträge im Internetauftritt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: https://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsrecht/Tarifvertraege/allgemeinverbindliche-tarifvertraege.html (letzter Abruf: 8. Februar 2019; zur Zeit des letzten Abrufs in Überarbeitung). 7 Die insoweit wohl einzig in Betracht zu ziehenden Organisationen wären auf der Arbeitnehmerseite der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und auf Arbeitgeberseite die Bundevereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), deren Aufgaben sich aber in ihrer Funktion als Spitzenorganisationen erschöpft. Eigene Tarifverhandlungen oder der Abschluss von Tarifverträgen gehören nicht zu ihren satzungsgemäßen Aufgaben. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 – 008/19 Seite 7 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Tarifeinheitsgesetz8 zeigt. Den durch das Tarifeinheitsgesetz eingeführten § 4a TVG, der Tarifkollisionen auf Betriebsebene zugunsten des jeweiligen Mehrheitstarifvertrages auflöst, erachtete das Bundesverfassungsgericht als insoweit mit der Verfassung unvereinbar, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden.9 Damit dürfte das Grundrecht der Tarifautonomie der Möglichkeit einer bundesweiten Verdrängung bestehender Tarifverträge im Rahmen des Arbeitnehmer -Entsendegesetzes entgegenstehen. 3. Wirksamkeit nationalgesetzlicher Änderungen aufgrund der Richtlinie (EU) 2018/957 Die Änderungsrichtlinie 2018/957 regelt in Art. 3 Abs. 1: "(1) Die Mitgliedstaaten erlassen und veröffentlichen bis 30. Juli 2020 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften , die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Maßnahmen mit. Sie wenden diese Maßnahmen ab dem 30.Juli 2020 an. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Richtlinie 96/71/EG weiterhin in der Fassung anwendbar, die vor den mit dieser Richtlinie eingeführten Änderungen galt. Bei Erlass dieser Maßnahmen nehmen die Mitgliedstaaten in den Maßnahmen selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf die vorliegende Richtlinie Bezug . Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme." Die Mitgliedstaaten wenden mithin bis zum 30. Juli 2020 ihr altes Recht an, selbst wenn sie Novellen der Europäischen Kommission bereits zu einem früheren Zeitpunkt mitteilen. *** 8 Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) vom 3. Juli 2015. 9 BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1477/16, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1588/15. Der Bundesgesetzgeber hat § 4a TVG nach Auflagen des BVerfG mit Wirkung zum 1. Januar 2019 entsprechend ergänzt, Art. 4f des Gesetzes zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung (Qualifizierungschancengesetz) vom 18. Dezember 2018.