© 2020 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 007/20 Urlaubskassen der Bauwirtschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 007/20 Seite 2 Urlaubskassen der Bauwirtschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 007/20 Abschluss der Arbeit: 30. Januar 2020 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 007/20 Seite 3 1. Die Sozialkassen im Baugewerbe Ein erheblicher Anteil der gewerblichen Arbeitnehmer im Baugewerbe wechselt im Kalenderjahr mindestens einmal den Arbeitgeber oder wird nicht ganzjährig beschäftigt, was für die Arbeitnehmer mit Nachteilen bei der Verwirklichung von Urlaubsansprüchen verbunden ist. Diese branchenspezifischen Nachteile werden durch die Einschaltung der Sozialkassen als gemeinsame Einrichtungen der Tarifpartner abgefedert. Bereits 1949 wurde zur Sicherung des Urlaubsanspruchs der gewerblichen Arbeitnehmer im Baugewerbe von den Tarifvertragsparteien die „Gemeinnützige Urlaubskasse für die Bauwirtschaft“ geschaffen, 1955 kam die „Lohnausgleichskasse für die Bauwirtschaft“ hinzu. Seit 1975 firmieren beide Kassen als Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK). Zum Ausgleich von Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung durch Nichtbeschäftigungszeiten in den Wintermonaten wurde 1957 als weitere gemeinsame Einrichtung die Zusatzversorgungskasse (ZVK) eingeführt. In der Folgezeit haben die Sozialkassen des Baugewerbes darüber hinaus eine Reihe weiterer Aufgaben erhalten. Seit 2001 treten sie unter der gemeinsamen Bezeichnung „SOKA-BAU“ auf.1 Die Sozialkassen des Baugewerbes sind gemeinsame Einrichtungen im Sinne des § 4 Abs. 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG). Träger der SOKA-BAU sind die Tarifvertragsparteien der Bauwirtschaft : der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt. Die Rechtsgrundlagen der Sozialkassen sind vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge zwischen den genannten Tarifpartnern. 2. Urlaubsmarkensystem im Baugewerbe in der Weimarer Republik Die Anfänge der Sozialkassen im Baugewerbe reichen nach Darstellung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) zurück in die Zeit der Weimarer Republik, „die mit dem Urlaubsmarkensystem für den Bau bereits damals ein überbetriebliches Ansparmodell für Urlaubsansprüche kannte.“2 Einen gesetzlichen Urlaubsanspruch gab es in der Weimarer Zeit nicht; Ansprüche auf bezahlten Erholungsurlaub bestanden aber vielfach aufgrund tarifvertraglicher Regelungen.3 Art. 159 der Weimarer Verfassung garantierte die Koalitionsfreiheit für jedermann und für alle Berufe, und obwohl es zur Schaffung eines Tarifvertragsgesetzes in der Weimarer Zeit letztlich nicht kam, waren Tarifverträge als Instrument der Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch die 1 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung der Sozialkassen im Internetauftritt der SOKA-BAU: https://www.soka-bau.de/soka-bau/ueber-soka-bau/geschichte/, zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020. 2 Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vom 18. Januar 2017 zur öffentlichen Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz - SokaSiG), S. 4, abrufbar im Internetauftritt des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++235e8952-7b52-11e7-ae12-525400e5a74a, zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020; weitere Einzelheiten konnten im gegebenen Rahmen nicht ermittelt werden. 3 Vgl. Frerich, Johannes / Frey, Martin (1996): Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reichs, 2. Auflage München: Oldenbourg, S. 192 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 007/20 Seite 4 Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten (TVVO) vom 23. Dezember 19184, neugefasst durch Gesetz vom 28. Februar 19285, staatlich anerkannt und wurden grundsätzlich frei vereinbart.6 Hiervon ausgehend ist anzunehmen , dass auch ein Urlaubsmarkensystem in der Bauwirtschaft während der Weimarer Zeit auf tarifvertraglicher Grundlage beruhte und von den Tarifvertragsparteien getragen wurde. 3. Urlaubsmarkensystem des Baugewerbes im Nationalsozialismus Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland wurde die Arbeitsverfassung durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) vom 20. Januar 1934 (RGBl. I 1934 S. 45) grundlegend umgestaltet.7 Gemäß § 65 Nr. 6 AOG trat die Tarifvertragsordnung samt den aufgrund dieser Verordnung erlassenen Bestimmungen außer Kraft. Am 30. April 1934 noch gültige Tarifverträge traten nach § 72 Abs. 2 AOG spätestens nach Ablauf dieses Tages außer Kraft. Damit verloren jedenfalls auch tarifliche Urlaubsmarkensysteme, soweit sie bis dahin durchgeführt wurden, ihre tarifvertragliche Grundlage. Für größere Wirtschaftsgebiete wurden nach § 18 AOG sogenannte Treuhänder der Arbeit ernannt , die als Beamte der Dienstaufsicht des Arbeitsministers unterstanden und diesem gegenüber weisungsgebunden waren. Seit 1937 wurden sie als sozialpolitische Vertreter der Reichsregierung in ihrem Wirtschaftsbezirk „Reichtreuhänder der Arbeit“ genannt.8 Gemäß § 32 Abs. 2 AOG konnten die Treuhänder der Arbeit, nach Beratung in einem durch sie zu berufenden Sachverständigenausschuss (§ 23 AOG) eine Tarifordnung erlassen, wenn die Festsetzung von Min- 4 Der Text der TVVO ist abrufbar im Internetauftritt des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München (ZAAR): https://www.zaar.uni-muenchen.de/download/doku/historische_gesetze/verordnung_ueber_ta.pdf, zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020. 5 Neufassung durch Artikel II Abs. 2 des Gesetzes zur Abänderung der Tarifvertragsverordnung vom 28. Februar 1928 (RGBl. I S. 46) und Bekanntmachung am 1. März 1928, der Text der Neufassung ist abrufbar im Internetauftritt des ZAAR: https://www.zaar.uni-muenchen.de/download/doku/historische_gesetze/mo-nr_38_neufassung .pdf, zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020. 6 Frerich/Frey (Fn. 3), S. 181; vgl. auch Lesch, Hagen / Byrski, Dennis (2016): Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland - Ein historischer Rückblick, IW-Analysen Nr. 107, Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln), S. 28, abrufbar im Internetauftritt des IW Köln: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen/2016/292529/IW-Analyse_2016-107-Flaechentarifvertrag.pdf, zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020. 7 Vgl. dazu Hachtmann, Arbeitsverfassung, Dokserver des Zentrums für zeithistorische Forschung Potsdam, abrufbar unter https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/index/index/docId/813, zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020. 8 Gesetz vom 19. März 1937 (RGBl. I 1937 S. 342), Kalckbrenner, Otto (1936): Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit mit sämtlichen Durchführungsbestimmungen und sonstigen einschlägigen Vorschriften, Textausgabe mit Einführung, S. 13. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 007/20 Seite 5 destbedingungen zur Regelung der Arbeitsverhältnisse zwingend geboten war. Für den Erlass einer Tarifordnung, die über den Wirtschaftsbezirk eines Treuhänders für Arbeit hinausging, bestimmte der Reichsarbeitsminister nach § 33 AOG einen Sondertreuhänder. „Die Treuhänder der Arbeit waren durch die 16. AOG-Durchführungsverordnung9 ermächtigt worden, für das Baugewerbe ein sogenanntes Urlaubsmarkensystem einzuführen, was dann auch durch die Reichstarifordnung vom 2. Juni 1936 geschah (RArBl. [VI] S. 548). Danach erhielt jeder Bauarbeiter eine Urlaubskarte, die von der Post ausgegeben wurde. In diese hatte der Betrieb bei jeder Lohnzahlung als zusätzliche Leistung für jede Lohnwoche eine Urlaubsmarke in Höhe von 2 % des Bruttolohnes einzukleben. Nach einer Beschäftigungszeit von 32 Wochen konnte der Arbeiter vier Tage Urlaub, nach 48 Wochen sechs Tage Urlaub beanspruchen, wobei ihm dann aufgrund der Urlaubsmarken von der Post das zustehende Urlaubsgeld ausbezahlt wurde.“10 Nach in der Literatur vertretener Auffassung handelt es sich dabei um die erste (umfassende) Urlaubsmarkenregelung für das Bau- und Baunebengewerbe. 11 Eine Neufassung der Tarifordnung12 trat am 1. Januar 1938 in Kraft. Dabei wurden verschiedene Regelungen konkretisiert und ergänzt; wesentliche Änderungen des Verfahrens gegenüber der Ursprungsfassung enthielt die Neufassung jedoch nicht. Weitere Änderungen erfuhr das Urlaubsmarkensystem durch die Tarifordnung vom 15. Oktober 1940; eine Neubekanntmachung erfolgte am 25. Oktober 1944, bevor das Urlaubsmarkensystem durch § 2 der Tarifordnung zur Regelung des Urlaubs und der Heimfahrten für das Bau- und Baunebengewerbe vom 8. November 1944 (RArBl. 1944 IV, S. 429) für die Zeit einer damals geltenden allgemeinen Urlaubssperre aufgehoben wurde.13 Erst 1949 wurde das Urlaubsmarkensystem auf tariflicher Grundlage unter enger Anlehnung an die Regelung aus dem Jahr 193614 im Baugewerbe wieder eingeführt. *** 9 Sechzehnte Durchführungsverordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (Einführung von Urlaubskarten und Urlaubsmarken) vom 20. Mai 1936 (RGBl. I 1936 S. 454) in der Fassung der Verordnung vom 28. April 1939 (RGBl. I 1939 S. 870) bei Kalckbrenner, Otto (1936): Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit mit sämtlichen Durchführungsbestimmungen und sonstigen einschlägigen Vorschriften , Textausgabe mit Einführung, S. 94 f. 10 Frerich/Frey (Fn. 3), S. 284; vgl. dazu ausführlich Kalckbrenner, Otto (1936): Die Durchführung des Urlaubsmarkensystems im Baugewerbe, RArBl. 1936 II S. 281-283. 11 Müller, Konrad (1960): Ausgewählte Fragen aus dem Urlaubsmarkensystem, Dissertation, Friedrich-Alexander- Universität Erlangen, S. 3; ähnlich Rupp, Wolfdieter (1962): Rechtsprobleme des Urlaubsmarkenverfahrens im Baugewerbe; Dissertation, Universität Köln, S. 11. 12 Tarifordnung über den Urlaub nach dem Markensystem im Baugewerbe in der Fassung der Änderungs- und Ergänzungstarifordnung vom 1. Dezember 1937 (RArBl. 1937 VI S. 1286). 13 Müller (Fn. 11), S. 4; Rupp (Fn. 11), S. 11. 14 Müller (Fn. 11), S. 4; ähnlich Rupp (Fn. 11), S. 11, 12.