© 2015 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 007/15 Der Gesetzentwurf zur Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausgewählte Aspekte und weiterführende Fragestellungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 2 Der Gesetzentwurf zur Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausgewählte Aspekte und weiterführende Fragestellungen Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 007/15 Abschluss der Arbeit: 3. Februar 2015 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtliche Grundlagen der Tarifeinheit 4 2.1. Der Begriff der Tarifeinheit nach der Rechtsprechung bis 2010 5 2.2. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 6 3. Der Inhalt des Gesetzentwurfes 6 4. Verfassungsrechtliche Beurteilung 8 4.1. Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG 8 4.2. Eingriff in den Schutzbereich 10 4.2.1. Eingriff oder bloße Ausgestaltung? 10 4.2.2. Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit 11 4.2.2.1. Tarifabschlüsse und Organisation 11 4.2.2.2. Arbeitskampf 12 4.2.3. Eingriff in die individuelle Koalitionsfreiheit 14 4.2.4. Zwischenfazit 14 4.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 15 4.3.1. Wahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie 16 4.3.1.1. Schutz vor Überbietungswettbewerb und Arbeitskämpfen 18 4.3.1.2. Ordnungsfunktion der Tarifeinheit 21 4.3.1.3. Wahrung der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit 22 4.3.1.4. Mehrheitsprinzip und Nachzeichnungsrecht 24 4.3.2. Kollidierende Rechtsgüter Dritter 25 4.4. Fazit 27 5. Weiterführende Fragestellungen 28 5.1. Praktikabilitätserwägungen 28 5.1.1. Betriebsbegriff 28 5.1.2. Ermittlung der Mehrheitsgewerkschaft 30 5.2. Ausblick hinsichtlich gerichtlicher Auseinandersetzungen 31 6. Literaturverzeichnis 33 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 4 1. Einleitung Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Gesetz zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz)1, der derzeit dem Bundesrat zur Beratung vorliegt, sieht vor, dass zukünftig in einem Betrieb, in dem sich die Geltungsbereiche verschiedener Tarifverträge überschneiden, der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft angewendet werden muss, die in diesem Betrieb die meisten Beschäftigten organisiert. Hintergrund des Gesetzentwurfes ist nach Angabe der Bundesregierung das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. Juli 20102, in dem es den in ständiger Rechtsprechung geprägten Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben hat. Seitdem können konkurrierende Gewerkschaften für gleiche Beschäftigtengruppen verschiedene Tarifverträge abschließen, die innerhalb eines Betriebes mit zwingender Wirkung zur Anwendung kommen können. Die Bundesregierung ist der Entwurfsbegründung zufolge der Überzeugung, dass eine solche Tarifpluralität die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtige und den Betriebsfrieden nachhaltig stören könne. Zu untersuchen ist, ob die vorgeschlagene gesetzliche Regelung der Tarifeinheit einer verfassungsrechtlichen Prüfung am Maßstab der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG)3 standhält. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich weitestgehend auf den konkret vorliegenden Gesetzesentwurf. Es werden dabei die wesentlichen im verfügbaren Schrifttum aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragestellungen aufgegriffen und diskutiert. 2. Rechtliche Grundlagen der Tarifeinheit Eine grundsätzliche Aussage zur Geltung von Tarifverträgen enthalten bisher § 4 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes (TVG).4 Danach gelten die Regelungen eines Tarifvertrages unmittelbar und zwingend zwischen den Mitgliedern der Vertragsparteien und bleiben gemäß § 3 Abs. 3 TVG solange bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Mit dem TVG hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für ein gesetzlich gesichertes tarifvertragliches Regelungsverfahren in Ausgestaltung der verfassungsrechtlich abgesicherten Tarifautonomie geschaffen. „Die Tarifvertragsparteien regeln auf dieser Grundlage (privat)autonom, mit welchen tarifpolitischen Forderungen sie für ihre Mitglieder tarifvertragliche Regelungen mit welchem Tarifvertragspartner setzen wollen und letztlich vereinbaren.“5 1 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014. 2 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, alle Urteile sind nach JURIS zitiert. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 91b) vom 23. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2438). 4 Tarifvertragsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1323), zuletzt geändert durch Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetz vom 11. August 2014 (BGBl. I S. 1348). 5 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 87. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 5 2.1. Der Begriff der Tarifeinheit nach der Rechtsprechung bis 2010 Unter dem Begriff der Tarifeinheit wird eine von der Rechtsprechung entwickelte Kollisionsregel für die Fälle des Aufeinandertreffens mehrerer Tarifverträge verstanden. Diese Regel besagt, dass auf ein Arbeitsverhältnis oder in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden soll. Der Grundsatz der Tarifeinheit wurde in zwei Konstellationen angewandt: Unstreitig gilt er in den Fällen der Tarifkonkurrenz, d.h., wenn ein Arbeitsverhältnis von mehreren Tarifverträgen zugleich erfasst wird. Darüber hinaus vertrat das Bundesarbeitsgericht bis 2010 die Auffassung, der Grundsatz der Tarifeinheit sei auch auf die Fälle der sog. Tarifpluralität anzuwenden. Tarifpluralität liegt vor, wenn der Betrieb des Arbeitgebers vom Geltungsbereich zweier von verschiedenen Gewerkschaften geschlossener Tarifverträge für Arbeitsverhältnisse derselben Art erfasst wird, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Tarifgebundenheit nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung findet.6 Der richterrechtliche Grundsatz der Tarifeinheit stellte damit eine Ausnahme von dem Gebot der unmittelbaren und zwingenden Geltung von Tarifverträgen nach § 4 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 TVG dar. Für den Fall der Tarifpluralität in einem Betrieb soll nach dem Grundsatz der Tarifeinheit nur einer der bestehenden Tarifverträge Geltung beanspruchen können. Nach dem sog. Grundsatz der Spezialität verdrängte der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehende und deshalb den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebs und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung tragende Tarifvertrag die anderen Tarifverträge. Das Bundesarbeitsgericht begründete seine bisherige Rechtsprechung mit den übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.7 Weil das Tarifvertragsgesetz keine Regelungen für den Fall der Tarifpluralität enthalte, bestehe eine Regelungslücke. Bei dem Grundsatz der Tarifeinheit handele es sich um ein allgemein anerkanntes Rechtsprinzip. Die Gewerkschaft des spezielleren Tarifvertrages könne wegen der größeren Sachnähe das stärkere Recht für sich in Anspruch nehmen. Ferner gewährleiste nur die Geltung eines einzigen Tarifwerkes eine praktisch handhabbare und durchschaubare Regelung der Arbeitsbedingungen im Betrieb. Rechtliche und tatsächliche Unzuträglichkeiten, die sich aus einem Nebeneinander oder aus der Nichtanwendung von Tarifverträgen in einem Betrieb ergeben, würden dadurch vermieden. 6 ZWANZIGER, Bertram, in: Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012, § 4 TVG, Rn. 940; BAG, Urteil vom 24. Januar 1990, Az.: 4 AZR 561/89. 7 Vgl. statt vieler BAG, Urteil vom 20. März, 1991, Az.: 4 AZR 455/90, Rn. 23 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 6 2.2. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Mit den beiden entscheidenden Beschlüssen8 und seinem Urteil9 vom 7. Juli 2010 hat das Bundesarbeitsgericht seine ständige Rechtsprechung bezüglich der Tarifeinheit für die Fälle der Tarifpluralität aufgegeben. Als wesentliches Argument hierfür führte es an, der Grundsatz der Tarifeinheit sei mit der im Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Koalitionsfreiheit nicht vereinbar. Zur Abkehr von seiner bis dahin vertretenen Ansicht stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass die bisherige Rechtsprechung in Fällen der Tarifpluralität dazu führe, dass in einem Betrieb der weniger spezielle Tarifvertrag seiner Wirkung beraubt werde. Dies könne aber weder auf eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage noch auf übergeordnete Prinzipien der Rechtssicherheit oder der Rechtsklarheit gestützt werden. Das Tarifvertragsgesetz enthalte keinen vorgehenden allgemeinen Grundsatz der Tarifeinheit.10 Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bleibt es daher bei der gesetzlichen Anordnung der Tarifgebundenheit in § 3 TVG: Alle Tarifverträge, die unterschiedliche Arbeitsverhältnisse in einem Betrieb betreffen, sind vollumfänglich wirksam. 3. Der Inhalt des Gesetzentwurfes Seit der Abkehr des Bundesarbeitsgerichts vom Prinzip der Tarifeinheit können für dieselbe Beschäftigungsgruppe unterschiedliche Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften gleichzeitig zur Anwendung gelangen. Hierdurch wird jedoch nach Ansicht der Bundesregierung die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt. Tarifkollisionen würden die Gefahr bergen, dass die Koalitionen der ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG überantworteten und im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden könnten. Daher solle durch das geplante Gesetz zur Tarifeinheit ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, innerhalb dessen die Koalition die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Arbeitnehmer sinnvoll ordnen könnten. Das Tarifeinheitsgesetz soll nach der Gesetzesbegründung die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern. Um dies zu erreichen, soll als neue Vorschrift der § 4a TVG (neu) in das Tarifvertragsgesetz eingefügt werden, welche als „Kernstück“ des Gesetzesvorhabens anzusehen ist.11 § 4a Abs. 1 TVG (neu) legt den Regelungszweck der neuen Vorschrift fest. Danach sollen Tarifkollisionen „zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie 8 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08 und Beschluss vom 23. Juni 2010, Az.: 10 AS 2/10. 9 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08. 10 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 23, 65. 11 So DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 7 Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrages“ vermieden werden. Hieran anschließend formuliert § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG (neu) – lediglich klarstellend –, dass der Arbeitgeber nach § 3 TVG an mehrere Tarifverträge mit unterschiedlichen Gewerkschaften gebunden sein kann. In der Literatur wird zum Teil die Auffassung vertreten, dass auch eine so genannte gewillkürte Tarifpluralität weiterhin möglich sei, d.h. die beteiligten Gewerkschaften und Arbeitgeber könnten sich dahingehend einigen, dass für eine bestimmte Gruppe von Beschäftigten je nach Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft unterschiedliche Tarifverträge gelten sollen.12 Der Gesetzentwurf spricht jedoch lediglich von dem Recht der Gewerkschaften, ihre Zuständigkeiten wechselseitig abzustimmen und Tarifverträge jeweils für „verschiedene Arbeitnehmergruppen abzuschließen.“ Diese Formulierung dürfte sich daher eher so lesen, dass zwei verschiedene Gewerkschaften in einem Betrieb gerade nicht für dieselbe Beschäftigungsgruppe verschiedene Tarifverträge abschließen können. Denn sobald die Tarifverträge nicht inhaltsgleich seien, bestehe – laut der Entwurfsbegründung – eine auflösungsbedürftige Tarifkollision.13 Die Verdrängung der Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaften müsse daher selbst dann erfolgt, wenn mehrere Tarifverträge einvernehmlich mit dem Arbeitgeber geschlossen wurden.14 Denn nach dem Wortlaut des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG (neu) wird die Anwendung der Rechtsnormen des Tarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft im Fall der Tarifkollision angeordnet. Es soll damit auch für den Arbeitgeber – jedenfalls nach dem Wortlaut und der Begründung des Gesetzesentwurfs – kein Wahlrecht hinsichtlich einer gewillkürten Tarifpluralität bestehen. Gelingt keine autonome Verständigung der Gewerkschaften und besteht eine Tarifkollision, d.h. überschneiden sich die Geltungsbereiche von inhaltlich nicht identischen Tarifverträgen, soll nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG (neu) der Grundsatz der Tarifeinheit greifen. Danach würde allein der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Die Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft(en) werden verdrängt , unabhängig davon, welche Gegenstände der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft überhaupt regelt. Bei der Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb ist nach der Begründung des Gesetzentwurfs ein „tarifrechtlicher“ Betriebsbegriff zu Grunde zu legen. Die Minderheitsgewerkschaft, deren Tarifvertrag von der Mehrheitsgewerkschaft nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt wird, erhält nach § 4a Abs. 4 TVG (neu) ein so genanntes Nachzeichnungsrecht, sofern ein bestehender und von ihr abgeschlossener Tarifvertrag verdrängt wird.15 Auf diesem Wege kann sie die Geltung des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft auch für ihre Mitglieder erwirken. Ferner ist nach § 4a Abs. 5 TVG (neu) ein Anhörungsrecht gegenüber der Arbeitgeberseite vorgesehen, wenn diese mit einer konkurrierenden Gewerkschaft in 12 So DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 5f. 13 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 9. 14 BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (77); der DEUTSCHE ANWALTVEREIN sieht es zumindest als unklar an, ob § 4a TVG (neu) auch Fälle der gewillkürten Tarifpluralität erfasst und fordert insoweit eine Klarstellung, Stellungnahme zum Referentenentwurf, November 2014, Stellungnahme Nr. 60/2014, S 4. 15 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 8 Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags eintritt. Die Gewerkschaft kann allerdings ihre Auffassung lediglich mündlich darlegen, ein Erörterungs- oder Verhandlungsrecht besteht, wie sich aus der Entwurfsbegründung ergibt, nicht.16 Die Bundesregierung hebt in ihrer Begründung zum Gesetzentwurf hervor, dass die Tarifparteien nach wie vor eigenständig die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Beschäftigten sinnvoll ordnen und Tarifkollisionen vermeiden sollen. Der geplante § 4a TVG (neu) greife insbesondere nicht in das Arbeitskampfrecht ein. Im Streitfall würde auch künftig durch die Arbeitsgerichte geprüft, ob ein Streik verhältnismäßig sei oder nicht. 4. Verfassungsrechtliche Beurteilung Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich zunächst die Frage, ob der Abschluss von Tarifverträgen in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fällt. Des Weiteren kommt es darauf an, ob § 4a TVG (neu) – wegen der unterschiedlichen Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung – als Ausgestaltung oder Beschränkung der Koalitionsfreiheit zu qualifizieren ist. Soweit es um die Ausgestaltung eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems geht, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu; geht es demgegenüber um eine Beschränkung des Grundrechts , so ist eine Rechtfertigung nur unter strengen Voraussetzungen möglich.17 Geht man von einem Eingriff in das Freiheitsrecht aus, so ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob die Regelung zur Tarifeinheit den § 4 a TVG (neu) – ggf. unter Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht –verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. 4.1. Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG Das Grundgesetz konkretisiert die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG mit dem Satz: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Daraus erschließt sich jedoch kaum die tatsächliche Reichweite des Grundrechts. Vielmehr ist zur Bestimmung des Schutzbereiches auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zurückzugreifen. Die Koalitionsfreiheit ist nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG zunächst ein Individualgrundrecht . Sie gewährleistet insoweit das Recht des Einzelnen zur Gründung einer Koalition, zum 16 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 12 f. 17 Vgl. dazu LINSENMAIER, Wolfgang, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG Rn. 82 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 9 Beitritt zu einer Koalition und zum Verbleib in ihr sowie zu jeder koalitionsspezifischen Betätigung innerhalb und außerhalb des jeweiligen Verbandes.18 Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ist der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG dabei nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsgemäßer Betätigung beschränkt, die für die Erreichung des Koalitionszwecks unerlässlich sind. Er erstreckt sich vielmehr auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen.19 Der Schutz der individuellen Koalitionsfreiheit schließt des Weiteren die negative Koalitionsfreiheit ein, also das Recht, aus einer Koalition auszutreten oder Koalitionen generell fernzubleiben.20 Geschützt ist zum anderen aber auch die Koalition selbst, also ihr Bestand, ihre organisatorische Ausgestaltung und alle ihre Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen.21 Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht.22 Damit ist gerade auch das Recht der Koalitionen geschützt, Tarifverträge abzuschließen.23 Als Konsequenz können sich die Koalitionen aus eigenem Recht gegen störende Einflüsse bei ihrer Gründung, organisatorischen Ausgestaltung, Selbstdarstellung und Zweckverfolgung zur Wehr setzen. Aus dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG, wonach die Koalitionsfreiheit für jedermann und alle Berufe gewährleistet wird, wird im Schrifttum abgeleitet, dass gerade die Berufsgewerkschaft „keine Anomalie, keine Systemabweichung“, ist, sondern eine vom Grundgesetz vorgesehene Betätigung der Koalitionsfreiheit.24 Damit sei die Organisation nach dem Berufsverbandsprinzip verfassungsrechtlich in gleicher Weise geschützt wie die Organisation nach dem Industrieverbandsprinzip .25 DIETERICHS betont die Systemkonformität des Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen Koalitionen im Zusammenhang mit dem Streit um koalitionspolitische Ziele und 18 LINSENMAIER, Wolfgang, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 30. 19 BVerfG, Beschluss vom 11. November 1995, Az.: 1 BvR 601/92; BAG, Beschluss vom 15. Oktober 2013, Az.: 1 ABR 31/12. 20 LINSENMAIER, Wolfgang, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 32 mit Verweis auf BVerfG, Urteil vom 14. Juni 1983, Az.: 2 BvR 488/80. 21 BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 1991, Az.: 1 BvR 779/85; WILMS, Heinrich, in: Hümmerich/Boecken/Düwell, NomosKommentar Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2010, Art. 9 GG, Rn. 53; LINSENMAIER, Wolfgang, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 39 mit weiteren Nachweisen. 22 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 78 mit weiteren Nachweisen. 23 BVerfG, Urteil vom 18. November 1954, Az.: 1 BvR 629/52, Rn. 24. 24 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 30 f. 25 GREINER, Stefan, Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit. In: NZA 2010, S. 743-745 (744) mit Verweis auf LÖWISCH; Manfred / RIEBLE, Volker, in: Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012, § 4 Rn. 139. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 10 Strategien. Die Verfassung gehe davon aus, dass sich die Konflikte zwischen den Koalitionsparteien autonom regeln lassen, und zwar „durch Wettbewerb und Vertrag“.26 Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit enthält nicht nur die subjektiven Freiheitsrechte, sondern darüber hinaus auch ein objektives Ordnungsprinzip, dessen gesellschaftspolitischer Anspruch über den Grundsatz der gesellschaftlichen Selbstorganisation hinausweist.27 Wie weit dieses Ordnungsprinzip geeignet ist, den Inhalt der Freiheitsrechte selbst zu begrenzen, ist im Schrifttum umstritten (siehe dazu unten Punkt 4.3.1.2, S. 21 f.). Das Bundesverfassungsgericht weist zwar ebenfalls auf die institutionelle Bedeutung der Koalitionsfreiheit für die Ordnung des Arbeitsund Wirtschaftslebens hin, betont aber stets deren individuellen Gehalt. 4.2. Eingriff in den Schutzbereich 4.2.1. Eingriff oder bloße Ausgestaltung? Fraglich ist, ob der in § 4a TVG (neu) vorgesehene Grundsatz der Tarifeinheit einen Eingriff in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellt. Für die Beantwortung ist entscheidend, ob die vorgesehene Tarifeinheit als bloße Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit oder als deren Beschränkung anzusehen ist. Sieht man mit einer im Schrifttum vertretenen Auffassung die Funktion der Koalitionsfreiheit allein darin, die „strukturelle Unterlegenheit“ der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern durch die Zusammenfassung von Marktmacht bei der Aushandlung von Arbeitsbedingungen zu überwinden,28 dann erfüllt sie keinen Selbstzweck, sondern dient lediglich als „Mittel zu einer sinnvollen Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens“29 und ist nur „auf die effiziente Wahrnehmung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen im Verbund gerichtet“ 30. Ein so verstandenes Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedürfte trotz Fehlen eines ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts einer einfachgesetzlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. In diesem Sinne formuliert auch die Bundesregierung in Ihrem Gesetzentwurf: „Der Gesetzgeber schafft mit dem Tarifvertragsrecht einen gesetzlichen Rahmen, innerhalb dessen die Koalitionen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sinnvoll ordnen können,“31 26 DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem. In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (48 f.). 27 SCHOLZ, Rupert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. EL 2014, Art. 9 GG, Rn. 164. 28 Vgl. GIESEN, Richard, Tarifeinheit im Betrieb, in: NZA 2009, 11-18 (16 ff.); HROMADKA, Wolfgang, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Tarifkollision, in: NZA 2008, S. 384-391 (386 ff.). 29 HROMADKA, Wolfgang, Wiederherstellung der Tarifeinheit – Die Quadratur des Dreiecks. In: NZA 2014, S.1105- 1111 (1106). 30 GIESEN, Richard, Tarifeinheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1 – 44 (39). 31 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 1; ähnlich LINSENMAIER, Wolfgang, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG, Rn. 42. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 11 und geht mithin von einer bloßen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit aus. Der vorhandene Gestaltungsrahmen soll lediglich um die Regelung der Tarifeinheit erweitert werden.32 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts intendiert Art. 9 Abs. 3 GG demgegenüber aber auch die „autonome Ordnung des Arbeitslebens“ durch die Koalitionen. 33 Das Bundesverfassungsgericht hebt den Charakter der Koalitionsfreiheit als individuelles Grundrecht hervor: „Mit der grundrechtlichen Garantie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können.“34. Dementsprechend geht auch das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil von 2010 davon aus, die Tarifeinheit stelle eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit dar, da diese gerade auch den Wettbewerb unter den Gewerkschaften schütze.35 Es sieht im Abschluss von Tarifverträgen für alle organisierten Arbeitnehmer einen zentralen Bestandteil der kollektiven Koalitionsfreiheit, die nicht durch Auflösung der Tarifpluralität und Herstellung von Tarifeinheit entwertet werden dürfe.36 Dieser auch im Schrifttum überwiegenden Auffassung ist der Vorzug zu geben: „Eine Unterlegung – und damit Beschränkung - des Freiheitsgebrauchs mit vorgefassten Vernunftargumenten […] hat keinen selbständigen Wert bei der Schutzbereichsbestimmung eines tatbestandlich offenen Grundrechts wie dem der Koalitionsfreiheit,“ pointiert DI FABIO. 37 4.2.2. Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit 4.2.2.1. Tarifabschlüsse und Organisation Die Anwendbarkeit des Tarifvertrages einer Gewerkschaft, die in einem Betrieb eine Minderheit der Arbeitnehmer vertritt, wird durch § 4a TVG (neu) im Falle der Überschneidung des Anwendungsbereichs mehrerer Tarifverträge ausgeschlossen. Durch die Tarifeinheit wird der jeweiligen 32 Ebenfalls von einer Grundrechtsausgestaltung durch Einführung der Tarifeinheit gehen aus: PAPIER, Hans-Jürgen / KRÖNKE, Christoph, Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: ZfA 2011, S. 807-866 (838 f.); HROMADKA, Wolfgang, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Tarifkollision, NZA 2008, S. 384-391 (386 ff.); GIESEN, Richard, Tarifeinheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1-44 (21 ff.). 33 BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1977, Az.: 2 BvL 11/74. 34 BVerfG, Urteil vom 2. März 1993, Az.: 1 BvR 1213/85, Rn. 43. 35 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 54, 56, 69. 36 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 57. 37 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 26. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 12 Minderheitsgewerkschaft damit die konkrete Rechtsposition, die sie durch den Abschluss eines Tarifvertrages erlangt hat, entzogen.38 Auch ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, die Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip könne Arbeitnehmer besonders von der Mitgliedschaft in kleinen, noch im Aufbau befindlichen oder nach bestimmten Kriterien organisierten Gewerkschaften abschrecken und diese mithin in besonderem Maße benachteiligen.39 Von der Einführung des Grundsatzes der Tarifeinheit dürften wohl in erster Linie die Berufs- und Spartengewerkschaften betroffen sein, weil sie „strukturbedingt im Normalfall nur eine Minderheit der Arbeitnehmer im Betrieb“ vertreten.40 Das Bundesarbeitsgericht weist in diesem Zusammenhang auf die Gefahr hin, dass durch die Verdrängung des Tarifvertrages der unterlegenen Gewerkschaft deren Verhandlungsposition und Attraktivität entwertet würden. Unter Umständen sei ihr deshalb die Koalitionsbetätigung in einem bestimmten Betrieb oder Unternehmen oder in einem ganzen Wirtschaftszweig faktisch verwehrt, wodurch auch die Koalitionsbestandsgarantie betroffen sein könne.41 Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Erhaltung und der Ausbau des Mitgliederbestandes als bestandssichernde Maßnahmen vom Grundrecht der Koalitionsfreiheit erfasst.42 4.2.2.2. Arbeitskampf Der Gesetzesentwurf enthält keine unmittelbare Regelung hinsichtlich des Streikrechts der Minderheitengewerkschaften . Jedoch greift die Gesetzesbegründung die Frage auf, ob ein Streik im Zusammenhang mit Tarifvertragsverhandlungen zulässig sein könne, wenn der angestrebte Tarifvertrag aufgrund des in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG vorgesehenen Mehrheitsprinzips im Ergebnis gar keine Wirkung wird entfalten können. Die Bundesregierung geht danach davon aus, die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag erwirkt werden soll, 38 So im Ergebnis auch BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 56; DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem. In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (47); BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (73); BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER, Stellungnahme zum Referentenentwurf, Dezember 2014, Stellungnahme Nr. 46/2014, S. 3. 39 So DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 30. 40 GREINER, Stefan, Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit. In: NZA 2010, S. 743-745 (743 f.). 41 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 57; anderer Ansicht: PAPIER, Hans-Jürgen / KRÖNKE, Christoph , Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: ZfA 2011, S. 807-866 (862), die diese Gefahr als gering einschätzen. Als Begründung führen beide an, dass die Existenz der Berufsgewerkschaften bis in die Anfänge der Bundesrepublik zurück reichten und auch die Jahrzehnte währende Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit überstanden hätten . 42 BVerfG, Beschluss vom 14. November 1995, Az.: 1 BvR 601/92, Rn. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 13 werde von den Arbeitsgerichten im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein. Denn der Arbeitskampf diene nicht der Sicherung der Tarifautonomie, wenn dem Tarifvertrag , der dadurch erwirkt werden soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nicht mehr zukommen würde, „weil die abschließende Gewerkschaft keine Mehrheit der organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb haben würde.“43 Durch die Regelung der Tarifeinheit soll mittelbar eine Rechtslage geschaffen werden, in der der Arbeitskampf einer Minderheitsgewerkschaft jedenfalls in den Fällen als unverhältnismäßig und damit als rechtswidrig anzusehen wäre, in denen die streikende Gewerkschaft „offensichtlich“ keine Mehrheit im Betrieb hat. Dies sei nach DÄUBLER „insbesondere dann anzunehmen, wenn sie nur eine kleinere Berufsgruppe organisiert und die zahlenmäßig bei weitem überwiegenden sonstigen Beschäftigten einen durchschnittlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 15 bis 20 % aufweisen. […] In vielen Fällen wird die »Offensichtlichkeit« zweifelhaft sein, weshalb die Gewerkschaft wegen des Haftungsrisikos lieber auf einen Arbeitskampf verzichtet.“44 Damit könnte der Grundsatz der Tarifeinheit wohl zumindest mittelbar für die „offensichtliche“ Minderheitsgewerkschaft zu einer Einschränkung des Streikrechts innerhalb eines Betriebes führen. Durch die Beschränkung des Streikrechts wird der Minderheitsgewerkschaft in der Konsequenz auch die Möglichkeit genommen, überhaupt einen Tarifvertrag zu erwirken – denn auch eine gewillkürte Tarifpluralität in einem Betrieb erscheint nach dem Gesetzesentwurf im Falle des Überschneidens der Anwendungsbereiche der Tarifverträge nicht möglich. DÄUBLER formuliert überspitzend , der Entzug des Rechts, Tarifverträge abzuschließen, könnte „nur noch durch ein Gewerkschaftsverbot übertroffen werden“.45 Der BUND DER RICHTERINNEN UND RICHTER DER ARBEITSGERICHTBARKEIT geht demgegenüber allerdings davon aus, dass mit dem vorgelegten Gesetzentwurf das aus der Begründung erkennbare Ziel, Streiks zu verhindern, nicht erreicht werden könne. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung des repräsentativen Tarifvertrages soll nach § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG (neu) der Zeitpunkt des Abschlusses des letzten Tarifvertrages sein. Da mithin zum Zeitpunkt eines Streiks zur Erwirkung eines Tarifvertrages noch nicht mit Sicherheit festgestellt werden könne, ob der erstrebte Tarifvertrag zum späteren Abschlusszeitpunkt der Mehr- oder der Minderheitstarifvertrag sein 43 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 9. 44 So auch DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 9 mit Verweis auf LÖWISCH, in: BB Heft 48/2014. 45 DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 20 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 14 werde, bestehe für die Arbeitsgerichte „kein Anlass und keine Befugnis, Arbeitskampfmaßnahmen – noch dazu im Wege einstweiliger Verfügung – zu untersagen.“46 Denn die Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb könnten sich jederzeit ändern.47 4.2.3. Eingriff in die individuelle Koalitionsfreiheit Nach Überzeugung des Bundesarbeitsgerichts greift eine Regelung der Tarifeinheit darüber hinaus in die individuelle positive Koalitionsfreiheit der Mitglieder derjenigen Gewerkschaft ein, die den verdrängten Tarifvertrag geschlossen hat.48 Denn die individuelle Koalitionsfreiheit umfasse nicht nur das Recht, sich zu Koalitionen zusammenzuschließen und sich für sie zu betätigen , sondern – als Hauptzweck der Mitgliedschaft – den Schutz des von der ausgewählten Koalition geschlossenen Tarifvertrags auch in Anspruch nehmen zu können. 4.2.4. Zwischenfazit Wie sich das Bundesverfassungsgericht zu dieser Frage letztlich positionieren könnte, erscheint offen. Nach den obigen Ausführungen dürfte aber mit der Mehrzahl der in der Literatur vertretenen Stimmen davon auszugehen sein, dass die vorgeschlagene gesetzliche Regelung der Tarifeinheit keine bloß grundrechtsausgestaltende Wirkung hat, sondern einen Eingriff zumindest in die kollektive Koalitionsfreiheit darstellt.49 DI FABIO sieht in dem praktischen Entzug der Tarifautonomie für die berufsspezifischen Minderheitsgewerkschaften gar einen Eingriff in den Kernbereich der Koalitionsfreiheit, sodass von einem intensiven Grundrechtseingriff in der Nähe der Wesensgehaltsgarantie auszugehen sei.50 46 BUND DER RICHTERINNEN UND RICHTER DER ARBEITSGERICHTBARKEIT, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit, November 2014, S. 6. 47 BUND DER RICHTERINNEN UND RICHTER DER ARBEITSGERICHTBARKEIT, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit, November 2014, S. 6; so auch DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 9 und BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER, Stellungnahme zum Referentenentwurf, Dezember 2014, Stellungnahme Nr. 46/2014, S. 7. 48 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 58. 49 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 23, 31, 37; RICHARDI, Reinhard, Tarifeinheit als Placebo für ein Arbeitskampfverbot. In: NZA 2014, S. 1233-1237 (1235); SCHLIEMANN, Harald, Fragen zum Tarifeinheitsgesetz. In: NZA 2014, S. 1250-1252 (1251); HUFEN, Friedhelm, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen. In: NZA 2014, S. 1237-1241 (1238); DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 21; BEPLER, Klaus, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, S. 92; DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem. In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (50). 50 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 15 Auch die Feststellung der Bundesregierung, der Grundsatz der Tarifeinheit greife nur subsidiär für den Fall ein, dass die Gewerkschaften die zwischen ihnen bestehenden Interessenkonflikte autonom nicht zu einem Ausgleich bringen könnten, dürfte an der Annahme eines Eingriff durch § 4a TVG (neu) in die kollektive Koalitionsfreiheit der im Betrieb unterlegenen Gewerkschaft nichts ändern. Denn der Umstand, dass die Gewerkschaften – nach der Begründung des Gesetzentwurfs – zunächst aufgefordert werden sollen, die bestehenden Interessenkonflikte autonom zu einem Ausgleich zu bringen, ist erst im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu berücksichtigen . 4.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Das Bundesarbeitsgericht hat 2010 ausdrücklich offen gelassen, ob der (einfache) Gesetzgeber überhaupt eine zulässige Regelung schaffen könnte, die in einer derart weit reichenden Weise in die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit eingreift.51 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist.52 Ein Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Betätigungsfreiheit der Koalitionen ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar, wenn er entweder dem Schutz des jeweiligen Koalitionspartners und damit gerade der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie oder dem Schutz der Grundrechte Dritter dient oder wenn er mit Rücksicht auf andere Rechte mit Verfassungsrang gerechtfertigt ist.53 Im Falle des Vorliegens von kollidierenden Verfassungsrechten sind diese in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (Prinzip der so genannten praktischen Konkordanz ).54 Die Zuordnung der verschiedenen in der Literatur angesprochenen verfassungsrechtlichen Aspekte zu den einzelnen Stadien der Rechtfertigungsprüfung ist nicht immer eindeutig. Daher wird im Folgenden zwar versucht, den Prüfungsablauf im Wesentlichen abzubilden; auf eine eindeutige Verortung der einzelnen Gesichtspunkte wird jedoch verzichtet. 51 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08 (A), Rn. 88. 52 BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007, Az.: 1 BvR 1550/03, Rn. 116. 53 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08 (A), Rn. 82f. mit Verweis BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 1991, Az.: 1 BvR 779/85 und BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 6. Februar 2007, Az.: 1 BvR 978/05, Rn. 23. 54 BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 2007, Az.: 1 BvR 978/05, Rn. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 16 4.3.1. Wahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie Das Gesetz zur Einführung des Grundsatzes der Tarifeinheit hat nach der Begründung des Gesetzentwurfs zum Ziel, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ zu sichern. Zunächst ist in diesem Zusammenhang zu klären, was unter der „Tarifautonomie“ zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt ist zu überprüfen, ob dieses Ziel einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit grundsätzlich zu rechtfertigen vermag und ob die vorgesehene Regelung bejahendenfalls tatsächlich geeignet und erforderlich ist, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu wahren. Die in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerte Tarifautonomie ermöglicht die privatautonome Regelung des von der staatlichen Rechtssetzung ausgesparten Raumes des Arbeitslebens durch Tarifverträge.55 Eine Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn strukturelle Ungleichgewichte auftreten, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und die in dem durch die Rechtsprechung gezogenen Rahmen nicht ausgeglichen werden können.56 Das Bundesverfassungsgericht sieht mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie den Freiraum gewährleistet, „in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können. „Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung.“57 Die Koalitionsfreiheit gewährleistet damit einen prinzipiell staatsfreien, funktionellen Ordnungsraum.58 Jedoch gründet sich der Schutz der Tarifautonomie laut SCHOLZ auf das Prinzip einer funktionierenden Tarifautonomie , sodass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie insgesamt ein vorrangiges Gewährleistungselement darstellt.59 Grundsätzlich stellt es sich als legitimes Ziel des Gesetzgebers dar, die wirksame Entfaltung der Tarifautonomie auf der Ebene des Betriebes zu sichern.60 Fraglich ist jedoch, ob die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die Tarifpluralität überhaupt gefährdet ist und inwieweit bejahendenfalls die vorgesehene Tarifeinheit tatsächlich geeignet ist, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu fördern. 55 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 70. 56 BVerfG, Urteil vom 04. Juli 1995, Az.: 1 BvF 2/86. 57 BVerfG, Beschluss vom 2. März 1993, Az.: 1 BvR 1213/85. 58 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 12; auch DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem. In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (46), der von einem „staatsfernen Regelungsverfahren“ spricht. 59 SCHOLZ, Rupert, Bahnstreik und Verfassung. In: Festschrift für Buchner zum 70. Geburtstag, 2009, S. 827-837 (828). 60 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 55. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 17 Im Schrifttum wird zum Teil die Ansicht vertreten, im Falle der Tarifpluralität könne das Tarifvertragssystem seine Aufgabe nicht mehr erfüllen.61 Vielmehr bestehe bei nicht abgestimmten Tarifverhandlungen mehrerer Gewerkschaften die Gefahr eines Überbietungswettbewerbs und des Funktionsverlustes der Friedenspflicht sowie einer Vervielfachung von Arbeitskämpfen.62 Im Ergebnis könne es dadurch zu einem Funktionsverlust des gesamten Tarifvertragssystems kommen. Ferner sieht die Bundesregierung durch die Tarifpluralität die widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb aufgrund einer fehlenden „innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit“ als beeinträchtigt an. Die Verteilungsfunktion des Tarifvertragssystems sei gestört, wenn die konkurrierenden Tarifverträge nicht den Wert verschiedener Arbeitsleistungen innerhalb eines Betriebes zueinander widerspiegelten, sondern vor allem Ausdruck der jeweiligen „Schlüsselpositionen “ der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Betrieb seien. Dies führe zu innerbetrieblichen Verteilungskämpfen, die den Betriebsfrieden gefährdeten. Auch die Befriedungsfunktion des Tarifvertrags werde dadurch beeinträchtigt, dass ein bereits tarifgebundener Arbeitgeber jederzeit einer Vielzahl weiterer Forderungen konkurrierender Gewerkschaften gegenüberstehen könne. Schließlich bestehe im Rahmen der Tarifpluralität die Gefahr, in gesamtwirtschaftlichen Krisenzeiten keine Gesamtkompromisse finden zu können, die sich zur Beschäftigungssicherung bewährt hätten.63 All diesen Erwägungen steht der Großteil der Literatur jedoch kritisch gegenüber. Das Bundesarbeitsgericht hat 2010 zunächst ausdrücklich festgestellt, dass es sich bei den oben benannten Gefahren unabhängig von der Frage, ob tatsächlich Anhaltspunkte für einen Funktionsverlust des Tarifvertragssystems vorliegen, um Rechtsfragen des Arbeitskampfrechts, nicht aber um solche des Tarifrechts handele.64 Darüber hinaus gehen die wohl herrschende Meinung in der Literatur und das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass die Tarifeinheit gerade keine Funktionsbedingung der Tarifautonomie sei.65 Auch tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder durch den Grundsatz der Tarifeinheit zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erforderlich sei, konnte das Bundesarbeitsgericht 2010 nicht erkennen.66 61 So im Ergebnis SCHOLZ, Rupert, Bahnstreik und Verfassung. In: Festschrift für Buchner zum 70. Geburtstag, 2009, S. 827-837 (829). 62 MEYER, Cord, Rechtliche wie praktische Unzuträglichkeiten einer Tarifpluralität. In: NZA 2006, S. 1387-1392 (1390); GIESEN, Richard, Tarifeinheit im Betrieb, in: NZA 2009, S. 11-18 (14 f.); GIESEN, Richard, Tarifeinheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1-44 (6); HROMADKA, Wolfgang, Tarifeinheit bei Tarifpluralität. In: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 383-394 (388 f.); FRANZEN, Martin, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen. In: RdA 2008, S. 193-205 (203). 63 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 4 f. 64 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 71; so auch RICHARDI, Reinhard, Tarifeinheit als Placebo für ein Arbeitskampfverbot. In: NZA 2014, S. 1233-1237 (1235). 65 REICHOLD, Hermann, Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen. In: RdA 2007, S. 321-328 (325); RICHARDI, Reinhard, Tarifeinheit im tarifpluralen Betrieb. In: Festschrift für Buchner zum 70. Geburtstag, 2009, S. 731-742 (740); BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08 (A), Rn. 96. 66 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08 (A), Rn. 73. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 18 Das Bundesarbeitsgericht konstatiert entgegen der Begründung des Regierungsentwurfs, dass die nachträgliche „Entwertung“ eines Tarifvertrages Verhandlungsposition und Attraktivität der Minderheitsgewerkschaft schwächen könne, wodurch die Tarifautonomie gerade nicht gesichert, sondern beeinträchtigt werde.67 4.3.1.1. Schutz vor Überbietungswettbewerb und Arbeitskämpfen Fraglich ist, ob die Tarifpluralität zu dem behaupteten Überbietungswettbewerb der Gewerkschaften , dem Funktionsverlust der Friedenspflicht bei nicht abgestimmten Tarifverhandlungen sowie zu einer Vervielfachung von Arbeitskämpfen führen wird. Zunächst ist anzumerken, dass nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu dem durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionspluralismus gehört, dass die Koalitionen zueinander in Konkurrenz treten.68 Dieser Wettbewerb wird im Rahmen der durch das Tarifvertragsgesetz ausgestalteten kollektiven Privatautonomie ausgetragen. Die Tarifpluralität ist deshalb notwendige Folge des verfassungsrechtlich vorgesehenen und geschützten Koalitionspluralismus.69 Entzieht man nun den Minderheitsgewerkschaften die realistische Möglichkeit des Arbeitskampfes oder des wirksamen Abschlusses eigener, selbstständig ausgehandelter Tarifverträge, so entzieht man ihnen zugleich den Kernbereich ihrer Betätigung.70 Grundsätzlich ist eine Vervielfachung von Störungen des Arbeits- und Wirtschaftslebens, wie sie durch Arbeitskämpfe hervorgerufen werden können, geeignet, die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Zweck der Koalitionsfreiheit zu gefährden.71 Für das Bundesarbeitsgericht war es 2010 „nicht ersichtlich, dass das geltende Tarifvertragssystem seine Funktion im Falle von Tarifpluralitäten, zu denen es tatsächlich schon gekommen ist und die auch tatsächlich praktiziert werden, nicht mehr wahrnehmen kann.“ 72 Auch in den folgenden Jahren ist die aufgrund der Abkehr vom richterrechtlichen Grundsatz der Tarifeinheit befürchtete Dezentralisierung der Tariflandschaft durch zahlreiche Neugründungen von Berufs- oder Spartengewerkschaften nicht eingetreten. Seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts sind nur wenige Neugründungen von Gewerkschaften zu verzeichnen, und die wachsende Bedeutung von Spar- 67 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 57 mit Verweis auf: BVerfG, Beschluss vom 3. April 2001, Az.: 1 BvL 32/97, Rn. 44 f. 68 BAG, Urteil vom 31. Mai 2005, Az.: 1 AZR 141/04, Rn. 31. 69 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 69. 70 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 40. 71 PAPIER, Hans-Jürgen / KRÖNKE, Christoph, Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: ZfA 2011, S. 807-866 (840). 72 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 51. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 19 tengewerkschaften hat nach Ansicht des Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) nicht zu einer Zersplitterung des Tarifsystems geführt.73 Dabei haben zwar einige berufsspezifische Gewerkschaften – insbesondere in Bereichen von Krankenhäusern sowie Luftund Schienenverkehr – für ihre Mitglieder eigenständige Tarifverträge durchgesetzt,74 jedoch handelt es sich dabei nicht um neu gegründete Gewerkschaften, sondern um solche, die teilweise schon lange vor dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts existierten.75 Auch eine befürchtete Vervielfachung von Arbeitskämpfen dieser Berufs- oder Spartengewerkschaften ist bisher nicht zu verzeichnen.76 Im Schrifttum wird in diesem Zusammenhang darüber hinaus hervorgehoben, dass vielfach Arbeitgeber bewusst Minderheitsgewerkschaften, die in Konkurrenz zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) stehen, gefördert und damit Fälle der Tarifpluralität in einem Unterbietungswettbewerb selbst herbeigeführt hätten.77 Auch muss aus tatsächlicher Sicht hervorgehoben werden, dass große Unternehmen nicht selten aus zahlreichen Betrieben bestehen. Da die Tarifeinheit nach dem Gesetzesentwurf nur für den jeweiligen einzelnen Betrieb gelten soll, wäre die Gefahr des gleichzeitigen Arbeitskampfes verschiedener Gewerkschaften innerhalb eines Unternehmens auch unter Geltung der Tarifeinheit gegeben. LÖWISCH spricht sogar davon, dass ein „Flickenteppich von streikbefugten und nicht streikbefugten Belegschaften“ entstehen könne, je nachdem welche Gewerkschaft in welchem Betrieb die Mehrheit für sich beanspruchen könne.78 Dem hält zwar GIESEN entgegen, die für die „Erreichung einer effizienten Belegschaftsrepräsentanz notwendigen Auseinandersetzungen“ würden als Wettbewerbe außerhalb des Arbeitskampfes geführt.79Allerdings würde eine Minderheitsgewerkschaft zweifellos versuchen, so schnell wie möglich neue Mitglieder zu gewinnen, 73 SCHMIDT, Christoph M./ BACHMANN, Ronald: Im Zweifel für die Freiheit: Tarifpluralität ohne Chaos, RWI Positionen Nr. 51 vom 11. Juni 2012. 74 BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (75). 75 BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (78). 76 Vgl. hierzu GREINER, Stefan Die Ausgestaltung eines "Tarifeinheitsgesetzes" und der Streik am Frankfurter Flughafen . In: NZA 2012, S. 529-535; im Ergebnis so auch BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (78 f.) und auch BEPLER, Klaus, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, S. 90 ff. 77 BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (75); DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem. In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (46, 50 f.). 78 LÖWISCH, Manfred, Tarifeinheit – Was kann und soll der Gesetzgeber tun? In: RdA 2010, S. 263 – 267 (265). 79 GIESEN, Richard, Tarifeinheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1-44 (29). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 20 um dann – ggf. auch mittels Streik – einen Tarifvertragsschluss zu erreichen. Damit könnte die Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip selbst das Entstehen von Arbeitskämpfen fördern.80 Fraglich ist nun, ob die bloßen, empirisch, wie gesehen, nicht belegbaren Befürchtungen der Bundesregierung die gesetzliche Einführung der Tarifeinheit gleichwohl zu rechtfertigen vermögen . In diesem Zusammenhang weisen PAPIER und KRÖNKE darauf hin, dass es für die Erforderlichkeit der gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit ausreichend sei, wenn die bestehende Rechtslage einen nennenswerten Anstieg der Zahl der Arbeitskämpfe befürchten lasse. Denn der Gesetzgeber müsse nicht abwarten, bis sich eine Gefahrenlage konkret abzeichne oder sogar eintrete. Er könne vielmehr auch Maßnahmen ergreifen, die den befürchteten Entwicklungen vorbeugend entgegenwirkten.81 Gegen diese Argumentation führt DI FABIO das Polizei- und Sicherheitsrecht an, in dem „man eine gesetzliche Ermächtigung zum Grundrechtseingriff bei einer so wenig verdichteten Gefahrenlage allenfalls im Bereich des Atomrechts oder des Gentechnikrechts angesichts unbekannter oder im Ausmaß besonders lebensbedrohlicher möglicher Schäden zulassen (würde). Solche Erwägungen gelten im Anwendungsbereich der Koalitionsfreiheit nicht.“82 Dem Gesetzgeber kommt anerkanntermaßen ein weiter Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung der Tarifautonomie zu, die nur auf evidente Fehleinschätzungen überprüft werden kann.83 Ob eine solche Fehleinschätzung hier in Betracht kommt, lässt sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht beurteilen. Es erscheint im vorliegenden Fall aber unsicher , ob die Tarifeinheit in der geplanten Form geeignet wäre, eine Vermehrung von Arbeitskämpfen tatsächlich zu vermeiden. Teile des Schrifttums gehen jedenfalls davon aus, der Eingriff in die Koalitionsfreiheit erfordere eine tatsächliche konkrete Gefahrenlage und nicht allein vage Befürchtungen oder ein bloß allgemeines Risiko.84 80 Hierauf verweist auch die BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER, Stellungnahme zum Referentenentwurf, Dezember 2014, Stellungnahme Nr. 46/2014, S. 6; so im Ergebnis auch der DEUTSCHE ANWALTVEREIN, Stellungnahme zum Referentenentwurf, November 2014, Stellungnahme Nr. 60/2014, S. 4, der „die Gefahr eines noch stärkeren Gewerkschaftswettbewerb als bisher“ sieht und SCHLIEMANN, Harald, Fragen zum Tarifeinheitsgesetz. In: NZA 2014, S. 1250-1252 (1252), der eine Förderung der Konkurrenz der Gewerkschaften um die größere Zahl ihrer Mitglieder in jedem einzelnen Betrieb annimmt. 81 PAPIER, Hans-Jürgen / KRÖNKE, Christoph, Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: ZfA 2011, S. 807-866 (851 f.), die jedoch auch nur von einer Ausgestaltung des Tarifsystems durch die Tarifeinheit ausgehen, und nicht von einem Eingriff. 82 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 59. 83 HENSSLER, Martin, Ende der Tarifeinheit – Eckdaten eines neuen Arbeitskampfrechts. In: RdA 2011, S. 65-76 (70), mit Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 24. April 1996, Az.: 1 BvR 712/86, Rn. 130; HUFEN, Friedhelm, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen. In: NZA 2014, S. 1237-1241 (1240). 84 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 57 ff., der das Vorliegen einer solchen konkreten Gefahr ausdrücklich verneint; DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem . In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (50); so im Ergebnis auch SCHLIEMANN, Harald, Fragen zum Tarifeinheitsgesetz. In: NZA 2014, S. 1250-1252 (1251), der abstrakte tarifpolitische Erwägungen und Befürchtungen als generell ungenügend erachtet, um den Erlass eines Gesetzes zu rechtfertigen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 21 Nach Einschätzung des Bundesarbeitsgerichts handelt es sich hier um Rechtsfragen des Arbeitskampfrechts .85 Der Gesetzgeber sei deshalb dazu verpflichtet, die betriebliche und tarifliche Funktionsfähigkeit zunächst auf der Ebene des Arbeitskampfrechts zu regeln.86 Denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt nicht das Tarifrecht dem Arbeitskampfrecht, sondern umgekehrt das Arbeitskampfrecht dem Tarifrecht.87 Der Gesetzesbegründung zufolge soll aber mit der Einführung der Regelungen zur Tarifeinheit ausdrücklich keine Änderung des bisherigen Arbeitskampfrechts verbunden sein.88 4.3.1.2. Ordnungsfunktion der Tarifeinheit Die Bundesregierung sieht des Weiteren die widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb im Falle der Tarifpluralität aufgrund einer fehlenden „innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit “ als beeinträchtigt an.89 Sie strebt eine „widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen “ an. Zwar normiert der Gesetzentwurf zur Tarifeinheit in § 4a Abs. 1 TVG (neu) nunmehr explizit eine solche über die Ordnung der Vertragsbeziehungen seiner Mitglieder hinausgehende Ordnungsfunktion des Tarifvertrages. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit durch die Verfassung eine solche Ordnung gefordert wird, deren Erreichung und Wahrung sich als legitimer Zweck für den Eingriff in die Koalitionsfreiheit darstellen könnte. Die vorgenommene Ausweitung der Ordnungsfunktion müsste also mit dem verfassungsrechtlichen Konzept der Koalitionsfreiheit in Einklang zu bringen sein. Das Bundesarbeitsgericht führte 2010 in diesem Zusammenhang aus, dass der Annahme einer von Verfassungs wegen vorgesehenen notwendigen tarifeinheitlichen Regelung für den jeweiligen Betrieb bereits entgegenstehe, „dass die Koalitionsfreiheit in erster Linie als Freiheitsgrundrecht strukturiert und auf einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Koalitionen angelegt ist.“90 Dieser Ansicht schließt sich auch DI FABIO an. Dabei stützt er sich auch auf den Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG. Dem Wortlaut des Grundrechts sei das Verfassungsprinzip einer „vernünftige“ Ordnung“ nicht zu entnehmen. Vielmehr fehle es bei der Koalitionsfreiheit nicht nur an Hinweisen für eine Beschränkung der Tariffreiheit nach dem Grundsatz „ein Tarifvertag für einen Be- 85 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 71. 86 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 72; DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 64. 87 BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 72. 88 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 9. 89 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 4. 90 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 68, mit Verweis auf BVerfG, Urteil vom 04. Juli 1995, Az.: 1 BvF 2/86. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 22 trieb“, sondern es bestehe im Wortlaut ein Anhaltspunkt für die gegenteilige Annahme: „Ungewöhnlich für eine grundrechtliche Verbürgung wird in Art. 9 Abs. 3 GG davon gesprochen, dass dieses Recht ‚für jedermann und für alle Berufe gewährleistet‘ wird“.91 Vom grundrechtlichen Schutzbereich der Tarifautonomie her gedacht bedarf es nach dieser Ansicht gerade nicht eines staatlichen Gesetzgebers, um eine ausgewogene Ordnung im Arbeits- und Wirtschaftsleben zu garantieren.92 Denn die unmittelbar Betroffenen wissen – so das Bundesarbeitsgericht – besser und können besser aushandeln, was ihren beiderseitigen Interessen und dem gemeinsamen Interesse entspricht, als der demokratische Gesetzgeber.93 Das Mittel des Tarifvertrages wurde den Koalitionen dabei vom Gesetzgeber auf der Grundlage der historisch gewachsenen Bedeutung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit an die Hand gegeben, damit sie die von Art 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen können.94 Auf welchem Wege die Koalitionen die verfassungsrechtliche Erwartung der sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen , sei daher im Rahmen der rechtlichen Ausgestaltung des Tarifvertragswesens ihnen überlassen und fordere von Verfassungs wegen keine betriebseinheitlichen Tarifregelungen.95 Durch die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehene Tarifeinheit würden die Minderheitsgewerkschaften jedoch gerade von der Möglichkeit einer autonomen Regelung des Arbeitslebens ausgeschlossen. 4.3.1.3. Wahrung der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit Nach der Begründung des Gesetzentwurfs befürchtet die Bundesregierung als Folge von Tarifpluritäten auch den Verlust der „innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit.“ Überdies bestehe bei Tarifpluralität die Gefahr, in wirtschaftlichen Krisenzeiten keine Gesamtkompromisse zur Absicherung der Arbeitsplätze finden zu können.96 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können Eingriffe in das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens gerechtfertigt sein.97 Der Gedanke, dass die Anwendung eines einheitlichen Tarifvertrages für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem Betrieb grundsätzlich am besten geeignet sein 91 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 27. 92 DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 22. 93 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 68. 94 BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1977, Az.: 2 BvL 11/74, Rn. 58. 95 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 70. 96 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 4 f. 97 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 06. Februar 2007, Az.: 1 BvR 978/05, Rn. 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 23 soll, den solidarischen Zusammenhalt in der Belegschaft zu gewährleisten und einen angemessenen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen im Betrieb zu schaffen, erscheint auch nachvollziehbar.98 Die BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER stellt jedoch in ihrer Stellungnahme zum Referentenentwurf die Frage, ob es tatsächlich der von der Bundesregierung angeführten „Lohngerechtigkeit“ zuwiderlaufe , wenn bestimmte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Erwirtschafteten anders partizipierten als andere Arbeitnehmer im Betrieb.99 Denn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in so genannten „Schlüsselpositionen“ verfügten meist auch über eine besondere Ausbildung oder erbrächten besonders bedeutsame Arbeitsleistungen, die auch dementsprechend angemessen zu entlohnen seien. Dieser Argumentation halten PAPIER / KRÖNKE 100 und GIESEN 101 entgegen, dass dadurch der Arbeitsmarktwert dieser Arbeitnehmergruppe mit ihrem „Drohpotenzial im Arbeitskampf “ gleichgesetzt werde. Sie zweifeln in diesem Zusammenhang den „hohen Arbeitsmarktwert “ von Arbeitnehmern etwa aus der Gruppe der Werksfeuerwehrleute oder der Lokführer an. DI FABIO hebt hervor, dass empirische Erkenntnisse, wonach die berufsspezifischen Gewerkschaften ihre eigenen Lohninteressen durch Ausnutzen ihrer „Schlüsselposition“ tatsächlich zu Lasten der Mehrheit durchsetzten, nicht vorliegen.102 Auch lasse sich nach Ansicht der BUNDES- RECHTSANWALTSKAMMER nicht erkennen, auf welcher Grundlage die Bundesregierung zu dem Schluss komme, die tariflichen Verhandlungsergebnisse im Falle der Tarifpluralität würden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weder als verteilungs- noch als leistungsgerecht empfunden .103 Ein empirisch nicht belegbares Risiko oder eine bloße Befürchtung hinsichtlich einer tatsächlichen Entwicklung sind aber aus Sicht eines Großteils der verfassungsrechtlichen Literatur – wie bereits dargestellt (siehe oben S. 20) – von der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative womöglich nicht gedeckt. Nach Ansicht HUFENS würde das Prinzip der Tarifeinheit die Gleichbehandlung der Bediensteten unabhängig von der Koalitionszugehörigkeit sicherstellen. Denn bei Tarifpluralität könne der Arbeitgeber gezwungen sein, Arbeitnehmer derselben Berufsgruppe allein aufgrund der jeweiligen Gewerkschaftszugehörigkeit für die gleiche Arbeit ungleich zu behandeln.104 Dem wird jedoch entgegengehalten, dass bei einer allein „betriebsbezogenen“ Tarifeinheit die Ungleichbehandlung 98 BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (74). 99 Ausschussdrucksache 18(11)272, S. 5. 100 PAPIER, Hans-Jürgen / KRÖNKE, Christoph, Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: ZfA 2011, S. 807-866 (841). 101 GIESEN, Richard, Tarifeinheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1-44 (7). 102 So im Ergebnis auch DI FABIO, Udo, Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Juli 2014, S. 61. 103 So auch die BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER, Ausschussdrucksache 18(11)272, S. 5. 104 HUFEN, Friedhelm, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen. In: NZA 2014, S. 1237-1241 (1239). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 24 von Arbeitnehmern im selben Unternehmen nicht beseitigt werden könne. Zudem weist BERG darauf hin, dass die Arbeitgeber selbst durch Unternehmens- und Betriebsumstrukturierung, Leiharbeit und Werkverträge das Zerbrechen von einheitlichen Tarifvertragsstrukturen und damit das Nebeneinander unterschiedlicher Tarifverträge in ihren Betrieben aktiv gefördert hätten.105 Es erscheint schließlich nicht erkennbar, inwieweit die Tarifpluralität das Zustandekommen von Gesamtkompromissen verhindern soll. Die BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER 106 weist zu Recht darauf hin, dass die Gesetzesbegründung selbst davon ausgeht, dass Gewerkschaften grundsätzlich fähig und willens sind, gütliche Einigungen und Kompromisse zu erzielen.107 Auch GREINER merkt in diesem Zusammenhang an, dass den Berufsgewerkschaften wirtschaftliche Vernunft und Verantwortungsbewusstsein nicht von vornherein abgesprochen werden könnten.108 Dies dürfte in besonderem Maße für gesamtwirtschaftliche „Krisenzeiten“ gelten, denn die Gewerkschaften haben ein Interesse an der Sicherung der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder. 4.3.1.4. Mehrheitsprinzip und Nachzeichnungsrecht Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung hatte bis zur Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit zur Auflösung von Tarifmehrheiten nicht auf das nunmehr im Gesetzentwurf vorgesehene Mehrheitsprinzip , sondern auf den so genannten Spezialitätsgrundsatz zurückgegriffen. Dieser machte sich, anders als das Mehrheitsprinzip, nicht an „harten Zahlenparametern“ fest, sondern räumte dem Richter einen sehr weiten Wertungsspielraum ein.109 Gerade durch die gesetzliche Einführung der Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip sieht GREI- NER nun möglicherweise die „Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems” in Teilen bedroht, da tariffreie Räume insbesondere in atypischen und seltenen – aber nicht unwahrscheinlichen – Fällen in Kauf genommen würden: Sei etwa eine nach dem Berufsverbandsprinzip organisierte Gewerkschaft (z.B. der Marburger Bund in vielen Kliniken) ausnahmsweise auch die Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb, gelte im Betrieb nach dem Mehrheitsprinzip ausschließlich der von ihr abgeschlossene Berufs- oder Spartentarifvertrag.110 Die Arbeitnehmer außerhalb deren Tarifzuständigkeit – d.h. die übrige Belegschaft, die nicht von der „Mehrheitsgewerkschaft“ vertreten 105 BERG, Peter, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (74 f.). 106 Ausschussdrucksache 18(11)272, S. 5. 107 Siehe hierzu Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 5. 108 GREINER, Stefan, Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit. In: NZA 2010, S. 743-745 (745). 109 BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1399). 110 Hierauf verweist auch HROMADKA, Wolfgang, Wiederherstellung der Tarifeinheit – Die Quadratur des Dreiecks, Koalitionsfreiheit im Spannungsfeld der Interessen von Unternehmern, Arbeitnehmern und Funktionsgruppen. In: NZA 2014, S. 1105-1111 (1108). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 25 wird – würden als Folge tariflos gestellt, da der geltende Mehrheitstarifvertrag als berufsspezifischer Tarifvertrag für sie regelmäßig keine Vereinbarungen enthalte.111 Dem Fehlen allgemein anwendbarer tarifvertraglicher Regelungen könnte in einem solchen Fall auch durch das im Gesetzentwurf vorgesehene Nachzeichnungsrecht der Minderheitsgewerkschaft nicht abgeholfen werden . Das Nachzeichnungsrecht liefe in diesen Fällen mithin ins Leere. Es erscheint daher ungeeignet , das angestrebte Ziel einheitlicher Arbeitsbedingungen in einem Betrieb zu erreichen. Auch verlangt § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG (neu) der Entwurfsbegründung zufolge für die Anwendung der Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip lediglich eine Überschneidung der Geltungsbereiche der Tarifverträge. Die Bestimmung setzt danach nicht voraus, dass sich die Regelungstatbestände der jeweiligen Tarifverträge decken. Der Grundsatz der Tarifeinheit gelte danach auch, wenn die Tarifverträge unterschiedliche Regelungen enthielten.112 Der DEUTSCHE ANWALTVEREIN erkennt in diesem generellen Vorrang des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft eine überschießende und damit außer Verhältnis zum Regelungszweck stehende Regelung, die für sich genommen bereits gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstoße.113 4.3.2. Kollidierende Rechtsgüter Dritter Schließlich kommen als Rechtfertigungsgründe grundsätzlich auch kollidierende Rechtsgüter Dritter mit Verfassungsrang in Betracht, die im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs gegen die mit der eingreifenden Regelung verfolgten Zwecke abzuwägen sind. Bloße Zweckmäßigkeits- oder Praktikabilitätserwägungen wie z. B. die Vereinfachung der Lohnzahlungen für den Arbeitgeber stellen nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts keine Rechtsgüter von gleichem verfassungsrechtlichen Rang dar, die einen Eingriff zu rechtfertigen vermögen.114 Diese Auffassung wird in der Literatur geteilt.115 REICHOLD merkt zu dieser Frage an, dass „eine 111 Vgl. hierzu ausführlich GREINER, Stefan, Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit. In: NZA 2010, S. 743-745 (744); BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1399); HROMADKA, Wolfgang, Wiederherstellung der Tarifeinheit – Die Quadratur des Dreiecks, Koalitionsfreiheit im Spannungsfeld der Interessen von Unternehmern, Arbeitnehmern und Funktionsgruppen. In: NZA 2014, S. 1105-1111 (1108); HROMADKA, Wolfgang, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Tarifkollision. In: NZA 2008, S. 384-391 (387). 112 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 10. 113 Ausschussdrucksache 18(11)250, S. 2. 114 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010, Az.: 4 AZR 549/08, Rn. 72. 115 So z.B. DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015 und LINSENMAIER, Wolfgang, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2015, Art. 9 GG Rn. 68a; PAPIER, Hans-Jürgen / KRÖNKE, Christoph, Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: ZfA 2011, S. 807-866 (842). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 26 Personalverwaltung im EDV-Zeitalter in der Lage sein müsste, differenzierende Tarifbedingungen sachgerecht verwalten zu können.“116 Im Rahmen der Berücksichtigung der Rechte Dritter muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Streik einer Spartengewerkschaft nicht nur den Arbeitgeber wirtschaftlich trifft, sondern in erheblichem Maße auch unbeteiligte Dritte treffen und fühlbare volkswirtschaftliche Schäden verursachen kann. SCHOLZ verweist in diesem Zusammenhang auf die Streikmaßnahmen der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) in den letzten Jahren, die auch zu Schäden für die Allgemeinheit und den einzelnen Verbraucher führten, weil der Schienenverkehr zeitweise fast vollkommen zum Erliegen kam.117 Auch HUFEN hebt hervor, dass sich die meisten Streiks der Spartengewerkschaften in jüngster Vergangenheit in dem Bereich der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur abgespielt und eine Vielzahl von unbeteiligten Dritten betroffenen hätten.118 Er betont die Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge und der öffentliche Verkehrsinfrastruktur als elementare Voraussetzungen einer demokratischen und sozialstaatlichen Ordnung. Sie müssten daher in besonderem Maße gegen Störungen durch Arbeitskämpfe geschützt werden.119 Darüber hinaus berührten Arbeitskämpfe vielfach die Grundrechte Dritter, so beispielsweise die der direkt oder indirekt vom Streik betroffenen Unternehmer aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG oder das Grundrecht auf Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 GG.120 Doch gerade dem Umstand, dass die bestreikten Unternehmen häufig der öffentlichen Daseinsvorsorge dienten,121 wurde in dem Gesetzentwurf keine Rechnung getragen. Vielmehr lehnt die Bundesregierung in der Entwurfsbegründung eine auf die Daseinsvorsorge begrenzte Regelung ausdrücklich ab.122 Der Gesetzentwurf ist damit – unabhängig von der Intention der Bundesregierung – nicht geeignet , die Bestreikung von Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu verhindern oder die Auswirkungen eines solchen Streiks auf Rechtsgüter Dritter zu minimieren. Denn die Mehrheitsgewerkschaft ist auch im Rahmen der Tarifeinheit berechtigt einen Betrieb zu bestreiken, der der öffentlichen Daseinsvorsorge dient– solange der Streik sich als verhältnismäßig darstellt. 116 REICHOLD, Hermann, Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen. In: RdA 2007, S. 321-328 (324 f.). 117 SCHOLZ, Rupert, Bahnstreik und Verfassung. In: Festschrift für Buchner zum 70. Geburtstag, 2009, S. 827-837 (831). 118 HUFEN, Friedhelm, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen. In: NZA 2014, S. 1237-1241 (1238). 119 HUFEN, Friedhelm, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen. In: NZA 2014, S. 1237-1241 (1238); RICHARDI, Reinhard, Tarifeinheit als Placebo für ein Arbeitskampfverbot. In: NZA 2014, S. 1233-1237 (1236). 120 HUFEN, Friedhelm, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen. In: NZA 2014, S. 1237-1241 (1238); GIESEN, Richard, Tarifeinheit und Verfassung. In: ZfA 2011, S. 1-44 (27). 121 DIETERICH, Thomas, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem. In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46-51 (50). 122 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 27 Schließlich sei darauf hingewiesen, dass von Streikmaßnahmen regelmäßig auch Rechtspositionen Dritter betroffen sind. Diese finden jedoch im Rahmen der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen Berücksichtigung. 4.4. Fazit Die im Entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes vorgesehene Einführung der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip hat nach der herrschenden Meinung im Schrifttum sowie nach den Stellungnahmen der Organisationen der Rechtspflege sowie nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht lediglich grundrechtsausgestaltende Wirkung, sondern stellt einen Eingriff zumindest in die kollektive Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG dar, da der Abschluss von Tarifverträgen ebenso wie das Führen eines Arbeitskampfes als koalitionsmäßige Betätigung in den Schutzbereich dieses Freiheitsrechts fallen. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts wird darüber hinaus durch den Grundsatz der Tarifeinheit auch die individuelle Koalitionsfreiheit der Mitglieder der Minderheitsgewerkschaften verletzt. Dieser Grundrechtseingriff dürfte durch das erklärte Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht gerechtfertigt sein. Für die von der Bundesregierung befürchteten Überbietungswettbewerbe und eine Vervielfachung von Arbeitskämpfen sowie den Funktionsverlust der Friedenspflicht bei Tarifpluralität fehlen empirische Hinweise. Auch die Ordnungsfunktion der Tarifeinheit steht als Rechtfertigungsgrund in Frage, da die Tarifeinheit den Ausschluss der Minderheitskoalitionen von der vom Grundgesetz intendierten autonomen Regelung der Wirtschafts - und Arbeitsbedingungen bewirkt. Auch der Betriebsfrieden durch Herstellung innerbetrieblicher Lohngerechtigkeit wird durch die vorgeschlagene Regelung der Tarifeinheit keineswegs zwangsläufig gefördert; bezogen auf die Ebene großer Unternehmen mit zahlreichen Betrieben kann unter Umständen gar mit Einbußen bei der Lohngerechtigkeit gerechnet werden. Die Regelung des Nachzeichnungsrechts unterlegener Gewerkschaften schließlich wird zum Teil für unverhältnismäßig gehalten. Auch der erforderliche Schutz kollidierender Verfassungsrechte Dritter vermag die vorgeschlagene Regelung nicht zu rechtfertigen, denn sie zielt bereits nach ihrer Begründung nicht auf die verfassungsrechtlich geschützten Rechte Dritter, sondern soll unabhängig davon gelten. Im Ergebnis sind daher die vom Bundesarbeitsgericht sowie den zahlreichen Vertretern des Schrifttums geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken, die sich zum Teil grundsätzlich gegen eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit richten, zum Teil aber auch den vorgelegten Gesetzentwurf betreffen, nicht von der Hand zu weisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 28 5. Weiterführende Fragestellungen 5.1. Praktikabilitätserwägungen Im Schrifttum und in Stellungnahmen zum Referentenentwurf zum Tarifeinheitsgesetz wird vielfach auch die Praktikabilität der vorgeschlagenen Bestimmungen oder allgemein einer Regelung der Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip in Zweifel gezogen. Bedenken werden vor allem hinsichtlich der Praxistauglichkeit des im Gesetzentwurf verwendeten Betriebsbegriffs und der zentralen Frage der Ermittlung der Mehrheitsgewerkschaft erhoben. 5.1.1. Betriebsbegriff § 4a Abs. 2 TVG nennt als Bezugsgröße für die Bestimmung der Mehrheit den „Betrieb“. Eine Legaldefinition bietet das Gesetz nicht. Nach der Gesetzesbegründung ist der Betriebsbegriff tarifrechtlich zu bestimmen. „Danach ist ein Betrieb diejenige organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Damit entspricht der tarifrechtliche Betriebsbegriff in seiner grundsätzlichen Ausrichtung dem betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff, der infolge seiner Konturierung durch die Rechtsprechung einen für die Praxis praktikablen Rahmen setzt. Damit dient als Anknüpfungspunkt für das Mehrheitsprinzip die Solidargemeinschaft, die infolge der Zusammenfassung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zur Verfolgung arbeitstechnischer Zwecke entsteht.“123 Darüber hinaus nimmt § 4a Abs. 2 TVG auch unmittelbar auf die Vorschriften des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG)124 zum gemeinsamen Betrieb sowie auf § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG zur tariflich errichteten betriebsverfassungsrechtlichen Einheit Bezug. Mithin soll wohl der Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes maßgeblich sein.125 In der Literatur werden nicht selten Bedenken dagegen erhoben, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, Betriebe seines Unternehmens durch entsprechende gesellschaftsrechtliche Gestaltung bzw. einen geeigneten Zuschnitt so anzupassen, dass für ihn genehme Mehrheitsverhält- 123 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 11. 124 Betriebsverfassungsgesetz vom 15. Januar 1972 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. September 2001 (BGBl. I S. 2518), zuletzt geändert durch Artikel 3 Absatz 4 des Gesetzes vom 20. April 2013 (BGBl. I S. 868). 125 DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 29 nisse entstehen können. Damit hat er nicht unerheblichen Einfluss darauf, mit welchen Gewerkschaften er Verhandlungen aufnehmen will.126 Diese Bedenken teilt auch der DEUTSCHE ANWALT- VEREIN in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf.127 BAYREUTHER sieht darüber hinaus die Gefahr , dass auch Gewerkschaften zusammen mit Arbeitgebern über Organisationstarifverträge nach § 3 BetrVG versuchen könnten, die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen.128 Hingewiesen wird im Schrifttum auch auf den Umstand, dass die Mehrheitsverhältnisse der einzelnen Gewerkschaften in einem Tarifgebiet von Betrieb zu Betrieb variieren können. Damit kann bei einem Arbeitskampf zur Erreichung eines Flächentarifvertrages im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht pauschal für ein Tarifgebiet die Mehrheit einer bestimmten Gewerkschaft festgestellt werden. Vielmehr müssten im Einzelfall die Mehrheiten für zahlreiche einzelne Betriebe ermittelt werden. Die Problematik „potenziere“ sich, wenn nach dem Geschäftsverteilungsplan des zuständigen Gerichts verschiedene Kammern zuständig seien oder die Arbeitgeberseite bei mehreren Arbeitsgerichten klage.129 Die BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER hebt darüber hinaus hervor, dass das auf den einzelnen Betrieb bezogene Mehrheitsprinzip der Tarifeinheit für ein Unternehmen mit einer Vielzahl von Betrieben gerade nicht Tarifeinheit, sondern im Gegenteil Tarifvielfalt innerhalb des Unternehmens zur Folge haben könne. Denn es müsste im Falle einer Tarifkollision nach dem Gesetzesentwurf für jeden einzelnen Betrieb nach dem Mehrheitsprinzip der jeweils gültige Tarifvertrag ermittelt werden.130 GREINER geht in einer Stellungnahme zu dem 2010 vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) vorgelegten gemeinsamen Vorschlag für ein Tarifeinheitsgesetz131 davon aus, dass ein verfassungskonformes und praktisch tragfähiges Ergebnis nicht erzielt werden könne, wenn das Mehrheitsprinzip mit einem starren Betriebsbezug verknüpft werde.132 Die starre Anknüpfung beinhalte in Verbindung mit dem Mehrheitsprinzip eine strukturelle Benachteiligung von Gewerkschaften mit „unterbetrieblicher” Tarifzustän- 126 BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1397); BERG, Peter Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (77); SCHLIEMANN, Harald , Fragen zum Tarifeinheitsgesetz. In: NZA 2010, S. 1250-1252 (1252). 127 Ausschussdrucksache 18/119250, S. 3. 128 BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1397). 129 BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1397). 130 Ausschussdrucksache 18(11)272, S. 7. 131 Initiative von DGB und BDA vom 4. Juni 2010 mit dem Titel „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln.“ 132 GREINER, Stefan, Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit. In: NZA 2010, S. 743-745 (745). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 30 digkeit. Dies sei mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos geschützten Gründungs- und Satzungsautonomie nicht zu vereinbaren; denn Art. 9 Abs. 3 GG schütze ausdrücklich die Koalitionsbildung „für jedermann und für alle Berufe“. 5.1.2. Ermittlung der Mehrheitsgewerkschaft Ein neu einzufügender § 54 Abs. 3 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG)133 legt fest, dass „über die Zahl der in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder (...) Beweis auch durch die Vorlegung öffentlicher Urkunden angetreten werden (kann).“ Die Entwurfsbegründung erläutert, dass durch diese Neuregelung zur Feststellung der Mehrheitsverhältnisse eine notarielle Erklärung ausreichend sei. Hierdurch sei sichergestellt, dass die Gewerkschaften die Namen ihrer im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Mitglieder in diesem Rahmen nicht nennen müssten. Damit werde auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.134 Vielfach werden aber im Hinblick auf die Durchführung der Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse praktische Schwierigkeiten geltend gemacht. Dem gemeinsamen Vorschlag von DGB und BDA aus dem Jahr 2010 zufolge soll ein Notar von der fraglichen Gewerkschaft eine Mitgliederliste erhalten und deren Richtigkeit stichprobenweise überprüfen.135 Doch bereits im Hinblick auf die Durchführung dieser stichprobenhaften Überprüfung werden zahlreiche Zweifel geäußert:136 So sei beispielsweise bereits unklar, wer den Notar bestelle. Des Weiteren wird hervorgehoben, dass die Zuordnung der gelisteten Gewerkschaftsmitglieder zu den jeweiligen Betrieben nicht gesichert sei. Vor allem stelle sich die Frage, wie der Notar arbeitsrechtlich beurteilen solle, ob auf den richtigen Betrieb bei der Ermittlung der Mitgliederzahlen abgestellt werde. Thematisiert wird aber auch die Frage nach der Art der Kontaktaufnahme zur stichprobenhaften Überprüfung. DÄUBLER gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass sich jedenfalls eine innerbetriebliche Nachforschung schon aus der Natur der Sache verbiete, da sie Rückschlüsse auf eine potentielle Gewerkschaftsmitgliedschaft der einzelnen Arbeitnehmer zulasse. Auch erkennt er die Gefahr der Verfälschung der Ergebnisse, weil Arbeitnehmer im Rahmen einer Stichprobe falsche oder gar kein Angaben machten, weil sie befürchteten, ihre Gewerkschaftszugehörigkeit würde nicht tatsächlich vertraulich behandelt. Nach BAYREUTHER 133 Arbeitsgerichtsgesetz vom 3. September 1953 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 1979 (BGBl. I S. 853, 1036), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 11. August 2014 (BGBl. I S. 1348). 134 Bundesratsdrucksache 635/14 vom 29. Dezember 2014, S. 14. 135 Initiative von DGB und BDA vom 4. Juni 2010 mit dem Titel „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln.“ 136 Vgl. zum Folgenden insgesamt DÄUBLER, Wolfgang, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, S. 14ff.; BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400; BERG, Peter Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80 (77 ff.); DEUTSCHER ANWALTVEREIN, Ausschussdrucksache 18(11)250, S. 4 f.; BEPLER, Klaus, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, S. 97. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 31 werde allein durch die faktische Pflicht, den Mitgliederbestand zumindest gegenüber einem Notar offenzulegen, in das individuelle Koalitionsgrundrecht der betroffenen Arbeitnehmer und in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Weitere Fragen ergäben sich hinsichtlich der Aktualität und Zuverlässigkeit der Mitgliederlisten, die unter Umständen z.B. auch sog. „Karteileichen“ führten, die keine Beiträge mehr zahlen und deren Mitgliedschaft damit nach der Satzung erloschen ist oder die aus anderen Gründen zu Unrecht gelistet sind. Ungeklärt sei auch, in welchem zeitlichen Fenster die Überprüfung durch den Notar zu erfolgen habe. Das ist insbesondere wichtig, wenn eine große Zahl von Arbeitnehmern überprüft werden muss. Offen sei darüber hinaus, wer zur Gruppe der Arbeitnehmer im Sinne des § 4 a TVG (neu) zähle. Der Gesetzentwurf regelt nur, dass die organisierten Auszubildenden mit eingerechnet werden. Unklar sei dies demgegenüber bei anderen Arbeitnehmergruppen (z. B. Leiharbeitnehmern, leitenden Angestellten, Werkstudenten, Beschäftigten, die sich in der Altersteilzeit befinden, Arbeitnehmerinnen im Mutterschutz, Arbeitnehmern in Elternzeit, Teilzeitmitarbeitern oder Arbeitnehmern im Sonderurlaub). Der Gesetzentwurf enthalte schließlich keine Regelungen für die Zeit bis zu einer gerichtlichen Klärung der Mehrheitsverhältnisse im Streitfall. Mithin sei offen, ob in dieser Zeit möglicherweise alle im Betrieb vertretenen Gewerkschaften - oder zumindest eine sich etwa einer Zählung entziehende Gewerkschaft - auf Arbeitskampfmaßnahmen verzichten müssten. Brisanz erhalte die zeitliche Dimension der dargestellten Schwierigkeiten insbesondere für Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz. BERG sieht es sogar als kaum vorstellbar an, dass die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse in arbeitskampfrechtlichen Eilverfahren realisiert werden könne. 137 5.2. Ausblick hinsichtlich gerichtlicher Auseinandersetzungen BAYREUTHER weist darauf hin, dass es bislang in Zusammenhang mit Arbeitskämpfen nur ganz sporadisch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen gekommen sei. Die Einführung der mehr- 137 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 32 heitsgebundenen Tarifeinheit berge die Gefahr, „dass die mit der Tarifeinheit verbundene Judizierbarkeit des Spartenarbeitskampfs das Gesicht des Arbeitskampfrechts insgesamt verändern wird und zwar möglicherweise mit Folgen auch für große Industrieverbandsgewerkschaften.“ 138 In der Zukunft wird sich eine Zunahme arbeitsgerichtlicher Verfahren zur Feststellung der Mehrheitsverhältnisse der Gewerkschaften in den Betrieben vor dem Hintergrund der Bedeutung dieser Frage für den rechtsgültigen Abschluss von Tarifverträgen nicht vermeiden lassen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die in der Literatur kritisierten Unklarheiten der Regelung im vorgelegten Gesetzentwurf. BAYREUTHER geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass „für vermutlich mehrere hundert oder gar tausend Betriebe kontinuierlich die vertretungsrechtlichen Mehrheitsverhältnisse ermittelt werden müssen.“ Darüber hinaus werden nicht nur kollektivrechtliche Auseinandersetzungen Anlass zur Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse geben; denn auch auf der individualrechtlichen Ebene können sich tarifrechtliche Problemstellungen ergeben, wenn in einem Betrieb rein tatsächlich mehrere Tarifverträge existieren und Streit darüber besteht, welche Gewerkschaft im Betrieb die Mehrheit stellt und damit, welcher Tarifvertrag auf das fragliche Arbeitsverhältnis anzuwenden ist.139 Da vielfach grundsätzliche Probleme kritisiert werden, steht darüber hinaus zu erwarten, dass in nicht wenigen Fällen in letzter Instanz das Bundearbeitsgericht mit den umstrittenen Fragestellungen befasst werden wird. Angesichts der zum Teil vehementen Kritik an den vorgeschlagenen Regelungen im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit wird davon auszugehen sein, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht mit den Regelungen wird befassen müssen. 138 BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1396). 139 BAYREUTHER, Frank, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395-1400 (1399). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 6 - 3000 - 007/15 Seite 33 6. Literaturverzeichnis BAYREUTHER, Frank Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis? In: NZA 2013, S. 1395 – 1400 BEPLER, Klaus Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich? Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, 2014. BERG, Peter Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded - das Streikrecht in Gefahr. In: Kritische Justiz : Vierteljahresschrift für Recht und Politik. - 47 (2014), 1, S. 72 – 80. BUNDESRECHTSANWALTSKAMMER Stellungnahme zum Referentenentwurf, Dezember 2014, Stellungnahme Nr. 46/2014. Ausschussdrucksache 18(11)272 vom 11. Dezember 2014. DÄUBLER, Wolfgang Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz vom 9. Januar 2015, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE. DEUTSCHER ANWALTVEREIN Stellungnahme zum Referentenentwurf, November 2014, Stellungnahme Nr. 60/2014. Ausschussdrucksache 18(11)250 vom 19. November 2014. DIETERICH, Thomas Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem . In: AuR 2011, Ausgabe 2, S. 46 – 51. DI FABIO, Udo Gesetzlich auferlegte Tarifeinheit als Verfassungsproblem, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag des Marburger Bundes, Juli 2014. FRANZEN, Martin Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen. In: RdA 2008, S. 193 – 205. 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