© 2019 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 004/19 Mindestalter für die Anerkennung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/19 Seite 2 Mindestalter für die Anerkennung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto Aktenzeichen: WD 6 - 3000 - 004/19 Abschluss der Arbeit: 11. Februar 2019 Fachbereich: WD 6: Arbeit und Soziales Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Hintergrund 4 2. Erfordernis der abhängigen Beschäftigung 4 3. Für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung erforderliches Mindestalter 5 4. Generelle Ablehnung der geltend gemachten Beitragszeiten für unter Dreijährige 6 5. Fazit 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/19 Seite 4 1. Hintergrund Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs sind in den annektierten, dem Deutschen Reich angegliederten Gebieten und den übrigen von deutschen Truppen besetzten Gebieten in Osteuropa, dem Baltikum und auf dem Balkan so genannte jüdische Wohnbezirke als Ghettos eingerichtet worden . Neben Jüdinnen und Juden wurden auch Sinti und Roma deportiert und in Ghettos gesperrt. Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gelten Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 2 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (Ghettorentengesetz – ZRBG) vom 20. Juni 2002 als gezahlt. Beweggrund für die Verabschiedung des ZRBG war die vorherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts , nach der eine im Ghetto von Łódź ausgeübte Beschäftigung als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen ist.1 Zuvor wurden Tätigkeiten in den Ghettos als nicht versicherte Zwangsarbeit angesehen. Mit dem ZRBG wurde insbesondere für bis dahin nicht vom deutschen Sozialversicherungsrecht erfasste Personen eine Entschädigungsregelung in die gesetzliche Rentenversicherung eingefügt, nach der Beschäftigungszeiten in Ghettos auch außerhalb des Geltungsbereichs deutscher Gesetze zu berücksichtigen sind sowie gegebenenfalls daraus folgende Rentenzahlungen ins Ausland erfolgen können. Die nachfolgenden die gesetzliche Rentenversicherung betreffenden Ausführungen gelten entsprechend für die Anwendung der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie ).2 Das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) muss danach bei Erfüllung der Voraussetzungen eine einmalige Anerkennungsleistung gewähren, wenn aus einer Beschäftigung in einem Ghetto keine aus dem ZRBG folgende Rentenzahlung aus der gesetzlichen Rentenversicherung möglich ist, weil zum Beispiel die Wartezeit von fünf Jahren mit Beitrags - und Ersatzzeiten als Mindestversicherungszeit für eine Regelaltersrente nicht erfüllt ist. 2. Erfordernis der abhängigen Beschäftigung Gemäß § 2 ZRBG gelten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto als gezahlt. Die Anerkennung einer rentenrechtlichen Beitragszeit mit der Folge der möglichen Gewährung von Rentenleistungen setzt voraus, dass eine abhängige Beschäftigung tatsächlich ausgeübt worden ist. Auf eine Beitragsleistung kommt es nicht an. Der sozialrechtliche Begriff der abhängigen Beschäftigung knüpft zunächst an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschied zwischen dem selbstständig tätigen Unternehmer und 1 Bundessozialgericht, Urteile vom 18. Juni 1997, Az. 5 RJ 66/95 und 5 RJ 68/95. 2 Nähere Informationen zur Anerkennungsrichtlinie sind im Internet abrufbar unter: https://www.badv.bund.de/DE/OffeneVermoegensfragen/AnerkennungsleistungenfuerGhettoarbeit/start.html, zuletzt abgerufen am 7. Februar 2019. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/19 Seite 5 dem unselbstständig tätigen Arbeitnehmer an.3 Ein Beschäftigungsverhältnis entsteht im Gegensatz zur Zwangsarbeit regelmäßig auf freiwilliger Basis unter Gewährung einer Entlohnung des Beschäftigten.4 Insoweit beruht eine für das Sozialrecht relevante Beschäftigung auf einer freien Willensentscheidung. Die Bedeutung des Beschäftigungssachverhalts resultiert ursprünglich aus der sozialpolitischen Leitentscheidung des historischen Gesetzgebers, den Schutz der von der Industrialisierung nachteilig betroffenen Arbeitnehmerschaft zum bevorzugten Gegenstand der Sozialversicherung zu machen. Nach den Typusmerkmalen ist für die Annahme einer abhängigen Beschäftigung nach den mehr als einhundertjährigen Bemühungen des früheren Reichsversicherungsamtes und der Sozialgerichtsbarkeit entscheidend, dass eine unter Einsatz körperlicher oder geistiger Kräfte planmäßig auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete menschliche Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit von einem anderen, regelmäßig dem Arbeitgeber, zu erbringen ist.5 Arbeit im Sinne einer Beschäftigung ist eine Tätigkeit erst dann, wenn es sich um eine generell wirtschaftlich sinnvolle Tätigkeit handelt, die für den Betreffenden zumindest teilweise Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist.6 3. Für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung erforderliches Mindestalter Ein erforderliches Mindestalter ist im Sozialrecht für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung nicht geregelt. So können Zeiten einer Beschäftigung von Kindern der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen, auch wenn Kinderarbeit in Deutschland bereits seit dem 19. Jahrhundert nach arbeitsrechtlichen Regelungen grundsätzlich verboten ist. Auch die im Zweiten Weltkrieg geltenden rentenrechtlichen Regelungen sahen keinerlei Lebensalter -Untergrenze für die die Versicherungspflicht auslösende Beschäftigung vor. Damit kann zwar dem Umstand entsprochen werden, dass Kinderarbeit im Ghetto Alltag war und eine Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG bereits vor dem normalerweise für eine Beschäftigung üblichen Alter erfolgen kann. Es stellt sich jedoch die Frage, ab welchem Lebensalter eine Beschäftigung im sozialrechtlichen Sinne überhaupt als möglich anzusehen ist. Nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung steht ein Alter von zwölf bis vierzehn Jahren der Annahme einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommenen Beschäftigung im Sinne des ZRBG jedenfalls nicht entgegen.7 3 KassKomm/Seewald, 101. EL September 2018, SGB IV § 7 Rn. 6-9a. Die Legaldefinition der Beschäftigung ist erst zum 1. Juli 1976 mit § 7 Abs. 1 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IV) eingeführt worden. Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers . 4 Bundessozialgericht, Urteil vom 4. Oktober 1979, Az. 1 RA 95/78. 5 Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Berchtold, 5. Aufl. 2017, SGB IV § 7 Rn. 3ff. 6 KassKomm/Seewald, 101. EL September 2018, SGB IV § 7 Rn. 26-34. 7 Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. April 2016, Az. L 27 R 802/15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/19 Seite 6 Kleinkinder unter etwa drei Jahren verfügen dagegen ganz offensichtlich nicht über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung einer Beschäftigung. Zudem fehlt es angesichts des Entwicklungsstandes am erforderlichen Bewusstsein, eine entgeltliche Beschäftigung ausüben zu wollen.8 Die motorischen und kognitiven Fähigkeiten sind in diesem Alter noch nicht so weit entwickelt, dass die Ausübung einer freiwilligen und entgeltlichen Tätigkeit möglich ist.9 Das Merkmal des erforderlichen eigenen Willensentschlusses für das Zustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses kann daher für unter Dreijährige nicht glaubhaft gemacht werden.10 Die Anerkennung von Beitragszeiten für eine Beschäftigung in einem Ghetto ist für Kinder unter drei Jahren mithin nicht möglich. Auch bei Kindern über drei Jahren ist eine nach dem ZRBG zu berücksichtigende Beschäftigung nicht per se gegeben.11 So können selbst Aktivitäten von Kindern unter fünf Jahren auch unter den in einem Ghetto herrschenden Bedingungen vermeintlich nicht als entsprechendes Beschäftigungsverhältnis angesehen werden.12 4. Generelle Ablehnung der geltend gemachten Beitragszeiten für unter Dreijährige Aus dem in § 20 Abs. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) geregelten Untersuchungsgrundsatz haben die Rentenversicherungsträger hinsichtlich geltend gemachter Beitragszeiten nach dem ZRBG von Amts wegen zu ermitteln, ob eine abhängige Beschäftigung vorlag. Dabei bedienen sie sich gemäß § 21 Abs. 1 SGB X der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich halten. In der Praxis der Rentenversicherungsträger werden Anträge auf Anerkennung von Beschäftigungszeiten nach dem ZRBG für unter dreijährige Kinder von vornherein abgelehnt, ohne dass weitere Ermittlungen zum Sachverhalt erfolgen. Wenn, wie dargestellt, eine Anerkennung von Beitragszeiten für Kinder unter drei Jahren ohnehin ausgeschlossen werden kann, ist die Ablehnung solcher geltend gemachter Zeiten ohne weitere Sachverhaltsermittlung rechtlich nicht zu beanstanden. Die Festlegung der Altersgrenze auf drei Jahre ist aus rechtssystematischer Sicht nachvollziehbar. Auch nach den Regelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) sind Ausnahmen vom Verbot der Kinderarbeit frühestens ab einem Alter von drei Jahren, z.B. bei Film- und Fotoaufnahmen , vorgesehen.13 Für noch jüngere Kinder sind Ausnahmeregelungen offenbar entbehrlich, da hier nicht von wirtschaftlich aktiven Tätigkeiten auszugehen ist. Die von den Rentenversicherungsträgern determinierte Altersgrenze von drei Jahren bedeutet im Übrigen nicht, dass für ältere Kinder zwangsläufig eine Anerkennung der Beschäftigungszeiten nach dem ZRBG erfolgen 8 Sozialgericht Berlin, Urteil vom 31. Januar 2013, Az. S 32 R 4565/11. 9 Sozialgericht Düsseldorf, Urteil vom 1. März 2012, Az. S 27 R 1870/11. 10 Sozialgericht Berlin, Urteil 9. April 2014, Az. S 17 R 4200/12. 11 Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 9. Januar 2014, Az. L 4 R 518/13; Landessozialgericht Nordrhein -Westfalen, Urteil vom 14. Dezember 2007, Az. L 14 R 41/07. 12 Bundessozialgericht, Beschluss vom 23. Oktober 2007, Az. B 5a R 414/07 B. 13 Vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2 JArbSchG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/19 Seite 7 muss. Vielmehr ist nach erfolgter Sachverhaltsermittlung anhand des Einzelfalls zu prüfen, ob die Kriterien für eine Beschäftigung ausreichend glaubhaft gemacht werden können. Auch wenn angesichts der durchlittenen Verfolgungsschicksale und der Vorgabe aus § 2 Abs. 2 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I), nach der die möglichst weitgehende Verwirklichung sozialer Rechte sicherzustellen ist, eine besonders großzügige Auslegung des Sozialrechts als auch Ermessensausübung erfolgen müssen, ist eine abhängige Beschäftigung von unter dreijährigen Kindern in den Ghettos nach dem geltenden Recht ausgeschlossen. Weder aus den Regelungen des ZRBG, noch aus dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) oder den sonstigen Vorschriften des für die gesetzliche Rentenversicherung einschlägigen Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) lassen sich andere Schlüsse ableiten. Soziale Rechte dürfen nach dem in § 31 SGB I geregelten Vorbehalt des Gesetzes nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Die Rentenversicherungsträger haben insoweit keinen Spielraum, der die Anerkennung von Beschäftigungszeiten nach dem ZRBG von unter Dreijährigen erlauben würde. Auch ist die generelle Ablehnung von Zeiten nach dem ZRBG für unter Dreijährige nach dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot nicht zu beanstanden. Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Während für ältere Kinder unter Umständen eine Anerkennung nach dem ZRBG in Betracht kommt, kann eine Beschäftigung im sozialrechtlichen Sinne von unter Dreijährigen durchweg ausgeschlossen werden, so dass die Ermittlung des Sachverhalts ins Leere ginge. Die verschiedenen Altersgruppen sind insoweit nicht vergleichbar und eine unterschiedliche Bearbeitungsweise nicht zu beanstanden. 5. Fazit Die generelle Ablehnung der nach dem ZRBG geltend gemachten Beitragszeiten für Kinder unter drei Jahren ist zwangsläufige Folge der unsystematischen Einbeziehung der Beschäftigung in einem Ghetto in die gesetzliche Rentenversicherung durch das die Regelungen des SGB VI ergänzende ZRBG anstelle einer anderweitigen Entschädigungsleistung. Da sich die Richtlinie für die Anerkennungsleistung außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung ebenfalls auf den sozialrechtlichen Begriff der Beschäftigung bezieht, ist eine finanzielle Hilfe an die jüngsten Opfer nationalsozialistischer Gewalt, die zum Überleben Arbeiten verrichten mussten, auch hier bisher nicht vorgesehen. Eine Ausweitung der Entschädigungsregelungen für von Kindern geleistete Arbeit in einem Ghetto ist mit dem ZRBG nicht systemgerecht in der gesetzlichen Rentenversicherung möglich. Entsprechend der einmaligen Leistung für Verfolgte, die trotz anerkannter Beitragszeiten nach dem ZRBG wegen fehlender weiterer anrechenbarer Zeiten keine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten, bedürfte es wohl einer weiteren Neufassung der Anerkennungsrichtlinie . Allerdings stellt sich dann die Frage, ob für die Entschädigungsleistung weiterhin am Begriff der Beschäftigung festgehalten werden kann. ***