© 2017 Deutscher Bundestag WD 6 - 3000 - 004/18 Die sogenannte Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld Einzelfragen im Lichte der sozialgerichtlichen Rechtsprechung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld Anspruch auf Arbeitslosengeld hat nach § 136 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 137 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Arbeitslosenversicherung (SGB III), wer arbeitslos ist, sich bei der Arbeitsagentur gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Arbeitslos ist nach § 138 Abs. 1 Nr. 1 - 3 SGB III, wer Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist und nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit), sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen), und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Die Beschäftigungslosigkeit im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III ist nicht in jedem Fall mit dem fehlenden Bestand eines Arbeitsverhältnisses gleichzusetzen. Der Begriff der Beschäftigungslosigkeit ist vielmehr im faktischen Sinne zu verstehen: „An einem [leistungsrechtlichen1] Beschäftigungsverhältnis fehlt es […] in den Fällen, in denen der Arbeitgeber seine Verfügungsgewalt über den Arbeitnehmer nicht weiter beansprucht und sein Direktionsrecht aufgibt. Deshalb ist ein Arbeitnehmer schon dann arbeitslos, wenn das bisherige Beschäftigungsverhältnis sein tatsächliches Ende gefunden hat, weil der Arbeitgeber aufgrund einer von ihm ausgesprochenen Kündigung das Arbeitsverhältnis als beendet ansieht und weitere Dienste nicht annimmt, auch wenn das Arbeitsverhältnis rechtlich weiter besteht.“2 Das Gesetz geht also davon aus, „dass auch Arbeitnehmer arbeitslos sein können, deren Arbeitsverhältnis z.B. wegen Unwirksamkeit der Kündigung nicht beendet ist. Das kann z.B. der Fall sein, wenn ein Arbeitnehmer ohne Einhaltung der Kündigungsfrist vorzeitig oder zu Unrecht entlassen wird oder wenn der Arbeitgeber nach fristgemäßer Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist auf die Dienste des Arbeitnehmers verzichtet (Freistellung). Auch bei sonstigen Freistellungen (z.B. wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers oder wegen eines vorübergehenden Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit infolge eines Arbeitskampfes) kann Arbeitslosigkeit gegeben sein.“3 2. Ruhen des Anspruchs und Gleichwohlgewährung Da das Arbeitslosengeld dem Ersatz ausgefallenen Arbeitseinkommens dienen soll, ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld nach § 157 Abs. 1 SGB III, solange die arbeitslose Person noch Ar- 1 Davon zu unterscheiden ist das beitragsrechtliche Beschäftigungsverhältnis, das grundsätzlich fortbesteht, Oberthür /Esskandari in Grobys/Panzer/Heemeier, Stichwort-Kommentar Arbeitsrecht, 3. Aufl. Edition 3 2017, Freistellung Rn. 29; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 22. September 2008 - B 12 KR 22/07 R. 2 Müller in Beck’scher Online-Kommentar (BeckOK) Sozialrecht, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2017, § 138 SGB III Rn. 16 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG bereits zur Vorgängerregelung im Arbeitsförderungsgesetz . 3 Steinmeyer in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 5. Aufl. 2017, § 157 SGB III Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/18 Seite 5 beitsentgelt erhält oder zu beanspruchen hat. Diese Regelung „ist im Charakter der Arbeitslosenversicherung als einer Schadensversicherung begründet. In der Arbeitslosenversicherung ist der Schadensfall der auf Arbeitslosigkeit beruhende Ausfall von Arbeitsentgelt. Wer trotz faktischer Beschäftigungslosigkeit auf Grund eines fortbestehenden Arbeitsverhältnisses noch Arbeitsentgelt erhält oder zu beanspruchen hat, verwirklicht nicht das versicherte Risiko der Arbeitslosigkeit im Sinne dieses Gesetzes und bedarf des Schutzes durch die Gemeinschaft der Beitragszahler nicht.“4 Der Anspruch ruht auch, solange das Ende des Arbeitsverhältnisses zum Beispiel wegen eines Kündigungsschutzverfahrens streitig ist. Um beim Verlust des Arbeitsplatzes aber eine schnelle Absicherung des Lebensunterhalts zu gewährleisten , kann nach § 157 Abs. 3 SGB III trotz eines bestehenden Anspruchs auf Arbeitsentgelt gleichwohl Arbeitslosengeld gewährt werden (sogenannte Gleichwohlgewährung). Die Betroffenen Arbeitslosen werden dabei so behandelt, als wenn sie keine Entgeltansprüche hätten. Daher können auch gekündigte Arbeitnehmer während der Dauer eines Kündigungsschutzprozesses nach § 157 Abs. 3 Satz 1 SGB III Arbeitslosengeld erhalten. 3. Rechtsprechung Die sogenannte Gleichwohlgewährung war bereits im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25. Juni 19695 geregelt, das am 1. Januar 1998 vom SGB III abgelöst wurde. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich eine gefestigte sozialgerichtliche Rechtsprechung dazu entwickelt. 3.1. Regelungsinhalt Durch die Regelung der Gleichwohlgewährung entsteht ein Arbeitslosengeldanspruch als Stammrecht (materielles Anspruchsrecht). Daraus folgt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), dass für die Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs dem Grunde, der Dauer und der Höhe nach die Gegebenheiten bei der Entstehung des Anspruchs maßgeblich sind.6 „Ersetzt der Arbeitgeber der Bundesagentur für Arbeit die von dieser geleistete Zahlung oder macht die Bundesagentur für Arbeit ihren Erstattungsanspruch nach § 157 Abs. 3 Satz 2 SGB III geltend, so führt dies nicht zu einer Korrektur der Anspruchsdauer. Das gleiche gilt für den Fall, dass der Arbeitslose aufgrund einer arbeitsgerichtlichen Entscheidung im Zeitraum der Gleichwohlgewährung faktisch noch beschäftigt ist und dafür Arbeitsentgelt beanspruchen kann. Auch dann ist für die Dauer der Arbeitslosengeldbewilligung der Zeitpunkt der Entstehung des Stammrechtes entscheidend. Wird Arbeitslosengeld gleichwohl an einen Arbeitslosen gewährt, der von seinem zahlungsunfähigen Arbeitgeber bis zum Ablauf der Kündigungsfrist freigestellt 4 Steinmeyer in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 157 SGB III Rn. 2; ähnlich Rolfs in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 18. Auflage 2018, § 157 SGB III Rn. 1 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 5 BGBl. I S. 582. 6 BSG, Urteil vom 11. Juni 1987 - 7 RAr 16/86, Rn. 21 (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/18 Seite 6 und insofern bereits vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses beschäftigungslos war, so besteht auch bei Nachzahlung des säumigen Arbeitsentgeltes kein Anspruch auf Rückabwicklung des Leistungsfalls.“7 Das BSG schließt in solchen Fällen eine Korrektur der Rahmenfrist bzw. eine Neubestimmung des Bemessungszeitraums ausdrücklich aus.8 Arbeitslosengeld werde in diesen Fällen „nicht nur vorläufig - bis zur rechtlichen Klärung des Endes des Arbeitsverhältnisses - oder vorbehaltlich der Zahlung des Arbeitsentgelts, sondern endgültig gewährt“9 und „die Gewährung bleibt rechtmäßig, auch wenn der Empfänger des Arbeitslosengeldes später das Arbeitsentgelt […] erhält.“10 „Aus § 148 Abs. 1 Satz 1 SGB III ergibt sich, dass die Erfüllung des Arbeitslosengeldanspruchs die Anspruchsdauer entsprechend mindert. Diese Maßgabe gilt grundsätzlich auch bei der Gleichwohlgewährung, sodass sich die Anspruchsdauer mit jedem Tag der Zahlung des Arbeitslosengeldes verkürzt.“11 Nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG ist dieses Ergebnis jedoch dann unbillig, wenn die Bundesagentur für Arbeit für ihre Aufwendungen durch Zahlung des Entgelts oder Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nach § 157 Abs. 3 SGB III Ersatz erlangt. In diesem Fall entfällt daher die Minderung der Anspruchsdauer und der Leistungsberechtigte erhält für diesen Zeitraum eine entsprechende „Gutschrift“ 12. Eine solche Gutschrift aus Billigkeitsgründen ist nach der jüngeren Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts (HessLSG) auch dann zu gewähren , wenn die Bundesagentur für Arbeit nach erfolgter Anzeige selbst nichts unternommen hat, um die auf sie übergegangenen Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen.13 3.2. Verfassungskonforme Auslegung Das BSG hat in seiner Rechtsprechung hervorgehobenen, dass die gesetzliche Regelung eindeutig sei und eine durch die Rechtsprechung auszufüllende Gesetzeslücke insoweit nicht erkennen lasse.14 Vor diesem Hintergrund erschiene eine Praxis nicht rechtmäßig, wonach die für die 7 Michalla-Munsche in BeckOK Sozialrecht, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2017, § 157 SGB III, Rn. 11 mit weiteren Nachweisen aus der sozialgerichtlichen Rechtsprechung; vgl. dazu auch Landessozialgericht Saarland, Urteil vom 8. Mai 2001 - L 6 AL 24/00, Rn. 70 (zit. nach juris). 8 BSG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - B 7 AL 34/98 R, Rn. 18 und Leitsatz (zit. nach juris). 9 BSG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - B 7 AL 34/98 R, Rn. 19 (zit. nach juris). 10 BSG, Urteil vom 24. Juli 1986 - 7 RAr 4/85, Rn. 20 (zit. nach juris). 11 Michalla-Munsche in BeckOK Sozialrecht, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2017, § 157 SGB III, Rn. 13. 12 So bereits BSG, Urteil vom 24. Juli 1986 - 7 RAr 4/85, Rn. 22 (zit. nach juris). 13 HessLSG, Urteil vom 2. September 2011 - L 9 AL 107/09. 14 Vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - B 7 AL 34/98 R, Rn. 19 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/18 Seite 7 Gleichwohlgewährung nach § 157 Abs. 3 SGB III erforderliche Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen oder auch nur die daraus folgende Anspruchsdauer stets nur vorläufig erfolgte und der Arbeitslosengeldanspruch nach tatsächlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses entsprechend den dann vorliegenden Gegebenheiten zu korrigieren wäre. Eine verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze in dem von den gesetzgeberischen Grundentscheidungen getragenen eindeutigen Wortlaut einer Bestimmung.15 Aus Billigkeitsgründen erfolgt daher lediglich für Leistungszeiten, für die die Arbeitsverwaltung vom Arbeitgeber Erstattung erlangt hat, eine entsprechende Verlängerung des Bezugszeitraums (sog. Gutschrift); denn für diese Fälle hat der Gesetzgeber im SGB III keine Regelung getroffen.16 3.3. Verfassungsrechtliche Überlegungen Nach der Rechtsprechung des BSG ist es „auch nicht verfassungsrechtlich geboten, abweichend hiervon jedenfalls in Fällen, in denen die Beklagte Ersatz für die von ihr erbrachten Leistungen erhalten hat, der Bemessung des Arbeitslosengeldes für die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Entgelt zugrunde zu legen, das bis zu seiner Beendigung erzielt worden ist.“17 Das BSG weist in diesem Zusammenhang zunächst darauf hin, dass die zwischenzeitlich erzielten Entgelte bei einer erneuten Erfüllung der Anwartschaftszeit Grundlage einer späteren Arbeitslosengeld -Bewilligung sein könnten.18 Dass diese Entgelte nicht in die Leistungsbemessung eines wiederbewilligten Arbeitslosengeld-Anspruchs einfließen, führe daher nicht zur Entwertung der für sie entrichteten Beiträge.19 Auch habe der Rückgriff auf die Bemessungsmerkmale, die der Entstehung des Anspruchs zugrunde gelegen haben, nicht stets und zwangsläufig Nachteile für den Arbeitslosen zur Folge, vielmehr könnten sich daraus im Einzelfall auch Vorteile ergeben. Die im Einzelfall eintretenden Nachteile seien Folge des Umstandes, dass der Arbeitslose von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, Arbeitslosengeld schon zu einer Zeit in Anspruch zu nehmen , in der der fortbestehende Arbeitsentgeltanspruch noch streitig war. „Dieser Arbeitslose ist daher von vornherein nicht mit einem Arbeitslosen vergleichbar, der zunächst seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber klären lässt, bevor er Rechte aus der Arbeitslosenversicherung in Anspruch nimmt, und insoweit selbst das Risiko trägt, für die fragliche Zeit überhaupt keine Leistungen zu erhalten. Ist der Kläger dieses Risiko nicht eingegangen und ist er daher früher als die Vergleichsperson in den Genuss der Leistungen gelangt, besteht kein sachlich rechtfertigender 15 Walter in Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, 81. Ergänzungslieferung September 201, Art. 9, 3 Rn. 113 mit weiteren Nachweisen. 16 BSG, Urteil vom 24. Juli 1986 - 7 RAr 4/85, Rn. 22 (zit. nach juris) zur gleichlautenden Regelung im AFG. 17 BSG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - B 7 AL 34/98 R, Rn. 20 (zit. nach juris). 18 So im Hinblick auf die verkürzte Anspruchsdauer bereits BSG, Urteil vom 11. Juni 2087 - 7Rar 16/86, Leitsatz 2 (zit. nach juris). 19 BSG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - B 7 AL 34/98 R, Rn. 21 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG und Orientierungssatz (zit. nach juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/18 Seite 8 Grund, bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums und damit des Bemessungsentgelts auf die bis zum Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis im beitragsrechtlichen Sinn abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume abzustellen.“20 3.4. Versicherungssystematische Gesichtspunkte Die Sozialversicherung und damit auch die Arbeitslosenversicherung werden nicht nur durch das Versicherungsprinzip geprägt, sondern auch durch das Äquivalenzprinzip und das Solidarprinzip . Dem Prinzip der Äquivalenz zwischen der Beitragsleistung und den daraus folgenden Arbeitslosengeldleistungen scheint es zu widersprechen, wenn aufgrund der endgültigen Festsetzung zu Beginn der Beschäftigungslosigkeit nicht der gesamte Beitragszeitraum bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt wird. Anders als die gesetzliche Rentenversicherung, die als wichtige Säule der Sicherstellung einer angemessenen Versorgung im Alter dient und in der deshalb das Äquivalenzprinzip überragende Bedeutung hat, hat die Arbeitslosenversicherung ähnlich wie die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Unfallversicherung vor allem den Charakter einer Risikoversicherung. Versichert wird das Risiko eines Arbeitsplatzverlustes und des damit einhergehenden Verlustes des Arbeitseinkommens (siehe oben 2, S. 5). Bei einer Risikoversicherung kommt es aber typischerweise in erster Linie darauf an, dass das Risiko des einzelnen Versicherten von allen solidarisch getragen wird; im Übrigen dienen die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auch allgemein der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Arbeitsmarktes im Sinne aller Versicherter. Auch das BSG hebt in seiner Rechtsprechung den Vorrang des Solidarprinzips gegenüber dem Äquivalenzprinzip in der Arbeitslosenversicherung hervor: „In der Arbeitslosenversicherung ist das Prinzip der Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen nicht streng durchgeführt. Vielmehr hat in diesem Versicherungszweig der Solidaritätsgedanke erhebliches Gewicht. Danach müssen sich alle Arbeitnehmer, die Arbeitsentgelt verdienen, mit Beiträgen an der Finanzierung von Leistungen und der Erhaltung eines intakten Arbeitsmarktes beteiligen.“21 Auch versicherungssystematische Gesichtspunkte können damit der im SGB III getroffenen Regelung der Folgen der Gleichwohlgewährung nicht entgegengehalten werden. Im Übrigen ist auch in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Zeiten der Arbeitslosengeldleistung, für die nachträglich Ersatz geleistet wird, zum Aufbau einer neuen Anwartschaft beitragen. 20 BSG, Urteil vom 3. Dezember 1998 - B 7 AL 34/98 R, Rn. 21 (zit. nach juris). 21 BSG, Beschluss vom 29. Juni 1993 - 12 BK 66/92; die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. BVerfG 1. Senat, Beschluss vom 17. Januar 1995 - 1 BvR 1644/93. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 6 - 3000 - 004/18 Seite 9 3.5. Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch Der Arbeitslose muss allerdings von der Agentur für Arbeit im Einzelfall auf die Konsequenzen einer Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld und die gesetzliche Möglichkeit hingewiesen werden, die Entstehung des Arbeitslosengeldanspruchs zu verschieben. In einem Fall, in dem ein Arbeitsloser in sechs Monaten die nächste Altersstufe erreichte und arbeitsgerichtlich gegen die Kündigung seines Beschäftigungsverhältnisses vorging, wertete das Sozialgericht Karlsruhe in einem Urteil aus dem Jahr 2009 das Unterlassen eines Hinweises auf die Dispositionsmöglichkeit als Unterlassen einer gebotenen Beratung, das einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch22 auslöse.23 4. Fazit Aufgrund der über Jahrzehnte gefestigten sozialgerichtlichen Rechtsprechung zur sogenannten Gleichwohlgewährung nach § 157 Abs. 3 SGB III, die auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte berücksichtigt, dürften Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Regelung keine Grundlage haben. Eine abweichende Praxis, wonach der Arbeitslosengeldanspruch im Fall der Gleichwohlgewährung zunächst nur vorläufig festgestellt und entsprechend der tatsächlichen Dauer des Arbeitsverhältnisses nachträglich korrigiert würde, dürfte demgegenüber wegen der Eindeutigkeit der geltenden Regelung unzulässig sein. *** 22 Der gesetzlich nicht geregelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch knüpft an die objektive Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers an, die kausal zu einem Schaden insbesondere durch das Ausbleiben von sozialrechtlichen Ansprüchen oder Anwartschaften geführt hat. Ein Verschulden der Verwaltung ist nicht erforderlich . Der Anspruch ist auf die Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der eingetreten wäre, wenn der Leistungsträger sich nicht rechtswidrig verhalten hätte; vgl. Felix, Dagmar: Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch und Amtshaftung. Zum Verhältnis zweier Institute zueinander, in: SGb 2014, S. 469-478, (470). 23 Sozialgericht Karlsruhe Urteil vom 23. September 2009 – S 16 AL 1723/09 unter Berufung auf die Rechtsprechung des HessLSG, in: info also 2010 Heft 1, S. 17.